Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der gnadenlose Schlächter
Der gnadenlose Schlächter
Der gnadenlose Schlächter
eBook274 Seiten3 Stunden

Der gnadenlose Schlächter

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ein neunjähriger Junge muss in einem Konzentrationslager erleben, wie sein Vater auf grausame Weise umgebracht wird. Er wird für den Rest seines Lebens traumatisiert, denn er kann die Namen jener Männer, die an dem Mord beteiligt waren, nie mehr vergessen. Der Junge kommt in die USA, wird dort adoptiert und erlebt eine glückliche Jugend. Er studiert und beginnt nach dem Studium eine Karriere bei einer New Yorker Werbeagentur. Genau zu jener Zeit geschehen überall auf der Welt grauenhafte Morde. Die Kriminalisten sind ratlos. Weder die Motivlage, noch der oder die Täter lassen sich auch nur ansatzweise erkennen. Von Paraguay über Italien bis nach Ägypten wird fieberhaft ermittelt. In New York schließt sich am Ende der Kreis.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Okt. 2022
ISBN9783347692237
Der gnadenlose Schlächter
Autor

Rolf Esser

Rolf Esser, Jahrgang 1948, ist im Hauptberuf Lehrer und inzwischen pensioniert. Er unterrichtete an einer integrierten Gesamtschule in den Fächern Deutsch, Gesellschaftslehre, Kunst und Musik. Seit etwa 1990 war er für verschiedene Verlage als Autor im Bereich Unterrichtsmaterialien tätig. Darüber hinaus war er immer künstlerisch und musikalisch aktiv. Neben der Ausstellung seiner Kunstwerke (zuletzt im Osthaus-Museum Hagen) spielte er viele Jahre als Schlagzeuger und Gitarrist in Bands seiner Heimatstadt. Rolf Esser hat inzwischen drei Jugendromane, einen Roman für Kinder, zwei Kriminalromane, eine Kurzgeschichtensammlung, ein Sachbuch für Musiker und eine Reihe von verschiedenen Unterrichtsmaterialien veröffentlicht.

Mehr von Rolf Esser lesen

Ähnlich wie Der gnadenlose Schlächter

Ähnliche E-Books

Mystery für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der gnadenlose Schlächter

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der gnadenlose Schlächter - Rolf Esser

    1945

    Kapitel 1

    Im Konzentrationslager

    Es ist fünf Uhr morgens. Es herrscht Ordnung hier. In deutscher Gründlichkeit stehen die Männer in Reih und Glied, eingeteilt in Gruppen, erkenntlich an ihren Abzeichen, den sogenannten Winkeln, die man ihnen an ihre gestreifte Kleidung genäht hat: Politische, Kriminelle, Emigranten, Bibelforscher, Homosexuelle, Asoziale und Juden. Zusätzlich müssen sie eine Nummer tragen. Der Mensch wird zur Nummer. Er hat keinen Namen mehr, er verliert Ansehen und Ehre.

    Die Männer stehen zu dieser frühen Stunde stramm auf dem großen Platz vor den Holzbaracken, bereit für den Zählappell. Schon um vier Uhr wurden sie geweckt und mussten die elenden Räume ihrer Unterkünfte reinigen. Es ist noch dunkel, grelle Scheinwerfer erhellen das Geschehen. Der April des Jahres 1945 ist schon weit fortgeschritten, der Morgen ist aber immer noch kühl und die dünnen, ausgemergelten Gestalten frieren. Nicht zu vergleichen mit jener Nacht im Januar des überaus strengen Winters, als sie als Strafe für die Flucht zweier Häftlinge kollektiv bei eisiger Kälte hier stehen und ausharren mussten. Für fünfzehn Männer war es der Tod.

    Sie stehen da und haben im Grunde keine Kraft dafür. Sie alle sind Häftlinge. Am Morgen müssen sie die Tortur des Apells aushalten, die sich am Abend wiederholt. Dazwischen werden sie in den ebenso entkräftenden Arbeitseinsatz geschickt: Straßenbau, Bäume fällen, Bauarbeiten, Waffenfabrik – jede Sklavenarbeit ist denkbar, solange ein Gewinn daraus erzielt wird.

    Im Lager herrscht eine Typhusepidemie. Die Baracken des Krankenreviers sind überfüllt. Diejenigen Kranken, die noch auf den Beinen stehen können, müssen auch zum Zählapell antreten und werden zur Arbeit geprügelt. Viele von ihnen werden den Abend nicht mehr erleben.

    All diese Männer wurden in Schutzhaft genommen und kamen in die Hölle. Mit dem Unterschied, dass es in dieser Hölle nicht nur einen Teufel gibt, Teufel treten hier gleich im Dutzend auf. Neun davon stehen vor ihnen, allesamt Männer der SS-Totenkopfverbände. Das Sagen hat der SS-Obersturmbannführer Fritz Meinert, der 1. Schutzhaftlagerführer. Dem Schutzhaftlagerführer untersteht die Leitung des Häftlingslagers im Konzentrationslager. Sein direkter Vorgesetzter ist der Lagerkommandant Eduard Weiter. Ihn hat man in letzter Zeit nicht mehr gesehen. Das schmutzige Geschäft erledigen nun seine gnadenlosen Untergebenen.

    Der Schutzhaftlagerführer Meinert ist gefürchtet für die Durchführung von Strafmaßnahmen und Exekutionen. Noch im letzten September ließ er neunzig russischen Gefangene hinrichten. Er ist unbeherrscht, tritt auf die Gefangenen ein, schlägt sie mit einer Peitsche oder hetzt Hunde auf sie.

    Sie stehen da – zu Tausenden in Schach gehalten von neun Männern, die stolz ihre SS-Uniformen tragen und sich als Herrenmenschen fühlen, als Herren über Leben und Tod. Auch an diesem Morgen dringt die gellende Stimme Meinerts tief in ihr Gehirn. Sie werden sie nie mehr vergessen, sollten sie dieses Lager je überleben. „Rücksichtslos werde ich jeden vernichten, der sich nicht mit allem Einsatz der täglichen Arbeit widmet. Ihr seid ein jämmerlicher Haufen von Drückebergern, täuscht Krankheiten vor, um euch der Pflicht zu entziehen. Habt ihr euch je gefragt, warum man euch in Schutzhaft genommen hat? Ich will es euch sagen: weil ihr ohne Ausnahme faules, arbeitsscheues Gesindel seid, das die staatlichen Wohltaten und die Güte des Führers schamlos ausnutzt."

    So hören sie es jeden Morgen. Vor Meinert war es ein anderer Schutzhaftlagerführer. Sie sind alle von derselben Sorte, diese SS-Täter, beseelt von einem Vernichtungsauftrag, den ihnen der Reichsführer SS Heinrich Himmler immer und immer wieder eingebläut und mit Befehlen und Verordnungen untermauert hat.

    In seinem neuesten Erlass jedoch befiehlt Himmler, die Arbeitskraft der Häftlinge zu gewährleisten. Die Häftlinge sind die Einzigen, die die Rüstungsproduktion für den noch tobenden und längst verlorenen Krieg in Gang halten können. Sie dürfen daher nicht mehr unnötig bestraft oder gequält werden. Einen wie Meinert erreicht ein solcher Erlass nicht. Nicht umsonst nennen sie ihn im Lager den „Schlächter".

    Allein, wie Meinert Neuankömmlinge begrüßt, wenn sie das Lagertor durchschritten haben, ist entlarvend. Der ganze Sadismus dieses SS-Mannes entfaltet sich in seinem ersten Satz, den er herausschleudert: „Hier hat niemand zu lachen! Der einzige, der hier lacht, ist der Teufel, und der Teufel bin ich!" Auch vergisst er niemals zu erwähnen, dass es nur einen Weg aus dem Lager gibt, nämlich den durch den Schornstein des Krematoriums.

    Das Lager ist umgeben von einem hohen Stacheldrahtzaun, der zudem unter Strom steht. Auf acht Wachtürmen sitzen je zwei SS-Wachen mit Maschinengewehren. In der Postenpflicht ließ Himmler niederschreiben, auf Häftlinge müsse ohne Aufruf und ohne warnenden Schreckschuss sofort geschossen werden. Bei zahlreichen unnatürlichen Todesfällen geben die KZ-Wächter einfach an, man habe Häftlinge bei einem angeblichen Fluchtversuch erschossen. Als Fluchtversuch gilt schon, wenn man nur den breiten Sicherheitsstreifen längs des Zaunes betritt. Ein tatsächlicher Fluchtversuch aber ist fast immer tödlich. Und gelingt er einmal, so erfasst man die Geflohenen fast immer schnell wieder, foltert sie entsetzlich und erschießt sie dann vor aller Augen.

    Seit einer halben Stunde müssen sie sich schon die geifernden verbalen Exzesse Meinerts anhören. In der ersten Reihe einer Gruppe steht Hermann Glockenspiel. Zwei gelbe aufeinander gesetzte Winkel in der Form des Davidsterns an seiner Jacke, den die Nazis „Judenstern" nennen, kennzeichnen ihn als Juden, wie alle hier in dieser Gruppe. In den Augen der SS bilden die jüdischen Häftlinge die niedrigste Stufe der Lagerhierarchie. Selbst in der unter den Häftlingen herrschenden Rangordnung stehen sie ganz unten.

    Hermann Glockenspiel ist krank, er hat ebenfalls Typhus. Er konnte sich gerade noch auf den Platz schleppen. Neben ihm steht der neunjährige Erich, sein Sohn. Langsam schwinden Hermann die Sinne, dann wird er ohnmächtig, stürzt nach vorn und schlägt der Länge nach auf dem Boden auf.

    Es ist, als habe Fritz Meinert nur auf einen solchen Vorfall gewartet. Sofort baut er sich vor dem Ohnmächtigen auf und schreit: „Du verdammte Judensau, willst dich nur vor der Arbeit drücken! Das werden wir dir austreiben, ein für alle Mal!" Ein Wink von ihm und zwei SS-Sturmbannführer eilen herbei und greifen sich den armen Hermann Glockenspiel, dessen Nase von dem Sturz blutet. Sie schleifen ihn in die Mitte des Platzes. Dort steht eine Art Galgengerüst, das für alle Arten von schlimmsten Bestrafungen genutzt wird.

    Die SS-Männer binden Hermann die Arme auf den Rücken und ziehen ihn mit einem Strick rücklings an dem Galgenpfahl hoch. Pfahlhängen – eine Bestrafung, die von der SS-Führung gar nicht mehr gern gesehen wird. Wegen der Erhaltung der Arbeitskraft. Meinert kümmert das nicht. Bei dieser mittelalterlichen Folter durchleidet der Delinquent unvorstellbare Schmerzen und Qualen.

    Hermann ist immer noch ohnmächtig. Nun zerren ihm die SS-Schergen noch die Jacke herunter, sodass sein Oberkörper frei wird. Meinert zieht die Peitsche aus dem Gürtel, die er immer bei sich trägt, und schlägt wie besessen auf Hermann Glockenspiel ein. Ob der verstärkten Schmerzensflut erwacht Hermann aus seiner Ohnmacht und muss nun mit all seinen noch vorhandenen Sinnen schlimmste Qualen erdulden. Er schreit sein ganzen Elend hinaus. Dann wird er wieder ohnmächtig.

    Der kleine Erich muss das alles mitansehen. Als der Vater zu schreien beginnt, will er sofort zu ihm eilen. Ein jüdischer Mithäftling, der hinter ihm steht, kann ihn gerade noch zurückhalten und hinter sich ziehen. Erich beginnt jämmerlich zu weinen. Der Mithäftling hält ihm den Mund zu. Nicht auszudenken, was geschieht, würde Meinert das bemerken. Der 1. Schutzhaftlagerführer macht auch vor Kindern nicht Halt.

    Dann rücken die Häftlinge aus zum Arbeitseinsatz. Erich muss in die Munitionsfabrik, wo er Patronenhülsen zu sortieren und zu transportieren hat. Er muss sich sehr zusammenreißen, den ganzen Tag denkt er an den Vater.

    +++

    Nach dem Morgenapell will Fritz Meinert wie immer ein zweites Frühstück einnehmen. Er muss ja auch jeden Morgen in aller Frühe raus. Das hat er diesen Bastarden hier zu verdanken. Er begibt sich hinüber in das streng abgeteilte SS-Gelände, das doppelt so groß ist wie der Häftlingsbereich. Hier sind SS-Übungslager mit Kasernen und Schulungsräumen, Werkstätten, in denen auch Häftlinge arbeiten, Mannschaftsbaracken und Offizierswohnungen, eine Bäckerei sowie das Verwaltungsgebäude.

    Meinert bewohnt mit seiner Frau eine geräumige Offizierswohnung. Als er die Wohnung betritt, duftet es schon nach frischen Kaffee. Seine Frau Gisela kennt seinen Arbeitsrhythmus genau, sie hat alles für das Frühstück vorbereitet. Gisela ist eine dünne, verhärmte Frau. Jede Art von Lebenslust scheint ihr abzugehen. Im Grunde weiß sie genau, was ihr Mann dort im Lager treibt, allein, sie will es nicht wahrhaben. Darauf ansprechen darf sie ihn schon gar nicht. Eine arische Frau hat ihre Pflicht zu erfüllen. Sie muss treu sein, opferbereit, leidensfähig, selbstlos. In ihrer Mutterrolle sorgt sie für stählerne, kampfbereite Nachkommen, sie ist die Quelle der Nation und die Bewahrerin hochwertigen Erbguts. Die Entscheidungen darüber treffen die Männer.

    Die Meinerts haben einen erwachsenen Sohn, der sich schon zu Kriegsbeginn, da war er gerade 21 Jahre alt geworden, nach London abgesetzt hat. Mit den Nazis und ihrer fatalen Sehnsucht nach Krieg wollte er nichts zu tun haben. Obwohl Fritz Meinert den Knaben fast blutig prügelte, weigerte der sich sogar, der Hitlerjugend beizutreten. Ein solcher Sohn ist für einen SS-Mann eine Schande. Für Fritz Meinert ist er gestorben.

    Am Frühstückstisch lässt der SS-Obersturmbannführer es sich gut gehen. Es mangelt an nichts. Brot, Wurst, Käse, alles da. Er hat es auch dringend nötig. Der Tag ist noch lang, wer weiß denn, wie sehr ihn das Häftlingspack noch ärgern wird? „Dieser Jude!" entfährt es ihm und er schüttelt den Kopf. Gisela zuckt zusammen. Insgeheim hat sie eine Vorstellung von dem, was ein SS-Mann mit einem Juden macht, der seinen einzigen Sohn derart durchprügelt, wie sie es von Fritz erlebt hat.

    Gisela weicht aus. „In der Früh wurde eine Rede von Hitler im Radio übertragen, sagt sie. „Und? Was hat er gesagt? „Wir sollen durchhalten, dem Feind die Stirn bieten." Ja, das ist typisch Hitler, denkt Meinert. Von dem hat er nie viel gehalten. Nie kamen klare Aussagen, klare Befehle. Immer nur Durchhalteparolen. Was soll man von einem Österreicher auch schon erwarten? Der sieht ja nicht einmal wie ein Arier aus. Jetzt sitzt er wahrscheinlich in seinem Bunker, während draußen die Soldaten um ihr Leben kämpfen. Da sind Männer wie Himmler schon anders gestrickt. Da gibt´s kein Wenn und Aber.

    Ansprachen vom Führer, Durchhalteparolen, das alles interessiert Fritz Meinert herzlich wenig. Für ihn ist wichtig, dass er da, wo man ihn einsetzt, seine Pflicht tut. Ein richtiger deutscher Mann tut immer seine Pflicht. Und ein SS-Mann ist immer ein richtiger deutscher Mann. Pflicht, das heißt in seinem Fall: Gnadenlos und ohne Rücksicht auf irgendwelche Gefühle die vorgegebene Ordnung des Konzentrationslagers durchsetzen. Was zählt schon der einzelne Mensch, wenn es um etwas so Grandioses wie die nationalsozialistische Idee geht? Beseelt von diesen Gedanken macht sich Meinert auf ins Verwaltungsgebäude, um die Akten zu ergänzen, allein schon, um die eigene hervorragende Pflichterfüllung zu dokumentieren. Niemals hat es in Deutschland, da ist sich Fritz Meinert sicher, Institutionen gegeben, die ihre Aufgaben und Pflichten und die daraus resultierenden Ergebnisse genauer schriftlich festgehalten haben. Da muss man stolz sein, der Nachwelt solche Dokumente hinterlassen zu können.

    +++

    Als die Häftlinge am Abend nach Einbruch der Dunkelheit wieder ins Lager kommen, hängt Hermann Glockenspiel immer noch an dem Pfahl. Erneut vollzieht sich das Ritual des Strammstehens zum Apell. Der Mithäftling, der am Morgen den kleinen Erich zur Seite gezogen hat, nimmt den Jungen wieder beiseite und stellt sich mit ihm in die Reihe ganz hinten. Dort kann er den Vater nicht sehen.

    Nach einer schier endlosen Litanei Meinerts mit wüsten Drohungen und Beschimpfungen folgt das anschließende Durchzählen. Während der Zählappell in der Frühe nicht zu lange dauern darf, weil die Arbeit rechtzeitig beginnen soll, ist es am Abend äußerst selten, dass er weniger als eineinhalb Stunden dauert, häufig sind es zwei Stunden. Wenn nur einer der Häftlinge einen Fehler macht, beginnt alles von vorne. Die Prozedur kann so Stunden dauern. Sollte das Zählen jedoch zur Folge haben, dass ein Häftling fehlt, so zieht das eine kollektive Bestrafung nach sich. Weiteres Strammstehen auf dem Platz bis zum Umfallen, Essensentzug, die ganze Palette dessen, was ein verbrecherisches SS-Hirn sich auszudenken vermag. Häftlinge, die schon lange im Lager sind, wissen zu berichten, dass einmal alle Lagerinsassen eine ganze Nacht und einen ganzen Tag ununterbrochen stehen mussten. Dabei durfte man sich nicht rühren.

    Heute stimmt die Zahl. Die Häftlinge dürfen in ihre Baracken. Zeit für die Abendmahlzeit. Ob man das, was sie hier bekommen, als Mahlzeit bezeichnen kann? 350 Gramm Brot gibt es als Tagesration. Abends erhalten sie vier Mal wöchentlich 20 bis 30 Gramm Wurst oder Käse und dreiviertel Liter Tee. Drei Mal wöchentlich wird ihnen ein Liter dünne Suppe zugeteilt. Zieht man davon den permanenten Essensentzug für alle Arten von Vergehen ab, so bleibt kaum genug Nahrung fürs Überleben, wenn man bedenkt, dass sie den ganzen Tag lang hart arbeiten müssen.

    Kurz vor der absoluten Nachtruhe um 21 Uhr erschallt aus den Lagerlautsprechern die verhasste Stimme des 1. Schutzhaftlagerführers: „Allen zur Warnung gebe ich hiermit bekannt: Der arbeitsscheue Jude hat sich erdreistet, sich einer weiteren Bestrafung zu entziehen und ist verreckt. Wer meint, sich beim Morgenapell durch Umfallen der Arbeit entziehen zu können, der muss mit drakonischen Strafen rechnen. Wir werden keinerlei Verweigerung dulden!"

    Die Lautsprecher knacken, dann ist Ruhe. Alle haben es gehört. Der arme, am Pfahl aufgehängte Hermann Glockenspiel ist tot. Der Tod ist in diesem Lager ein täglicher Begleiter. Jeden kann es jeden Tag treffen. Keiner der Häftlinge ist daher überrascht oder sonderlich erschüttert.

    Der kleine Erich aber hat es auch gehört. Der Vater ist tot. Nun hat er niemanden mehr. Die Mutter hatte man schon 1938 während der Novemberpogrome ergriffen, weil sie in einem jüdischen Laden in Berlin einkaufen wollte. Sie konnte und wollte den SA- und SS-Horden nicht nachgeben. Sie war eine starke Frau. Es wurde ihr auch zum Verhängnis, dass sie mit einem jüdischen Mann verheiratet war, obwohl sie selbst nicht Jüdin war. Rassenschande nannten die Nazis das. Man brachte sie in das KZ Sachsenhausen. Später dann wurde sie nach Auschwitz deportiert, wo sie in der Gaskammer ermordet wurde. Das jedoch wird Erich erst sehr viel später erfahren. Damals war er erst zwei Jahre alt. Sicher hat er unbewusst das plötzliche Fehlen der Mutter verinnerlicht.

    Hermann Glockenspiel wollte trotzdem Deutschland nicht verlassen. Er war zwar jüdischen Glaubens, aber er war ja Deutscher. Den jüdischen Glauben hatte er im Grunde nie gepflegt. Sein tief gläubiger jüdischer Vater hatte im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und war an der Westfront gefallen. Hermanns Mutter war bald darauf gestorben. Nach Beginn des unsäglichen, von Hitler 1939 entfachten Krieges wurde die Lage für die Juden in ganz Deutschland immer bedrohlicher. Der Bruder und die Schwester von Hermann Glockenspiel waren eines Tages verschwunden, dann auch weitere Verwandte wie Onkel, Tante, Cousinen, Neffen. Die jüdische Gemeinde in Berlin wurde von den Nazis systematisch dezimiert. Zunächst konnte Hermann sich mit Erich bei nichtjüdischen deutschen Freunden verstecken. Auch solche Menschen gab es. Als dann 1942 klar wurde, dass der Holocaust, die Judenvernichtung, im Machtbereich der Nationalsozialisten beschlossene Sache war, entschloss sich Hermann Glockenspiel, auch um die Freunde nicht in Gefahr zu bringen, mit seinem Sohn in die Schweiz zu fliehen. Fast im Angesicht der Schweizer Grenze wurden sie ergriffen und in dieses KZ verschleppt.

    Verlassen und zu Tode betrübt sitzt Erich auf seiner verlausten Schlafstelle, einem elenden Verschlag in einer elenden dreistöckigen Konstruktion. Schlafen kann er nicht. Ohnehin muss er dieses Bett, das man wohl kaum so nennen kann, mit anderen Häftlingen teilen. Es ist eng geworden. Insgesamt gibt es 34 Baracken in zwei Reihen, mittig ist die Lagerstraße angeordnet. Unter einem früheren Kommandanten erhielten die Wohnbaracken die Bezeichnung „Blöcke. Jeder Wohnblock besitzt zwei Waschanlagen, zwei Toiletten und vier „Stuben. Jede Stube hat einen Wohn- und einen Schlafraum. Pro Stube sollen eigentlich 52 Personen untergebracht werden, das bedeutet 208 Häftlinge pro Wohnblock. Jetzt aber müssen sich bis zu 1.600 Gefangene einen Wohnblock teilen, das sind 300 bis 500 Personen pro Stube.

    Es ist schon merkwürdig. Noch 1942 deportierte die SS alle jüdischen Häftlinge in das Vernichtungslager Auschwitz. Erich und sein Vater kamen erst später hierher in dieses Lager, was schon wie ein Wunder anmutet, da Juden in der Regel ohne Umschweife in die Vernichtungslager im Osten deportiert werden. Ab letztem Herbst aber und verstärkt seit Beginn dieses Jahres kommen immer neue Transporte mit Häftlingen aus dem Osten an. Es geht das Gerücht, dass die Russen immer weiter vordringen. Auch von Westen her sollen die Amerikaner auf dem Vormarsch sein. Welchen Sinn macht da die Räumung anderer Lager noch? Aber die Transporte gehen weiter. Inzwischen drängen sich etwa 35.000 Häftlinge auf engstem Raum. Jeden Tag treffen neue Eisenbahnzüge mit kranken und erschöpften Häftlingen ein. Als der Todestransport aus dem Lager Compiègne ankommt, sind von 2.521 Häftlingen bereits 984 tot. Nun ist das Lager völlig überfüllt. Für die Insassen wird das Leben, wenn man denn von Leben sprechen will, vollends unerträglich.

    Jeder Häftling, der neu ankommt, ist auf die Hilfe der Mitgefangenen angewiesen. Sie müssen ihm die neuen Verhaltensregel erklären und ihm die wichtige Hoffnung auf ein Überleben machen. Die meisten Neuzugänge erleiden bei der Aufnahme-prozedur einen regelrechten Schock, der nicht selten mehrere Tage andauern kann. Die anfängliche Bestürzung weicht der Empörung, die wiederum Entsetzen auslöst. Der Schock zieht umso verheerendere Folgen nach sich, je weniger man psychisch auf diese Situation vorbereitet ist. In der ersten Zeit sind die Neulinge besonders bedroht, da sie von der SS bevorzugt schikaniert werden. Die höchste Sterblichkeit ist in den drei Monaten nach dem Eintreffen im Lager zu verzeichnen. In dieser Zeit kommen die Schwachen, die Kranken und diejenigen ums Leben, die nicht in der Lage sind, sich den brutalen Lebensverhältnissen anzupassen.

    Die Blöcke im Lager sind nach Nationalitäten geordnet. Die Lebensbedingungen vieler Häftlinge orientieren sich daran, welcher Nationalität sie angehören. Mit der Ankunft neuer Häftlingsgruppen einer anderen Nationalität rücken die bereits anwesenden in der Sozialstruktur auf. Mit der Ankunft der Tschechen etwa bekamen die österreichischen Häftlinge oder die deutschen „Asozialen" einen höheren Status. Mit der Ankunft der Polen und Russen rückten wiederum die Tschechen in der Hierarchie auf.

    Der Alltag der Häftlinge ist ausgefüllt mit Arbeit, Hunger, Müdigkeit und Angst vor Krankheit und der Brutalität der sadistischen SS-Bewacher. Bereits der erste Lagerkommandant hat im Jahr 1933 eine Disziplinar- und Strafordnung erstellt, die später auch für alle anderen Konzentrationslager Gültigkeit bekam. Lagerkommandanten handeln seitdem in einem rechtsfreien Raum. Sie können nach Belieben schalten und walten. Es liegt im Ermessen eines jeden SS-Bewachers, angebliche Vergehen der Häftlinge festzustellen, und es ist zumeist vollkommen unvorhersehbar, was den Zorn eines SS-Mannes erregt und damit eine sogenannte Strafmeldung bewirken kann. Ein abgerissener Knopf an der Jacke oder ein Fleck auf dem Fußboden der Baracke, eine kurze Verschnaufpause bei der Arbeit, oder eine falsche Antwort – jeden Häftling kann zu jeder Zeit eine Strafmeldung treffen, was oftmals einem Todesurteil gleichkommt. Zu den häufigsten Strafen gehörte die Prügelstrafe, bei der der Häftling über einen dafür angefertigten Holzbock geschnallt wird und die Schläge des Ochsenziemers laut bis 25 mitzählen muss. Verliert er das Bewusstsein, so wird die Strafe wiederholt.

    Das besonders Infame an all den Strafmaßnahmen ist die Tatsache, dass in den meisten Fällen alle Gefangenen dem Vollzug beiwohnen müssen. Nicht selten sind es auch Hinrichtungen. So können sie sich ausmalen, was ihnen täglich, stündlich drohen kann. Selbst der kleine neunjährige Erich und die anderen Kinder im Lager werden nicht verschont. Auch sie müssen das miterleben und

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1