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An der "Knatter": Geschichten einer Kindheit und Jugend
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eBook296 Seiten3 Stunden

An der "Knatter": Geschichten einer Kindheit und Jugend

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Über dieses E-Book

Der Autor, geboren und aufgewachsen in Kyritz, beschreibt seine Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend in den Jahren 1934 bis 1955 in anschaulicher und nacherlebenswerter Diktion für alle Nachgeborenen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Juni 2019
ISBN9783748249115
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    Buchvorschau

    An der "Knatter" - Heinz Neumann

    Zur Einführung

    Nichts ist beständiger als die Erinnerung.

    Sie führt dich zurück in die Zeit deiner Kindheit und Jugend und vermittelt dir die Gewissheit, dass du eine Heimat hast, ein Zuhause, wo alles einst begonnen hat. Sie trägt dir aber auch auf, das Aufeinander zugehen, die Nähe zu den Gespielen, Freunden und Mitbürgern von einst und zu den Orten des gemeinsam Erlebten zu suchen, auf dass die wiedererkannten Gemeinsamkeiten ein vorurteilsfreies, uneigennütziges, von Heimatliebe getragenes Miteinander bestimmen. Sie verpflichtet dich, deinen Kindern und Enkeln, sowie allen Nachgeborenen zu erzählen, was du einst erlebt hast – des Fazits wegen: Wider das Vergessen!

    Wohin mich mein Weg auch geführt und wo mir das Leben auch immer meinen Platz zugewiesen hatte – diese Erkenntnisse haben mich stets begleitet. Sie haben mich motiviert, aufzuschreiben, was mich an meine Heimatstadt Kyritz an der „Knatter erinnert … und warum es mich immer wieder einmal dort hinzieht. In einfacher Sprache und des öfteren auch so, „wie mir mein Kyritzer Schnabel gewachsen ist, habe ich versucht, meine Erlebnisse aus den 30iger, 40iger und 50iger Jahren so authentisch wie möglich widerzuspiegeln. Schauen Sie hinein in den Erzählband und lernen Sie jenes Kyritz an der „Knatter kennen, wie ich es als Kind und als Jugendlicher erlebt habe … und das seinen „Knatter-Scherznamen einigen Wassermühlen verdankt, die früher einmal an dem Flüsschen Jäglitz so laut geknattert hatten, dass der Volksmund es prompt in die „Deutschen Lande getragen hatte: „Kyritz an der ‚Knatter‘.

    „Da haben wir aber einen Wonneproppen", soll sich die Kyritzer Hebamme sichtlich überrascht in ihrer derbfröhlichen Art gewundert haben, nachdem sie mich in einer

    Juni-Nacht des Jahres 1934 in mein irdisches „Knatter-Dasein geholt und auf der Skala der Waage „10 Pfund abgelesen hatte. Und eben dieser „Wonneproppen"-Statur zufolge war es mir scheinbar erst kurz nach der Vollendung meines zweiten Lebensjahres bewusst geworden, dass die Beine außer dem Gebrauch beim Krabbeln durch das Erdbeerbeet und beim Planschen an den seichten Ufern der Kyritzer Gewässer sicherlich auch noch eine andere wichtige Aufgabe erfüllen könnten: mich dorthin zu tragen, wohin mich meine kindliche Neugier zog und wo bestimmt noch viele Erlebnisse auf mich warteten – in der mir vertrauten, bald aber schon zu eng gewordenen Wohnumgebung und dementsprechend dann vielerorts in der Stadt, an den Ufern der Jäglitz, der Dosse und der Seen … in den Jahren, bevor auch mein Vater im September 1939 wieder einmal in den Krieg ziehen musste … und danach in der Schulzeit und zu der Zeit, als wir Kinder wohl das Spielerlebnis suchten, jedoch auch zunehmend von dem Strudel der Kriegswirren erfasst wurden …bis hin in die von Not und Schwernissen gezeichneten Jahre danach.

    Heinz Neumann

    Die „Zugmaschinen" hießen Liese, Lotte oder Felix

    Wenn Hermann Dühr vor der Düßlerschen Mühle in der Mühlenstraße seinen Planwagen mit Mehlsäcken vollgeladen hatte und wenn die beiden kräftigen Pferde dem „Hüjo des Kutschers gehorchten, um dann aber schon frühmorgens in gewohnter Weise vor den Backstuben der Kyritzer Bäcker wie beispielsweise Eichhorst, Borchert, Fiedler und Busse während des Abladevorganges aus den ihnen umgehängten Hafersäcken ihr „Frühstück serviert zu bekommen, dann stieß des öfteren auch meine Frage nach einem eventuellen „Mitfahren auf die offenen Ohren des Hermann Dühr. Wortkarg, wie er nun mal war, bedeutete sein Kopfnicken aber jedes Mal so viel wie: „… nun kletter schon rauf auf den Kutscherbock.

    Oder wenn sowohl die Milchhändler Buske und Haase als auch der mit Braunbier handelnde Kolonialwarenhändler Prohl mit ihren, jeweils von einem frisch gestriegelten Pferd gezogenen, Kofferwagen vor bestimmten Häusern – so auch vor unserem Haus gleich neben der Post – zum „Abfassen der begehrten Frischwaren aufforderten, dann stand es für mich von vornherein fest, dass ich unter den wachsamen Augen des einen oder anderen von mir mit „Onkel … angesprochenen Händlers die Pferde in ihrer Mähne kraulen, aber vorzugsweise auch Buskes Liese auf der flachen Hand manches Stück Würfelzucker reichen durfte.

    Dass Albert Meier, der Kyritzer Aschenfahrer mit seinem flachen, seinerzeit jedoch schon gummibereiften Kasten-Pferdewagen genauso das Bild reger Betriebsamkeit in den engen Kyritzer Straßen mitprägte wie die rundlichen Pferde vor den Pritschenwagen der Brauerei-Niederlassungen „Schraube und „Dessow und dass die schweren Pferde des Spediteurs Wernicke mehrmals am Tage die eisenbereiften Rollwagen zur Güterabfertigung des Bahnhofs und dann wieder retour zu irgendwelchen Abladestellen zogen – das alles empfand ich Steppke wohl als „äußerst interessant, dennoch aber bald schon als eine „selbstverständliche Kyritzer Alltäglichkeit.

    Aber damit noch nicht genug der Geschäftigkeit mittels Zugmaschinen mit Hafermotor, wie der Volksmund die Pferdegespanne zu bezeichnen pflegte. Denn nicht nur die Kyritzer „Ackerbürger, die mit ihren, von Pferden gezogenen Acker-, Pritschen- und Kutschwagen, sowie zeitweise auch mit ihren landwirtschaftlichen Geräten das Stadtbild belebten, auch die aus den umliegenden Dörfern und Gütern des öfteren per „Pferd und Wagen in die Kreisstadt der Ostprignitz gekommenen Bauern oder deren Gespannführer trugen wesentlich dazu bei, dass das „Knatter-Städtchen an jedem normalen Wochentag als „quicklebendig erschien.

    Der somit zu einem großen Teil landwirtschaftlich geprägte Charakter der Stadt war auch mir willkommen. Denn dadurch wurde es mir möglich, verschiedentlich neben dem Kutscher des Landwirtes und Kohlenhändlers Glaser auf dem Ackerwaren zu sitzen und sogar die Zügel zu halten.

    Nicht unerwähnt lassen darf ich in der Aufzählung der in meiner Erinnerung noch deutlich gezeichneten „Kyritzer Stadtbilderscheinungen zudem auch die von uns mit Respekt betrachteten, an manchen Tagen unter dem Geläut der Kirchenglocken von schwarz umhüllten Pferden durch die Straßen gezogenen Begräbniswagen, im Kyritzer Sprachgebrauch schlicht aber keineswegs pietätlos „Leichenwagen genannt. Ehrfurchtsvoll verharrten wir Jungen am Straßenrand, wenn ein mit gerafftem schwarzem Trauerflor versehener Baldachin-Wagen vorüberrollte.

    Liese, Lotte oder Felix – so oder anders hießen also all jene den Begriff „Zugmaschinen mit Hafermotor mitgeprägten Pferde, die zum Beispiel aber auch täglich in langer Reihe vor der Rampe der Kyritzer alten Molkerei auf dem Bahnhofsvorplatz ausharren mussten bis die auf den Milchwagen aus den Dörfern herbeigebrachten vollen Milchkannen in der Molkerei entleert waren. Gleichermaßen zumeist liebevoll genannte Namen trugen aber auch jene Pferde, die besonders in der Kartoffelernte über die Fuhrwerkswaage der Stärkefabrik hinein stampften, um schließlich entweder vor den Gaststätten „Schützenhaus, „Stadtgarten, „Blaue Maus oder vor anderen „Kneipen" der Stadt nach getaner Arbeit sozusagen in den Genuss einer kurzen Rast zu gelangen.

    Einmal war es, dass Mutter mich mit gestrenger Miene und derben Worten ermahnen musste, nachdem wir dem Vater am Pförtnerhaus der Stärkefabrik die Aluminiumschüssel mit dem Mittagessen ausgehändigt hatten: „Es gehört sich nicht, dass du Knirps immer nur den Kutschern am Jackenzippel hängst und bettelst, dass sie dich ein Stückchen mitnehmen durch die Stadt; was soll denn das, spann deine Freunde vor den Handwagen und spiel Kutscher solange du willst."

    Aber nach einer kurzen Pause meinte sie doch wieder beschwichtigend: „Lass man, wir fahren ja bald wieder mal mit dem Milchwagen nach Tramnitz – ich werde schon darauf achten, dass du dann vorn beim Kutscher sitzen darfst, um dann sicherlich auch die Pferdeleine zu halten und womöglich sogar mit der Peitsche zu knallen."

    An Zahl schon beachtlich zugenommen, und somit unbedingt auch von der Moderne kündend, waren natürlich auch schon zu meiner Kindheit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges die Wietz'schen Omnibusse, die vorwiegend von der Firma Kotsch vertriebenen und betreuten Opel-PKWs, verschiedene Autos der Marken von Autounion, ein oder zwei Tempo-Dreirad- Kleintransporter, die LKWs der Stadtmühle und des Fuhrunternehmers Prohl, die von der Firma Staats in der Poststraße reparierten Bulldog -und Deutz-Trecker sowie überdies aber auch verschiedene Motorräder mit und ohne Soziussitz oder Beiwagen, die in verschiedenen Kyritzer Werkstätten ihre Pflege,-und Reparaturpartner hatten…und unübersehbar somit aus dem Stadt-und Straßenbild der Prignitz normalerweise nicht mehr wegzudenken waren. Dass dann aber auch nach dem Krieg in Kyritz schon bald wieder einige neu aufgebaute ältere Kraftfahrzeuge wie zum Beispiel ein Steyer-Lkw, den der neu in der Strüwestraße ansässig gewordene Fuhrunternehmer Kugler als ein ausrangiertes Wehrmachtsfahrzeug von irgendwo herbekommen hatte …und später dann schon einige neue Fahrzeugtypen wie der Lkw Horch, Pkw DKW… F8 und F9, der P 70 und die Kleintransporter Granit und Framo - um nur einige Ersterzeugnisse aus der damaligen Sowjetisch besetzten Zone und der jungen DDR zu nennen - schon wesentlich das Verkehrsaufkommen mitbestimmten, sollte unbedingt auch von dem Fleiß und dem Entwicklungsgeist der Menschen, die zweifellos ihrem Dasein unter erschwerten Bedingungen wieder mehr Sinn und Freude verleihen wollten, künden. So, wie beispielsweise auch der in zweifacher Ausfertigung produzierte Fahrradhilfsmotor - genannt Hühnerschreck - auch noch in den 1950er Jahren des öfteren mit seinem Knattern wahrlich nicht nur das Federvieh erschreckte. Aber nichtsdestotrotz ging aus diesem Motorgefährt irgendwie schon bald das hochbeinige Moped SR1" hervor.

    Wie gesagt, dank des seinerzeit unmittelbar nach dem Krieg entwicklungsfördernden und optimistisch stimmenden Denkens und Tuns der Menschen.

    Geselligkeit auf Kyritzer Art

    Schon als kleiner Junge horchte ich auf, wenn Vater und Mutter von ihren Erlebnissen „auf den Tanzböden erzählten. Und so erfuhr ich, wie es sich verhalten hat, mit der Geselligkeit in Kyritz, als man in den 20er Jahren und auch zu Beginn der 30er Jahre wohl „den Groschen zweimal umdrehen musste, aber dennoch auf das gesellige Beieinander sein nicht verzichten wollte.

    Vor Begeisterung verfärbten sich Vaters Wangen jedes Mal tiefrot, wenn er bei so mancher Gelegenheit unter anderem auch von den Kyritzer Maskenbällen erzählte: „Ob im Wanderheim, im Schützenhaus, im Logengarten (später Stadtgarten), im Saal des Ausfluglokals ‚Blechern Hahn‘, bei ‚Friede‘ im Hotel ‚Deutsches Haus‘, bei Hemmerlings in der Waldkolonie oder auch in den Gaststätten ‚Rheinischer Hof‘ und ‚Blaue Maus‘ (vis a vis vom Stadtgarten in der Pritzwalker Straße) – hoch hergegangen ist es jedes Mal, wenn wir uns in unseren selbstangefertigten Kostümen ins Gewühl des Maskenballs gestürzt haben."

    Als Vater jedoch wieder einmal voller Begeisterung von dem erlebten „Trubel auf den Kyritzer Tanzböden schwärmte, fiel meine Mutter ihm ins Wort und kicherte: „ … und die Plage, die Männer wieder nach Hause zu bugsieren, hatten immer wir Frauen.

    Und dann war für mich kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges die Zeit herangekommen, dass ich an Vaters Seite an so manchem Sonntagvormittag zum Frühschoppen gehen und somit auch in die vom Vater gesuchten „geselligen Runden hinein lauschen durfte. Mutter sah uns hinterher, wenn wir beide losspazierten – Vater mit Sonntagshut und Krawatte und ich entweder in meinem Matrosenanzug und dazugehörenden weißen Troddel-Kniestrümpfen oder, wenn die Witterung es verlangte, in eine wärmende „Bleyle–Strickkombination „hineingesteckt", zu der ich zu meinem Leid dann aber auch noch kratzende selbstgestrickte lange Strümpfe tragen musste.

    Wenn bei Eckert in der Bahnhofsgaststätte nicht der gewünschte Personenkreis zusammengekommen war, dann gingen wir weiter zu Erich Plagemann in das Bahnhofshotel. Oder Vater hatte schon von vornherein die Route festgelegt: „Zuerst mal kurz in Minna Schröders Kneipe am Markt und dann vielleicht noch kurz vor dem Mittagessen, schnell mal rein in den ‚Rheinischen Hof‘ zu Haases in der Wilhelmstraße.

    Für mich bedeutete das in jedem Falle so viel wie „eine gewinnträchtige Sonntagvormittagstour. Denn: wo wir auch „landeten innerhalb der uns von der Mutter genehmigten Zeit – für mich gab es schäumende Fassbrause und meistens noch dazu eine dampfende Bockwurst. Bei Minna Schröder am Markt fielen häufig sogar noch ein dickes Stück Streuselkuchen und einige neue Bierdeckel mit bunten Aufdrucken ab.

    Weil Vater aber in den 20er Jahren bei der Kyritzer Likör-Firma „Hilliges als angelernter Destillateur beschäftigt gewesen war und zu der Zeit auch die Kyritzer Gaststätten mit Spirituosen zu beliefern hatte, war es ihm während unserer gemeinsamen „Frühschoppen-Ausflüge des öfteren noch eingefallen, die „Tour zu erweitern, um somit, wie er es ausdrückte, „den alten Kunden nur mal kurz ‚Guten Tag‘ zu sagen.

    Davon und dementsprechend auch von Vaters Neigung, derartige „Kurzbesuche des öfteren sogar bis in die Nachmittagsstunden auszudehnen wusste natürlich auch meine Mutter. Und so kam es ‚ dass sie mich immer dann „fein rausputzte, wenn Vater schon am Sonntagfrüh vor dem gemeinsamen sonntäglichen Kaffeetrinken seine guten Halbschuhe geglänzt, den Sonntagshut abgebürstet und die nur für Sonn- und Feiertage bestimmte Krawatte hervorgeholt hatte.

    Dass aber auch mein Vater von Mutters „vorbeugender Handlungsweise wusste, hatte ich schon gleich zu Beginn unserer gemeinsamen „Frühschoppen-Touren bemerkt. Denn Vater hatte an einem der ersten Sonntage, als wir von Minna Schröder noch zum „Thüringer Hof! gehen wollten, zu mir gesagt: „Eine halbe Stunde bleibt uns noch, denn um Punkt Zwölf müssen wir zu Hause sein – weißt doch, Mutter wartet auf uns. Kleine Jungs müssen nun mal pünktlich ihr Essen bekommen.

    Aber auf diese Weise hatte ich sie kennengelernt, die von den Kyritzer Arbeitern, Handwerkern, Landwirten und Geschäftsleuten besuchten Gaststätten, in deren Räumen es besonders sonntags recht gemütlich, aber auch manchmal turbulent zuging. Laut gelacht wurde, wenn die neuen Witze die Runde machten oder wenn Vaters Stärkefabrik-Kollegen irgendwelche lustigen Begebenheiten aus dem Fabrik-Alltag erzählten.

    Aber auch „hitzig ging es zu, wenn verschiedene „Streithähne von den Wirtsleuten auf den Hof hinaus oder in die Toilette verwiesen werden mussten, weil deren allzu lautstark geführten Debatten die sonntägliche Gemütlichkeit zu stören und vielleicht sogar noch die geselligen Runden der „kleinen Leute zu gefährden drohten. Dass es zum Ende der 30er Jahre gefährlich war, in einer Gaststätte oder auch anderswo abfällig über die Rundfunk-Ansprachen des „Führers und womöglich auch noch geringschätzig über die Aufmärsche der braun und schwarz uniformierten Ostprignitzer „SA (Sturm-Abteilungen), „SS (Sturm-Staffel) und „HJ (Hitlerjugend) zu diskutieren, hatte ich schon aus einem Gespräch, das mein Vater mit dem Konsum-Inhaber Hermann Redlich geführt hatte, aufgeschnappt. Obwohl sie recht leise miteinander gesprochen hatten, hatte ich es dennoch verstanden, was Hermann Redlich dem Vater zugeraunt hatte: „Der Krieg steht vor der Tür, siehst doch, immer mehr Kyritzer werden zur Wehrmacht eingezogen, das wird bestimmt noch mal ganz schlimm. Aber sagen darfst du dagegen nichts, sonst holen die Braunen oder die ’SS‘ dich einfach ab. Vater hatte gleich daraufhin geantwortet, dass man sich jetzt besonders auch in der Kneipe vorsehen müsse; die Schnauze sollte man lieber halten, weil die Nazis es fertigkriegten, einen, der was gegen sie sagt, einfach zu verhaften … oder dass sogar noch der „Kneiper" deswegen Scherereien bekommen könnte.

    Als ich daraufhin meinen Vater gefragt hatte, ob es wirklich so sei, wie er und Hermann Redlich sich unterhalten hatten, hatte Vater sich zu mir runter gebeugt, mir über meinen Schopf gestrichen und ruhig, aber mit leicht bebender Stimme gesagt: „Was meinst du denn? Hast wohl was gehört? Wir haben doch bloß Spaß gemacht. Ist alles nicht wahr. Hast es falsch verstanden."

    Ich hatte mich fürs Erste damit zufrieden gegeben und über alles, was ich gehört hatte, auch nicht mehr nachgedacht. Nicht einmal meiner Mutter hatte ich von dieser Begebenheit etwas erzählt.

    Aber viel später, als ich einige Jahre nach dem Krieg mit Vater zusammen bei Walter Probst in der Gaststätte saß, kamen wir auf unsere gemeinsamen „Frühschoppen-Touren" und dementsprechend auch auf das von mir belauschte Gespräch zwischen meinem Vater und Hermann Redlich zu sprechen. Vater sah mich erstaunt an, als ich ihm erzählte, was ich seinerzeit mitgehört hatte.

    „Donnerwetter, das weißt du noch? Das ist doch schon solange her. Hm, aber er hat recht gehabt, der Hermann Redlich, nicht wahr? Tja, was hätte ich dir denn damals sagen sollen? So war es schon ganz gut – ich hatte so getan, als wäre an der Sache gar nichts dran und du hattest nicht mehr danach gefragt."

    Erinnern kann ich mich aber auch, dass es in den 30er Jahren in Kyritz bestimmte Gaststätten gab, an deren Eingängen und weit geöffneten Fenstern mein Vater grundsätzlich mit forschem Schritt vorüberging. Denn nicht nur die aus den Fenstern auf die Straße hinausziehenden Tabakdunstwolken sowie auch die Bier- und Schnapsgerüche, sondern vorwiegend auch die aus den Gaststättenräumen nach draußen dringende quäkende Musik aus einem Grammophon-Schalltrichter oder der nicht gerade wohlklingende Gesang aus heiseren Männerkehlen zu irgendwelchen auf einem Klavier gehämmerten „zackigen" Märschen waren für Vater scheinbar jedes Mal ein Grund, beispielsweise in der Hamburger Straße und auch in der Pritzwalker Straße seine Schritte zu beschleunigen.

    Als ich ihn einmal fragte, warum wir nicht auch noch einmal dort hineinschauten, wo es, wie ich es mir vorstellte, doch so lustig zuging, schüttelte Vater zuerst nur energisch mit dem Kopf. Doch dann sagte er: „Ach weißt du, da ist es für mich zu laut. Komm nur, wir gehen woanders hin."

    Und wieder erfuhr ich es erst viel später, warum mein Vater diese Art Gaststätte gemieden hat. Nach dem „Zusammenbruch Hitler-Deutschlands" war er von ganz allein noch einmal darauf zu sprechen gekommen. Ich erinnere mich noch genau an seine Worte:

    „Kannst du dich noch erinnern, dass ich um bestimmte Kneipen immer einen Bogen gemacht hatte oder so schnell wie möglich an diesen vorübergegangen war? Jetzt kann ich es dir ja sagen: In solchen Gaststätten waren wir Arbeiter, die wir weder eine braune Uniform noch ein Parteiabzeichen trugen, nicht willkommen. Die ‚SA-Leute sagten ‚Sturmlokal‘ zu einer derartigen Kneipe, wo nur sie das Sagen hatten. Die hätten unsereins schief angeguckt, provoziert sogar. Klamauk hätte es gegeben, weil die ja nur ihren ‚Führer‘ und ihre Parolen wie ‚Deutschland erwache!‘, ‚Juda verrecke!‘, ‚Führer befiehl, wir folgende dir!‘ und ihr unsinniges Siegesgeschwafel im Kopf gehabt haben.

    Aber auch noch zu der Zeit, als die gewohnten sonntäglichen „Biertischrunden aufgrund der zugestellten Briefe mit den Einberufungsbescheiden zur Deutschen Wehrmacht und auch wegen der immer häufiger aufheulenden Fliegeralarmsirenen schon merklich an Zuspruch und Fröhlichkeit verloren hatten, kramte ich des öfteren meine, während der unvergessenen „Frühschoppen-Ausflüge gesammelten, bunten Bierdeckel hervor, um, wie ich es mir erhoffte, angesichts dieser schon recht umfangreichen und somit auch erinnerungsträchtigen Sammlung meinen Vater zu bewegen, seinen Sonntagshut und die Krawatte hervorzuholen. Doch all mein diesbezügliches Bemühen verlief erfolglos. Einmal fauchte er mich sogar ziemlich ungehalten an: „Nun lass doch endlich den Mist! Ich weiß genau, was du willst – aber merke dir: ich habe jetzt ganz andere Sorgen als nur an die Kneipen zu denken. Vielleicht muss ich bald schon an die Front."

    Bevor er aber an diesem Sonntagmorgen seine Mütze vom Kleiderriegel und den Gartenschlüssel vom Schlüsselhaken nahm, beugte er sich aber doch noch einmal über meine Bierdeckelsammlung. Er schmunzelte als er sagte: „War immer schön, ja? Aber lass man – der Krieg muss ja auch einmal zu Ende gehen; dann machen wir es uns wieder gemütlich, abgemacht?"

    Doch ich musste lange darauf warten.

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