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Überleben ist alles
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eBook313 Seiten4 Stunden

Überleben ist alles

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Über dieses E-Book

7. März 1945: Die Amerikaner fluten über die zufällig unzerstörte Rheinbrücke bei Remagen – die letzten 60 Tage des Zweiten Weltkriegs sind angebrochen; Hitler erteilt aus dem Führerbunker in Berlin den Befehl "Verbrannte Erde". So nahe am Ende des Dritten Reichs heißt es für Millionen von Deutschen jetzt nur noch:Überleben ist alles. Die Familie des Münchner Postrats Wamsler ist in alle Himmelsrichtungen versprengt. Sie spiegelt das Schicksal eines ganzen Volkes wider: Die Eltern werden in die Festung Alpenland evakuiert. Sepp, der Älteste, ist in den Kämpfen um das belagerte Berlin eingesetzt. Florian gerät in einen kopflosen Rückzug zwischen Rhein und Donau. Michael erlebt in Italien den letzten alliierten Ansturm. Und Stupsi, das Nesthäckchen, wird als Nachrichtenhelferin dienstverpflichtet.Will Berthold (1924–2000) war einer der kommerziell erfolgreichsten deutschen Schriftsteller und Sachbuchautoren der Nachkriegszeit. Seine über 50 Romane und Sachbücher wurden in 14 Sprachen übersetzt und erreichten eine Gesamtauflage von über 20 Millionen. Berthold wuchs in Bamberg auf und wurde mit 18 Jahren Soldat. 1945 kam er vorübergehend in Kriegsgefangenschaft. Von 1945 bis 1951 war er Volontär und Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", u. a. berichtete er über die Nürnberger Prozesse. Nachdem er einige Fortsetzungsromane in Zeitschriften veröffentlicht hatte, wurde er freier Schriftsteller und schrieb sogenannte "Tatsachenromane" und populärwissenschaftliche Sachbücher. Bevorzugt behandelte er in seinen Werken die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg sowie Themen aus den Bereichen Kriminalität und Spionage.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum18. Sept. 2017
ISBN9788711727331
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    Buchvorschau

    Überleben ist alles - Will Berthold

    www.egmont.com

    Wenn der Westwind die Dunstglocke von Brand, Tod und Pulverbeize über den Rhein treibt, liegt in der Luft auf einmal eine Ahnung von Vorfrühling, ein Hauch von Frieden. Es ist der 6. März 1945, und lange kann der Krieg nicht mehr dauern, aber bis er nach einem rasenden Amoklauf verendet, werden in den nächsten neun Wochen mehr Menschen umkommen als in den letzten fünf Jahren zusammen.

    Dem Januar-Dammbruch im Osten folgte im Februar der Zusammenbruch im Westen. Rhein, Oder und Donau sind auf einmal Frontflüsse. Aachen, Trier, Mönchengladbach, Neuss und Venlo wurden von den westlichen Alliierten kassiert. Im Osten stehen die Russen schon bei Küstrin, Stettin und Frankfurt an der Oder.

    In der Ferne wummern schwere Geschütze. Die Einschläge bringen das veraltete Gebäude im Bonner Universitätsgelände zum Erzittern, das als Heeresreservelazarett zweckentfremdet wurde. Ein paar Kilometer weiter nördlich rauschen Bombenteppiche auf die geschundene Erde. Sowie sich das dunkle Explosionsgewölk verzieht, haben die Jabos wieder Büchsenlicht und knallen im Tiefflug auf alles, was sich bewegt. In Köln am Rhein feiert der Tod nachträglich einen schauerlichen Karneval.

    »Nun macht euch schon mal fertig für den Luftschutzkeller«, sagt der Gefreite Wamsler, der Stubenälteste, zu den anderen sieben Verwundeten im Krankenzimmer 18. Der Junge aus München – groß, dunkelblond, offene Augen, harte Lippen – sieht einen Moment lang durch das Fenster nach draußen. »Wenn das Lazarett nicht schleunigst verlegt wird, dann schnappen uns mit Sicherheit die Amis.«

    »Schlimm«, spottet der Gefreite Elias, von den anderen nur ›der Prophet‹ genannt. »Mir kommen gleich die Tränen.«

    »Mir auch«, schaltet sich Raschke – der Berliner mit dem Steckschuß in der Lunge – ein; er keucht, hustet und prustet. Einen Moment lang lauscht er dem Gefechtslärm nach: »Kommt aus dem Norden. Vermutlich ist heute in Köln der Teufel von der Kette.«

    Die anderen nicken und rechnen die Entfernung nach.

    »Köln«, greift Redde, das Stubenferkel, das Stichwort auf: »Mensch, da hab’ ich im letzten Urlaub ’ne Kellnerin aufgerissen, eine mit solchen Apparaten!« Mit den Händen modelliert er einen kolossalen Busen in die Luft: »Groß und fest wie Melonen; sag’ ich euch, aber keine Hängefrüchte.« Er merkt, daß er heute mit dem Thema eins nicht ankommt und läßt es vorläufig sein.

    Bevor die Sirenen heulen, schaltet Wamsler das Radio ein: Statt der Luftlagemeldung wuchten schon zum dritten Mal markige Goebbels-Sätze über den Reichsrundfunk: »Ein Volk, das entschlossen ist, zur Verteidigung seines Lebens jedes Mittel, auch das kühnste und verwegenste, anzuwenden«, tönt der ehemalige Jesuitenzögling, »ist schlechterdings unschlagbar.«

    »Mach den Rappelkasten aus«, giftet der sonst so bedächtige Adamsky aus Pommern; seine Heimat ist bereits von den T 34 überrollt: »Ich kann das doofe Gequassel nicht mehr hören. Die Russen stehen bereits im Vorfeld von Berlin, und da sabbert dieser Klumpfuß, als hätt’ er lauter Idioten vor sich.«

    »Halt die Klappe!« fährt ihn Wamsler an. »Oder willst du als Defätist …«

    »Nach dir, Flori«, schaltet sich der Obergefreite Elias ein, und ein ranziges Lächeln zuckt über sein zerklüftetes Gesicht.

    »Paßt mal auf, Sportsfreunde«, warnt der Stubenälteste und sieht dabei aus wie der jüngere Bruder des Drachentöters Siegfried, dem Hagen den Speer von hinten in den Leib gerannt hat: »Ein Sani von unserem Lazarett hat gestern zu einer Frau auf der Straße gesagt, daß der Krieg verloren ist, und er wurde auf der Stelle verhaftet. Wenn er noch lebt, hat er Glück gehabt.«

    »Oder auch Pech«, entgegnet Adamsky düster.

    »Hier auf unserer Stube können wir uns doch wohl noch offen unterhalten … unter Kameraden …«, meint Elias ziemlich kleinlaut.

    »Die Kameraden sind bei Stalingrad gefallen«, kontert Florian Wamsler.

    »Sachte, sachte, Junge«, bremst der Berliner seinen Pessimismus: »Stramme Nazis war’n wir ja schließlich alle mal, aber das ist wie ’ne Kinderkrankheit. Wenn du die hinter dir jebracht hast, biste jeheilt, und zwar für immer.«

    »Schon gut«, versucht Wamsler das heiße Thema abzuwürgen. Er geht zu dem Tisch, an dem Elias arbeitet. »Was bastelst du denn hier zusammen?« fragt er ihn und betrachtet ein Papiergebilde, das aussieht wie ein Adventskalender.

    »Einen Friedensfahrplan«, erwidert der Prophet stolz. »Jeden Tag, den ich überlebe, mach’ ich ein Fenster auf wie ein Kind, das auf den Weihnachtsmann wartet.«

    »Wie viele Fenster hast du denn vorgesehen?« fragt Raschke interessiert.

    »So an die sechzig. Für jeden Tag eines. Die mußt du überstehen, so oder so. In jeder Gangart. Wenn du sechzigmal am Morgen so ein Fenster öffnen kannst, bist du fein raus, weil du dann nicht ins Gras gebissen hast.« Er führt seine Erfindung gleich vor: »Überleben ist alles.«

    »Und zwar fressend, saufend und pimpernd«, nimmt Redde einen zweiten Anlauf zum Thema eins: »Diese Kölnerin hat mir vielleicht die Eier glattgezogen. Ich hab’ nicht mehr gewußt, ob ich ein Männchen oder Weibchen bin.«

    »Schlappschwanz«, versetzt Adamsky, und sein Mund platzt dabei auf wie eine faulige Frucht. »Woher willst du eigentlich wissen, Prophet, daß sich der Krieg nur noch 60 Tage hinziehen wird?«

    »Länger kann die Scheiße doch nicht mehr dauern«, antwortet der Prophet.

    Sie glauben das auch, weil sie es glauben wollen.

    »Und was kommt dann?« fragt Wamsler.

    »Janz egal«, entgegnet Raschke, »schlimmer kann’s wohl nicht mehr werden.«

    »Und wenn dir die Amis tatsächlich den Pimmel abschneiden?« fragt Redde.

    »Das ist doch nur Propaganda«, hüstelt Raschke, »dieses Sterilisationsprogramm.«

    »Und der Morgenthauplan?«, fragt Wamsler, »auch nur Propaganda?«

    »Was weiß ich«, gesteht der Prophet ein. »Frag mich was Leichteres … Jedenfalls«, setzt er tröstend hinzu, »es wird alles halb so heiß gefressen wie’s gekocht wird.« Der Erfinder des Friedenskalenders gibt weitere Erläuterungen: »Ich geh’ davon aus, daß wir noch mindestens drei Wochen im Lazarett bleiben werden, das wären schon mal einundzwanzig Fenster. Anschließend steht uns ein Genesungsurlaub zu: üblicherweise noch mal einundzwanzig Tage, das macht nach Adam Riese zweiundvierzig. Dann kommst du zum Ersatzbataillon, und das sind sechs, sieben Tage. Anschließend gehst du an die Front – der Weg ist zwar nicht mehr weit, aber die Schienenstränge sind kaputt, macht noch mal drei, vier Tage. Bis du dann an den Feind gerätst, vergehen vielleicht noch einmal ein, zwei Tage, und bis dahin haste mindestens schon fünfzigmal durch das Fenster in den Frieden geschaut.«

    »Oder in die Kloröhre«, blödelt Redde.

    »Dann mußt du nur noch sehen, daß du das letzte Schlamassel durchstehst«, fährt Elias unbeirrt fort. »Vielleicht noch zehn Tage, elf oder zwölf. Aber das werden wir doch noch schaffen, Kumpels, das ham wa ja schließlich gelernt.«

    Sie zählen ihre Frontjahre und ihre Verwundungen zusammen und kommen, im Vergleich zu ihrer Jugend, auf astronomische Zahlen.

    »Bei mir sind es schon fünf Jahre«, sagt Adamsky. »Ich Arschloch war vom ersten Tag an dabei. Aber ab jetzt halte ich mich an die Bibel: ›Seid klug wie die Schlangen und listig wie die Tauben‹.«

    »Verdünnisieren oder in die Erde kriechen, wie’n Regenwurm«, rät Raschke. »Wer’s jetzt noch nicht jefressen hat, der is’ selber dran schuld.«

    Das Gemäuer erzittert wieder im Rhythmus der Granateinschläge. Vielleicht kommt der Panzeralarm früher als der Luftalarm, aber weder die Amis noch die Tommies erscheinen heute im aufgescheuchten Treibhaus, das sonst so schläfrig wirkt. Statt dessen setzt Oberfeldarzt Dr. Schlamm am frühen Nachmittag so überraschend eine Sondervisite an, daß die Männer der Stube 18 erst im letzten Moment ihr Bett erreichen.

    »Achtung!« brüllt Florian Wamsler und legt selbst noch im Liegen die Hände an und macht Meldung.

    Dem Sanitätsoffizier folgt der Spieß, ein Hauptfeldwebel wie aus dem Bilderbuch: geschniegelt und gebügelt, in Ausgehuniform, auf der Brust das Band des Kriegsverdienstkreuzes, gut im Futter, kerngesund. Aus einem verkrachten Medizinstudenten ist ein Zwölfender geworden, unabkömmlich im Heimatlazarett. Wenn der Mann einen scharfen Schuß hörte, dann höchstens auf der Latrine. Der Chefarzt geht langsam von Bett zu Bett; der Spieß folgt ihm wie ein schwanzwedelnder Hund. »Na, wie geht’s uns denn, Gefreiter Wamsler?« fragt der hohe Sanitätsoffizier jovial.

    »Gut, Herr Oberfeldarzt«, antwortet der Stubenälteste mit dem komplizierten Schußbruch. »Nur meinem Arm geht’s noch nicht so gut, Herr Oberfeldarzt.«

    »Dem rechten« korrigiert ihn der Rotgesichtige mit der dünnen Nase. »Versuchen Sie doch mal, ob Sie nicht auch mit Ihrem linken Arm ein Gewehr halten können.« Der Mediziner nickt dem Hauptfeldwebel zu, der sofort Wamslers Namen notiert. Er geht zu Raschke weiter, wirft einen flüchtigen Blick auf die Eintragungen der Fieberkurve: »Na ja, Raschke«, muntert er den Berliner auf: »Ich denke, die Kugel können wir Ihnen erst nach dem Krieg aus der Lunge operieren.« Wieder nickt er dem Spieß zu; der Spieß notiert, und der Oberfeldarzt ist schon bei Adamsky: »Was macht Ihr Fuß?« fragt er.

    »Steif, Herr Oberfeldarzt.«

    »Richtig«, erwidert der Mediziner und spielt weiter den leutseligen Heldenklau: »Dann müssen Sie halt humpeln. An der Front wird ja nicht exerziert. Notieren, den Mann«, sagt der Sanitätsoffizier im Weitergehen. Der Eid des Hippokrates, den Dr. Schlamm vor vielen Jahren geschworen hat, liegt in der Schublade, unter dem Mitgliedsbuch der NSDAP.

    Der Rotgesichtige bleibt vor Redde, dem Verwundeten mit dem Oberschenkeldurchschuß, stehen.

    »Die Wunde buttert noch heftig, Herr Oberfeldarzt«, erklärt das Stubenferkel ungefragt,

    »Das weiß ich selbst«, erwidert Dr. Schlamm, alias Dr. Eisenbart, eine Spur ungehalten. »Wir teilen Sie einer Genesungskompanie zu. Da versteht man sich schon darauf, sie trockenzulegen.«

    Der Spieß verliest die Namen: Fünf von acht wurden kassiert wie Fallobst. »Ihre Bettruhe ist aufgehoben«, stellt der Sanitäts-Hauptfeldwebel fest. »In einer halben Stunde stehen Sie feldmarschmäßig im Garten. Inzwischen lasse ich Ihnen die Marschpapiere ausstellen.«

    »Achtung!« brüllt Wamsler noch einmal, als der Chefarzt die Stube verläßt.

    »Du Armleuchter«, beschimpft Raschke den Gefreiten Elias und klettert hustend und spuckend aus dem Bett. Er geht an den Tisch und schnappt sich den Friedenskalender des Propheten. »Das ist nicht Adam Riese«, giftet er und wirft dem Propheten die Bastelarbeit vor die Füße: »Das ist Adam Scheiße.«

    Fluchend und schimpfend steigen die Verwundeten in ihre Klamotten: 39 Mann stellt Dr. Schlamm ab für die Front. »Das letzte Aufgebot«, unkt Elias, »Krüppelspätlese zwo.« Sie sind keine heurigen Hasen mehr, aber doch noch sehr junge Veteranen. Alle tragen Orden und Ehrenzeichen, Jungsiegfried aus München die meisten.

    »Mensch, Junge«, sagt Raschke, doch ziemlich beeindruckt: »Du hast ja ’nen janzen Klempnerladen auf der Heldenbrust – paß bloß auf, daß dir beim Jewitter nicht der Blitz trifft.«

    »War schon mal Leutnant bei der Heeresflak gewesen«, gesteht der Gefreite mit dem Spiegelei, dem EK I und II, dem Silbernen Verwundetenabzeichen, der Silbernen Nahkampfspange. »Und ich hab’ etliche T 34 abgeschossen.«

    »Und deswegen biste kein Leutnant mehr?« fragt Adamsky anzüglich.

    »Eine Nebelkerze in so einer Kaschemme«, erwidert der Exoffizier. »Fünf, sechs Schnösel von der Kriegsschule, und ich war scharf auf die rote Rita. Blau war ich wie ein Veilchen, spitz wie Nachbars Lumpi. Da hab’ ich in meiner Not zwei von den Dingern gezündet und bin mit dem Mädchen abgezogen.«

    »Hast du’s dann wenigstens bei ihr geschafft?« fragt Redde, auf einmal wieder in seinem Fach.

    »Einmal schon«, erwidert der 22jährige Münchner. »Aber dann haben mich die Kettenhunde aus Ritas Bett geholt, und danach wurde ich zum Schützen Arsch degradiert.«

    »Das ist doch nicht ehrenrührig, Flori«, sagt Adamsky.

    »Kaum«, räumt Wamsler ein, »aber erklär’ das mal einem Vater, der’s vom Inspektor bis zum Postrat gebracht hat. Und mein großer Bruder, der Stolz der Familie, ist Hauptmann und hat sogar das Ritterkreuz.«

    »Feine Familie«, entgegnet Adamsky mit Spott und Anerkennung in der Stimme. »Gibt’s noch mehr Wamslers von dieser Sorte?«

    »Einen jüngeren Bruder und meine kleine Schwester Stupsi. Die ist unwahrscheinlich, das sag’ ich dir, eine Zuckerpuppe, bildhübsch und unnahbar!«

    »Haste nicht ein Foto von ihr, Flori?« fragt Redde.

    »Nicht für dich, du Schweinepriester«, wehrt Wamsler ab. »An Stupsi würdest du dir deine faulen Zähne ausbeißen. Sie war Zögling im St.-Anna-Kloster in München, falls du weißt, was das ist.«

    »Eine Nonnenfabrik«, grinst Redde.

    »Quatschkopf«, versetzt Wamsler. »Dort hat man meine Schwester zum braven Mädchen erzogen, und Sepp, Micha und ich haben auf Stupsi aufgepaßt, solange es ging.«

    »Drei Ritter und das Burgfräulein«, erwidert der Prophet.

    »Ganz recht. Und musikalisch ist die Kleine, schwärmt Florian, »tanzt wie eine Primaballerina, und wenn sie sich ans Klavier setzt und die Mondscheinsonate spielt, dann geht die Sonne auf.«

    »Und den Westerwald, kann sie den auch klimpern?« fragt Redde.

    »Banause«, entgegnet der Gefreite.

    »Ist sie denn nicht beim Bund deutscher Mädchen gewesen?« fragt Adamsky.

    »Beim BDM war sie natürlich auch.«

    »Und jetzt ist sie bei Muttern?«

    »Leider nicht«, antwortet der Exleutnant leicht betreten. »Vor kurzem hat sie sich freiwillig zum Einsatz als Luftwaffenhelferin gemeldet, sonst wär’ sie nämlich zum Volkssturm eingezogen worden, und dagegen waren wir alle im Familienrat.«

    »Schöne Scheiße«, schaltet sich Raschke ein. »Aber wenn deine Stupsi so unantastbar ist, wie du sagst, wird sie schon keine Offiziersmatratze werden.«

    »Halt’s Maul, du damischer Depp«, droht Jungsiegfried. Immer, wenn er zornig wird, schlägt bei ihm die bayerische Mundart deutlich durch: »Wenn’st no so an Schmarrn sagst, schmier’ i dir oane, daß dir Hörn und Sehn vergeht.«

    »War doch nicht so gemeint«, entschuldigt sich der mit dem Lungensteckschuß erschrocken.

    Rasch versöhnt präsentiert Wamsler nun doch das Familienfoto: In der Mitte der gestrenge Vater mit dem sorgfältig gepflegten Schnurrbart, auf den ersten Blick schon ein Pflichtmensch, der es zu etwas gebracht hat. Neben ihm, mit ondulierten Haaren und einem sanften Lächeln, Mutter Barbara, umgeben von ihren vier Kindern.

    An ihrer Seite Sepp, der Älteste. »Der Erste beim Sport«, erklärt Florian, »Und der Primus in der Klasse. Der jüngste Hauptmann in seinem Regiment und der vierte Ritterkreuzträger seiner Panzerdivision. Wo der hintritt, wächst kein Gras mehr«, versichert der jüngere Bruder. »Und den kennt ihr ja: Das bin ich, und hier, neben mir, das ist Michael«, erläutert er. »Der ist ganz anders wie Sepp, der macht sich nichts aus Orden und Ordnung, der weiß, wo Gott wohnt, ein Meister im Organisieren. Hat klein angefangen, in Italien, mit Saccharin und Feuersteinen. Der kommt mit mindestens zwei Koffern in Urlaub nach Hause, und meine Eltern haben dann für drei Monate ausgesorgt.«

    »Prima«, erwidert Raschke. »Wer ist dir nun lieber, der Sepp oder der Michael?«

    »Der Große imponiert mir natürlich mehr«, versetzt der Exleutnant, »aber ich fürchte, den Kleinen werden wir bald nötiger haben.«

    Elias, der Prophet, interessiert sich weniger für den geschäftstüchtigen Benjamin als für das Mädchen mit den großen Augen in dem klaren Gesicht: »Wirklich eine Wucht, dein Schwesterherz«, lobt er. »Aber die ist doch höchstens fünfzehn.«

    »Achtzehn«, erwidert Wamsler. »Das Foto ist drei Jahre alt, wurde bei der Silberhochzeit unserer Eltern geschossen. Übrigens, Stupsi wurde ins Rheinland eingezogen, in irgendein Nest zwischen Koblenz und Andernach«, setzt er hinzu. »Vielleicht ist sie ganz in der Nähe.«

    »Da hätt’ sie uns ja mal besuchen können«, sagt Raschke und atmet erregt.

    »Stimmt«, entgegnet Wamsler; er hatte mit seiner kleinen Schwester angeben wollen, aber sie war noch in der Grundausbildung und hatte sicher keinen Ausgang erhalten.

    »Jedenfalls«, kommt Adamsky zum Nächstliegenden, »wird’s für Stupsi genauso Zeit, über den Rhein zu kommen, wie für uns. Bonn wurde zur Festung erklärt, und wer weiß, ob wir das im Lazarett überstehen würden.«

    In diesem Moment kommt der Spieß, begleitet vom Schreibbullen, aus dem Gebäude.

    »Achtung!« ruft der Exleutnant, denn gelernt ist gelernt.

    »Los! Antreten! Abzählen«, befiehlt der Geschniegelte mit dem doppelten Ärmelstreifen.

    Sie stehen, mäßig ausgerichtet, in Linie zu drei Gliedern, als der Schreibstubenhengst ihre Namen einzeln aufruft. Der Mann hat ängstliche Kaninchenaugen und wackelt mit den Ohren. Er macht es besonders gründlich, solange sein Auftraggeber in der Nähe steht. Der Spieß hakt pedantisch jeden Namen ab und stellt fest, daß Unterscharführer Baldauf aus Aachen fehlt. Er wird im ganzen Haus gesucht und auf dem WC gefunden.

    »Ach nee«, empfängt ihn der Spieß: »So einfach können Sie sich nicht drücken.«

    »Ich wollte mich nicht drücken, Herr Hauptfeldwebel«, entgegnet der 25jährige, dessen Heimatort schon von den Amis besetzt ist, »aber ich hab’ Dünnschiß, wenn Sie’s genau wissen wollen.«

    Der Spieß wartet, bis die Umstehenden ausgelacht haben. »Nun hört mal gut zu, Herrschaften«, kommt er dann vergleichsweise gemütlich zur Sache: »In Anbetracht der militärischen Lage muß dieses Lazarett heute noch auf die andere Seite des Rheins evakuiert werden. Von allen Verwundeten seid ihr nach Feststellung von Oberfeldarzt Dr. Schlamm noch in der besten Verfassung. Die Front braucht jetzt jeden Mann, folglich werdet ihr euch unverzüglich nach Remagen in Marsch setzen. Dort meldet ihr euch bei der Genesungskompanie.«

    Aus dem Hintergrund erschallt ein lauter, provokanter Furz.

    »Wer war die Sau?« unterbricht der Spieß seine Mitteilungen.

    »Die neue deutsche Geheimwaffe«, murmelt einer aus dem dritten Glied mit dumpfer Stimme. Und alle lachen.

    »Euch vergeht schon noch euer dreckiger Humor«, konstatiert der Spieß nicht unlogisch. Er läßt die Frechheit durchgehen, froh, diese renitenten Burschen endlich loszuwerden: »Dem Chefarzt ist die Entscheidung nicht leichtgefallen«, behauptet sein Vollstrecker. »Ihr seid noch nicht ganz ausgeheilt, und es stünde euch ein Genesungsurlaub zu. Aber der Heldenkampf unseres Volkes erlaubt das nicht. Bedankt euch dafür bei den Amis und Tommies. Bis die neuen Wunderwaffen zum Einsatz kommen, muß Großdeutschland auch noch den letzten Mann aufbieten.« Er mustert die wütenden, abweisenden Gesichter, die von dekorierten Soldaten, die sich nichts mehr vormachen lassen und nichts mehr fürchten, am wenigsten einen Drückeberger.

    Die Artillerie schießt wieder. Zwischen den wummernden Einschlägen hört man das Brummen der Tiefflieger, näher, dann wieder ferner. Es ist Zeit, das Palaver zu beenden, aber irgendwie genießt der Sanitätshauptfeldwebel, daß ein solcher Sauhaufen auf sein Kommando hören und vor ihm strammstehen muß. Vielleicht kommt er sich in diesem Moment vor wie ein Eunuch, der alle Puppen tanzen läßt. Auf jeden Fall fehlt ihm die Erfahrung und der Instinkt der vor ihm stehenden Frontsoldaten, denn als die auseinanderspritzen und Deckung suchen, verliert der Spieß ein, zwei entscheidende Sekunden.

    Die Bordkanonen einer doppelrümpfigen ›Lightening‹ erwischen ihn bereits mit dem ersten Feuerstoß. Die Zwei-Zentimeter-Geschosse zerfetzen den Hauptfeldwebel bei seinem versehentlichen Heldentod bis zur Unkenntlichkeit.

    Und Dr. Schlamm, der Heldenklau mit der gepflegten Bonhomie, wird auch keine neununddreißig Patienten mehr an den Frontabschnitt Remagen abkommandieren, denn fünf, die nicht mehr rechtzeitig die schützenden Mauern erreichten, wurden getroffen, unter ihnen Redde, das Stubenferkel. Er liegt auf dem Rücken und preßt mit den Händen die herausquellenden Gedärme in seinen aufgerissenen Leib. Der Gefreite ist voll bei Bewußtsein: Er scheint keinen Schmerz zu spüren, denn er macht, als sich ein junger Feldunterarzt über ihn beugt, ein geradezu glückliches Gesicht.

    »Auf den braucht ihr nicht neidisch zu sein«, sagt der Mediziner, als sie außer Hörweite des Schwerstverwundeten sind. »Der kratzt unter Garantie spätestens heute nacht ab.«

    »Redde sich, wer kann«, erwidert Raschke.

    »Ausgevögelt«, spricht Adamsky ein ordinäres Requiem. Zu mehr bleibt keine Zeit. Der Lastwagen mit dem Holzverr gaser, der sie an die neue Hauptkampflinie schaffen soll, ist schon eingetroffen. Sie rollen nach Süden, zunächst am linken Rheinufer entlang, durch eine wunderschöne Landschaft, eingehüllt in den Pesthauch der Vernichtung. Wenn sie von der Anhöhe der Weinberge aus in das Gelände starren, ist ein Bombentrichter neben dem anderen, als trüge die Erde eine Gänsehaut.

    Schwere Bomberpulks überfliegen auf Südostkurs den Rhein; von ›Mustangs‹ geleitet, begegnen sie rückkehrenden Formationen. Kein deutsches Flugzeug ist zu sehen, dafür aber alliierte Verbände in drei Höhen gestaffelt. Am Himmel herrscht Platznot, als wollten die Amerikaner demonstrieren, daß sie allein im Jahr 1944 mit rund hunderttausend Kriegsflugzeugen von ihrer Rüstungsindustrie beliefert wurden.

    Jabo-Angriff. Die Verwundeten hechten vom Lastwagen, hoffnungslos, aber die Tiefflieger entdecken jetzt einen Güterzug und visieren nun dieses Ziel an. Der Transport entkommt mit drei Toten und fünf Verletzten. Der Oberfeldwebel, der ihn führt, entschließt sich, die kurze Fahrt erst im Schutz der Dunkelheit fortzusetzen. Er versteckt den schweren Holzvergaser bis dahin in einer Feldscheune.

    »Mensch, Junge«, sagt der Prophet. »Wer hätte gedacht, daß es einmal soweit kommt.«

    »Was ist eigentlich aus dem Westwall geworden?« fragt Raschke mit rasselndem Atem.

    »Mäusenester«, erwidert Adamsky. »Hoffnungslos veraltet, und dann nicht einmal genügend Besatzung für die Bunker.«

    »Aber die meisten stehen doch noch«, sagt Wamsler.

    »Fragt sich nur, wie lange«, keucht Raschke.

    »Aber jetzt, am Rhein, werden sie abgefangen.« Über Adamskys Gesicht läuft der Hohn wie Säure. »Und zwar von uns.«

    »Du machst dich ja«, sagt Wamsler.

    »Über den Rhein kommen sie nicht«, höhnt der verbitterte Pommer weiter, »sowenig wie sie über den Kanal oder über das Mittelmeer, über die Wolga, über den Dnjepr oder die Weichsel gekommen sind.«

    Erst spät nach Mitternacht erreicht der Transport aus Bonn – ein Oberfeldwebel und 27 Mann – Remagen.

    Der 7. März ist längst angebrochen. An die Männer der Genesungskompanie, bei der sie sich melden, werden Gewehre aus dem Ersten Weltkrieg und ein halber Verpflegungssatz ausgegeben. Die Verwundeten – die meisten nicht einmal Rekonvaleszenten – sollen die Sicherung der zweigleisigen Eisenbahnbrücke bei Remagen übernehmen und mit 27 Schuß pro Kopf den zu erwartenden Ansturm der mächtigsten Armee der Welt aufhalten.

    Zunächst einmal tut sich gar nichts. Sicher ist sicher, deshalb essen der Gefreite Wamsler und seine Kumpel die ganze Halbverpflegung schon zum Frühstück auf – Erfahrungswert. Von allen Seiten strömen Flüchtlinge, Zivilisten und Soldaten vom linken auf das rechte Rheinufer. Die Brücke ist so lange wie möglich offenzuhalten und dann zu sprengen. Vergeblich überlegt sich Florian Wamsler, was wohl Sepp, sein großer Bruder, Primus in jeder Lage, in dieser Situation machen würde.


    Die Kampfgruppe des Hauptmanns Sepp Wamsler hetzt wie eine Geistereinheit durch die breite Frontlücke zwischen Westpreußen und Niederschlesien in Richtung Berlin. Militärisch gesehen kaum mehr als ein Störfaktor, wird sie doch zur Lebensretterin für zahlreiche, zwischen den Fronten herumirrende Flüchtlingstrecks. Der 28jährige Ritterkreuzträger – groß, erschreckend hager, eingefallenes Gesicht mit stark hervortretenden Backenknochen – hatte nach vier Frontjahren und fünf Verwundungen

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