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Jenseits von Deutschland
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eBook286 Seiten3 Stunden

Jenseits von Deutschland

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Über dieses E-Book

Wir waren sechs junge Männer [ ] sechs Männer, die sogar voller Hoffnung in den Krieg zogen. Was ist nur aus uns geworden?
Der Afghanistan-Krieg bildet in George Tenners Roman den Schauplatz für junge, deutsche Soldaten, die im Auftrag ihres Heimatlandes ausziehen, um Hilfe beim Aufbau eines verwüsteten Staates zu leisten und die unweigerlich durch die vorherrschende Brutalität im Kampf gegen die aufständischen Taliban ihren Idealismus verlieren. In episodenhaften Auszügen, versetzt mit den realen und als offiziell geltenden Ereignissen aus diesem Krieg, beschreibt der Autor das Bemühen seiner Protagonisten, sich fern der Heimat am Hindukusch in einer feindlichen Umgebung zurechtzufinden. Sie bestreiten dabei nicht nur einen Kampf um das eigene nackte Überleben, sondern befinden sich dabei auch auf der Suche nach einer moralischen Rechtfertigung des Einsatzes. Neben den Gefallenen kehren die Verbliebenen, seelisch und körperlich schwer verletzt, zurück in ein Heimatland, das sich zu Großteilen gegen seine Teilnahme am Einsatz der ISAF ausspricht, und finden dort keine Möglichkeit mehr, sich in ein normales Leben wiedereinzugliedern.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum25. Apr. 2021
ISBN9783754112793
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    Buchvorschau

    Jenseits von Deutschland - George Tenner

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in Der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    Copyright © 2020 George Tenner

    Bernau

    Tel.: 03338-9090917

    Handy: 0157 844 951 28

    E-Mail: gtenner@t-online.de

    Homepage: www.george-tenner.de

    Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/George_Tenner

    WWW. Facebook. COM/planetusedom 

    Titelbildnachweis Foto: pahe / photocase.com

    Covergestaltung: VecroDesign, Unna

    http://www.vercopremadebookcover.de

    Herstellung: Epubli

    George Tenner

    Jenseits von Deutschland

    Dieser Anti-Kriegsroman gewährt im Stil von Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues« einen Einblick in das Seelenleben von Soldaten, die an einem bewaffneten Auslandseinsatz teilnehmen. George Tenner gelingt es, für sich und den Leser die Frage eindeutig zu beantworten, ob es sich bei Deutschlands Bemühen im Zuge des ISAF-Einsatzes, der eine Sicherheits- und Aufbaumission sein sollte, um einen Krieg handelt oder nicht. Herausgekommen ist ein ergreifendes Plädoyer für den Pazifismus und eine mitunter erschütternde Anklage an die Politik.

    Prolog

    2006

    Der Anruf erreichte Christoph Senz kurz vor 21:00 Uhr. Er hatte sich gerade hingelegt, würde noch ein wenig in eine Verfilmung eines Simmel-Romans sehen, bevor er das Licht löschte. Mitten in der Nacht, gegen 2:00 Uhr würde ihn der Wecker wieder hochscheuchen. Nicht, dass er seine Arbeit in der Bäckerei sonderlich liebte. Es war ein Knochenjob, der einem alles abverlangte. Ein schrilles Klingeln schreckte ihn hoch. Er brauchte einige Sekunden, bis er feststellte, dass es nicht der Wecker, sondern das Telefon war.

    »Adam hier, Christoph …«

    Adam Silarski. Christoph Senz hatte seit seiner plötzlichen Abreise aus der Beelitzer Hans-Joachim-von-Zieten-Kaserne nichts mehr von Silarski und den anderen Kumpels gehört. Seine Gedanken drehten sich in Sekunden. Er hatte versucht, die Jungs einschließlich aller unangenehmen Begebenheiten, die ihm in der verhassten Kaserne widerfahren waren, zu verdrängen. Zuerst hatte er im Schlaf von ihnen geträumt, war mehrfach schweißgebadet hochgefahren. Aber das flachte mit der Zeit ab, Gott sei Dank. Silarski war der knochige Typ, der über die Tatsache, dass Christoph unter Depressionen litt, lästerte, der ihm riet, bei der Vorstellung beim Militär-Psychiater zu behaupten, homophil zu sein, um ausgemustert zu werden.

    »Adam … Adam Silarski?«, fragte Senz stockend.

    »Da staunst du, was?«

    »Wo bist du? In Dresden?«

    Silarski lachte auf. »Mazar-e Sharif trifft es eher! Hörst du?«

    Christoph Senz hörte im Hintergrund eine jaulende Stimme. »Was ist das für ein Geräusch?«

    »Der Ruf des Muezzins vom Minarett der Blauen Moschee.«

    »Und da rufst du mich an? Was ist passiert? Hast du beim Wecken den Mülleimer wieder laut polternd durch den Korridor geworfen?« Es sollte sarkastisch klingen. Senz verpasste aber den notwendigen ironischen Unterton. Stattdessen klang es eher kläglich in den Ohren des rund 4.500 Kilometer entfernten Adam Silarski.

    »Ich wollte dir nur sagen, einer unserer gemeinsamen Kameraden aus Beelitz ist tot. Er wird, zusammen mit einem gefallenen Kameraden der Fallschirmspringer, in den nächsten Tagen nach Deutschland überführt werden. Vielleicht möchtest du sie bei der Ankunft begrüßen.«

    Es war, als hätte Senz der Schlag getroffen. War es ihm gelungen, dieses Damoklesschwert stets drohender Gefahr auf seinen Leib, seine Psyche und sein Leben aus seinem Bewusstsein zu verdrängen, jetzt hatte es ihn wie mit einem Paukenschlag eingeholt.

    »Du solltest damit keinen Scherz treiben, Adam. Woher hast du überhaupt meine Telefonnummer?«

    »Jerôme hat sie mir gegeben. Er hat gesagt, ich solle dich verständigen, falls ihm etwas passiere.«

    Jerôme Mohrs Gesicht tauchte in seinen Gedanken vor ihm auf, ein feiner Kerl, den sie anfänglich etwas abschätzend »den Jidd« nannten, obwohl ihm seine jüdische Herkunft nicht anzusehen war. Nicht mal beschnitten war er, wie bei gläubigen Juden üblich. Nur das Formular mit dem Namen seines Vaters hatte ihn verraten. Samuel Mohr. Wer in Gottes Namen hieß heute in Deutschland noch Samuel? Und dann hatte dieser Jidd erzählt, was seiner Familie im Namen des deutschen Volkes angetan wurde. Erst als er Kostproben der herrlichen Leckereien verteilte, die er aus der Schokoladenmanufaktur herumreichte, die sein Großvater Israel Mohr 1886 in Leipzig gegründet hatte, war es den Jungen egal, ob Jerôme jüdische Wurzeln hatte.

    »Jerôme? Was ist ihm passiert?«

    »Der Hubschrauber, der eine Gruppe von Kunduz nach Baghlan fliegen sollte, ist abgeschmiert. Alle sieben Insassen sind tot. Auch Jerôme.«

    »Mein Gott!«, entfuhr es Senz. »Mein Gott!«

    »Welcher? Der der Christen?«, fragte Adam Silarski spöttisch. »Jahwe, der Gott der Juden, oder vielleicht Allah? Welcher ist für diese Scheiße verantwortlich? Sag es mir!«

    »Ich weiß es nicht, Adam. Es wird jener Gott sein, der sich immer hinter einer Wolke versteckt, wenn irgendjemand Hilfe benötigt.«

    »Ist es doch angeblich ein Gott, der für alle gleichermaßen da sein sollte … Die Bundeswehr geht derweil weiter von einem technischen Problem im Getriebe des Hauptrotors des CH 53GS als Absturzursache aus. Zwischen Baghlan und Kunduz wurden die Wrackteile des Helikopters eingesammelt und für den Rücktransport vorbereitet.«

    »Wo kommt denn das Flugzeug an, das Jerôme zurückbringt?«

    »Das ist noch nicht sicher. Eine meiner Quellen sagt, es würde auf dem Flughafen Köln/Bonn landen. Dort gibt es ein Bundeswehrgelände mit Hallen, die man auch für die Trauerfeier von toten Soldaten nutzt. Ein anderer vermutete etwas ganz anderes. Derzeit landen offenbar immer mittwochs in Leipzig/Halle Flugzeuge der Bundeswehr, die aus Afghanistan kommen. Soldaten kehren zurück, Ausrüstung wird ab- und aufgeladen. Dafür nutzt die Bundeswehr auch eine eigens dafür angemietete Halle. Ich werde mich bemühen und dir schnellstens Bescheid sagen, wo die traurige Fracht hingeht.«

    »Ja, tu das, Adam. Und … danke, dass du mich angerufen hast.«

    »Es war Jerômes Wunsch.«

    »Nochmals danke.«

    Ich hätte Adam nach der Möglichkeit fragen sollen, ihn zu erreichen, dachte Christoph Senz, nachdem er aufgelegt hatte.

    Jerôme tot? Der Psychiater in Leipzig war ein weiser Mann gewesen. Nur ein weiser Mann war in der Lage zu erkennen, in welchem Zustand ich mich befand. Wäre ich nicht ausgemustert worden, hätte die Möglichkeit bestanden, in diesem lausigen Hubschrauber mit den anderen Kameraden unterzugehen.

    Er dachte an seine Großeltern. Sein Großvater, der als Chefarzt in einer Klinik gearbeitet hatte, die zu Zeiten der glorreichen DDR einem Bergbau in der Lausitz angeschlossen war, hatte ihn wie einen leiblichen Sohn aufgezogen, nachdem sich seine Mutter von seinem Erzeuger nach nur zweijähriger Gemeinsamkeit trennte.

    Es heißt oft, wer eine solche Familie hat, braucht keine Feinde. Bei ihm war das anders. Die Familie war es, die ihn immer wieder auffing, wenn etwas schief lief. Und schief lief bei ihm dauernd etwas. Irgendwann hatte selbst sein ihm wirklich bisher alles verzeihender Großvater erkannt, dass da etwas zwischen Faulheit und mangelndem Selbstbewusstsein angesiedelt war, das seinen Enkel in immer ausweglosere Situationen brachte. Als Kardiologe konnte er sich anfangs keinen Reim darauf machen. Später vermutete er aber, dass Christoph unter psychischen Störungen litt. Und die Einschätzung von Christophs Onkel, der eine große Landpraxis für Allgemeinmedizin in Mecklenburg-Vorpommern betrieb, würde ihn später dazu bringen, sich in eine psychiatrische Behandlung zu begeben, die ihn weitgehend wieder auf die Reihe bringen würde. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg.

    Dann kam ihm seine Mutter in den Sinn. Als Kind hatte er sie geradezu abgöttisch geliebt. Sie war ihm Mutter und Vater zugleich. Alles, was er besaß, hatte sie ihm geschenkt, vor allem aber Liebe. Wie, so fragte er sich, hätte sie reagiert, wenn Adam Silarski ihr seinen Tod hätte vermelden müssen?

    *

    Am Tag darauf meldete sich Silarski noch einmal. »Die gefallenen Kameraden, die nach Deutschland überführt werden sollen, stammen aus Thüringen, Brandenburg und, wie Jerôme, aus Sachsen. Neben der US-Armee nutzt auch die Bundeswehr den Flughafen Leipzig/Halle als Drehkreuz für regelmäßige Militärtransporte. Es gibt in Leipzig eine Aktionsgemeinschaft Flughafen – NATO-frei. Ruf dort an und frage, ob man weiß, dass diese Maschine in Leipzig abgefertigt wird.«

    Silarski nannte ihm noch eine Telefonnummer, die Christoph Senz schnell notierte. Dann brach die Verbindung ab. Nur das Rauschen aus dem unendlichen Weltraum war noch vernehmbar.

    Senz wählte die Leipziger Nummer.

    »Aktionsgemeinschaft Flughafen – NATO-frei, guten Tag. Was können wir für Sie tun?«

    Christoph Senz schilderte den Fall der Rückführung seiner toten Kameraden aus Afghanistan und den Verdacht, dass die Särge möglicherweise in Leipzig ausgeladen werden könnten.

    »Wir beobachten diese Flüge bereits seit Jahren. Jeden Mittwoch gegen 19:00 Uhr landet ein Airbus der Luftwaffe mit Soldaten an Bord, die in Afghanistan im Einsatz waren. Meist folgt auch eine Transall-Maschine, die offenbar zum Transport von Ausrüstung genutzt wird. Da wir keine Auskunftszeiten von offizieller Seite bekommen, haben wir die Presse eingeschaltet. Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums bestätigte diese Flüge. Es hieß, sie dienten überwiegend dem Transport von Material und Soldaten sowie der Ausbildung von Flugzeug-Crews. Mehr war nicht zu erfahren. Aber uns reicht das schon, um dagegen zu protestieren.«

    »Proteste?« Christoph Senz lachte heiser auf. »Bringt denn das überhaupt etwas?«

    »Na ja, wir haben prominente Unterstützer. Der Luftfahrtrechtler Giemulla wertete in einem Bericht die auf Dauer ausgerichtete militärische Nutzung als eklatanten Verstoß gegen bestehendes Recht, wonach nur einzelne militärische Flüge möglich seien.«

    »Aber die Flüge gehen weiter, oder?«

    »Der FDP-Wirtschaftsminister sagte gegenüber dem Magazin, er habe keine Bedenken gegen die Praxis der Bundeswehr.«

    »Wissen Sie etwas darüber, ob die Maschine mit den Kameraden in Leipzig ankommt?«, unterbrach Senz den Redefluss des Mannes.

    »Nein. Das wissen wir nicht. Jedenfalls noch nicht. Ich könnte Sie aber verständigen, wenn wir eine solche Information bekommen.«   

    1. Kapitel

    Jerôme

    Die Gebäude der Hans-Joachim-von-Zieten-Kaserne lagen im kleinen Brandenburger Ort Beelitz und waren, wie alle Kasernen dieser Welt, mittels eines ausgeklügelten Zaunsystems von der Außenwelt abgeschottet. Zumal in dieser waldreichen Gegend, in der ein Mensch in den angrenzenden Gehölzen mühelos verschwinden konnte, wenn er es darauf anlegte, sich unbemerkt von der Truppe zu entfernen.

    War bei den Rekruten der Name Beelitz unverbrüchlich mit dem Platz ihrer militärischen Ausbildung oder der Tätigkeit als fertiger Rekrut beim Logistikbataillon 172 verbunden, so gab es eine weitere Institution, die über die Grenzen hinaus bei vielen Menschen in unterschiedlichster Erinnerung verblieben ist: die legendären Heilstätten Beelitz; in segensreicher bei denen, die innerhalb der Lungen-Heilstätten eine Genesung so weit erfahren hatten, dass sie am Leben blieben – in schlimmer bei jenen, die in der ebenfalls dort beheimateten neurologischen Abteilung der Heilstätten zu DDR-Zeiten von willigen Werkzeugen des Regimes gegen ihren Willen dauerhaft sediert wurden, dass man sie mühelos über Monate ruhiggestellt und für psychisch krank erklären konnte.

    Das dritte und jährlich immer wiederkehrende Andenken an den Ort war das an den bekannten Beelitzer Spargel, der freilich mit einer der besten Qualitäten auf dem deutschen Markt aufwarten konnte. Diese Erinnerung war allerdings die unbestritten angenehmste.

    Jerôme Mohr war einen Tag früher angereist, hatte sich den kleinen Ort angesehen, die Heilstätten und schließlich den Eingang der Kaserne in der Husarenallee. Bei der Abfahrt von der Autobahn waren sie an einer Werbetafel für das Landhotel Gustav vorbeigekommen, das nur wenige Meter von der Hauptstraße entfernt im Paracelsusring lag.

    »Hier wirst du die Nacht verbringen, Jerôme«, hatte der Vater versöhnlich gesagt. »Da kannst du dich ausschlafen und morgen in aller Ruhe in die Kaserne einrücken.«

    Es hatte Ärger gegeben, zu Hause in Leipzig. Samuel Mohr baute jahrelang seinen Sohn als seinen Nachfolger für die eigene Schokoladenmanufaktur auf. Was der Großvater Jerômes, Israel Mohr, 1892 begründet hatte, sollte weiterleben. Von Generation zu Generation. Freilich mit einer Unterbrechung von fast zwanzig Jahren, die unfreiwillig durch die Naziherrschaft herbeigeführt worden war und den Großvater 1944 in Auschwitz das Leben gekostet hatte. Dass Jerôme zum Wehrdienst eingezogen wurde, war eine unumgängliche Situation. Aber sich freiwillig für vier Jahre zu verpflichten und sich darüber hinaus zum Einsatz in Afghanistan zu melden, war für den Vater eine nicht zu verzeihende Ungeheuerlichkeit, die zu schmählichen Komplikationen innerhalb der Familie geführt hatte. Böse Worte waren auf beiden Seiten gefallen. Worte, die sie sicher beide schon bereuten. Doch weder Vater noch der Sohn waren in diesen Minuten bereit, den Streit zu begraben.

    Zu gern wäre Jerôme mit seinem eigenen Wagen, einem schwarzen Golf der neuesten Generation mit 140 PS, nach Beelitz gefahren. Aber er hatte nur einige Tage Urlaub bekommen, als man ihn vom Logistikbataillon 461 in Walldürn nach Beelitz in Marsch setzte. Ganze zwei Tage hatte man ihm gewährt und auch nur deshalb, weil das Logistikbataillon 172, dem man ihn auf eigenes Betreiben zugeteilt hatte, nach Mazar-e Sharif in Afghanistan verlegt werden würde. Deshalb hatte Jerôme Mohr auch entschieden, das Fahrzeug zu Hause in Leipzig in der Garage zu belassen. Zu leicht wäre der Wagen ein Opfer möglicher Randalierer geworden, wenn er mehrere Monate unbeaufsichtigt auf dem Parkplatz der Kaserne gestanden hätte.

    Als der Vater wieder in Richtung Leipzig abgefahren war, lieh sich Jerôme im Hotel ein Fahrrad aus, um damit die Stadt zu erkunden. Vorbei ging es an den Heilstätten und der Husarenallee. Die in grau-grüner Tarnfarbe gespritzten Lastkraftwagen, die aus der Kaserne fuhren, zogen für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit an. Sie sahen nicht anders aus als die Wagen der Nibelungen-Kaserne in Walldürn. Die jungen Gesichter in den Führerhäusern nahmen sich auch nicht abweichend aus. Rekruten hatten Einheitsgesichter, die zwischen aufgeblähtem Selbstbewusstsein und Angst angesiedelt waren. Nur wer von den Jungen wie Jerôme in Zivil unterwegs war, konnte den Kasernenmief ablegen und verströmte möglicherweise wissbegierige, gespannte Neugier.

    Er verspürte Hunger. Zeit für eine Mahlzeit, dachte er, als er aus der Berliner Straße in die Mauerstraße einbog. Es ist eine Ringstraße, die um den Innenstadtkern führt, einbahnig mit einem Kirchlein aus Backstein und weißem Turm. An der Kreuzung Mauerstraße zur Treuenbrietzener lag die Gaststätte Zur Alten Brauerei in einem historischen Gebäude. Jerôme stellte das Fahrrad ab, schloss es an und betrat die Gaststube.

    Schwere Eichenhölzer unbestimmbaren Alters stützten die Decken.

    Obwohl es erst früher Nachmittag war, hatte die Wirtschaft einigen Zuspruch. Am Stammtisch saßen eine Handvoll ältere Herren, die sich ungeniert über die Veränderungen der tausendjährigen Stadt unterhielten, die der Ort erfuhr. Es waren Einheimische meist und Patienten der Heilstätten, die ihren Ausgang wahrnahmen, indem sie für eine Zeit in das Leben außerhalb des Krankenhauses eintauchten.

    Deutlich war herauszuhören, dass nicht einhellig die Meinung vertreten wurde, dass die Einheit Deutschlands, die 1989 überraschend über sie hereingebrochen war, einen Segen für die hier verwurzelten Menschen darstellte. Während die Erneuerung und Restaurierung historischer, mittelalterlicher Gebäude gelobt wurde, schalt man die Heuschrecken, die auch hier bemüht waren, Fuß zu fassen und den Einheimischen das Wasser abzugraben.

    An einem der hinteren Tische saßen sechs junge Männer, vier davon in Uniform, zwei in Zivil.

    Jerôme nahm an einem der unbesetzten runden Tische Platz. Er bestellte ein Schweinefilet mit Spargel und ein in eigener Produktion des Hauses gebrautes Bier. Während des Essens war er bemüht, Wortfetzen von dem Tisch aufzufangen, an dem die Rekruten saßen. Offensichtlich schmeckte den jungen Männern das heimische Bier, und so war nach kurzer Zeit der Anstieg des Lärmpegels nicht zu überhören. Und auch hier gab es eine heftige Diskussion. Diesmal war es ein Pro und Contra über den Afghanistaneinsatz.

    »Wir werden es diesen mittelalterlichen Banausen schon zeigen«, ließ sich einer der Männer großmäulig vernehmen. Ein anderer gab kleinlaut zu bedenken, dass schon mehr als dreißig deutsche Soldaten am Hindukusch gefallen waren.

    »Wir stehen im Norden, nicht im Nordosten, und da ist es relativ friedlich.«

    »An diesem Land haben sich schon Großmächte die Zähne ausgebissen, die Engländer, zuletzt die Russen und jetzt die Amerikaner. Und wisst ihr was? Die Europäer sind dumm genug, da mitzumarschieren! Wir marschieren in den Untergang!«

    »Halt’s Maul, Eddie!«

    »Recht hat er«, sagte einer der beiden Männer in Zivil.

    »Ein Lied! Auf der schwäb’schen Eisenbahn, erste Strophe!«

    Die Kellnerin kam an Jerômes Tisch. »Schmeckt es Ihnen?«

    Sie ist eine hübsche Person, dachte Jerôme, jung, schlank und wirklich gut aussehend. Er dachte an seine eigene Freundin Rachel, die mit ihm Schluss gemacht hatte, weil sie nicht bereit war, sein freiwilliges Engagement innerhalb der Armee mitzutragen. Sie war eine Verwandte des Leipziger Kantors der liberalen Gemeinde, hielt sich schon aus diesem Grund für etwas Besseres. Es hatte ihn schon eine ganze Weile gestört, dass sie war, wie sie war, von sich und ihrer Ausstrahlung mehr als eingenommen. Die Tatsache, dass die Männer hinter ihr her waren wie die Motten um das Licht, überzeugte ihn, dass sie sich bald einer anderen, vielleicht lohnenderen Partie zuwenden würde. Und was Jerôme weiterhin bedrückte, war, dass sie nahezu gleichaltrig waren. Auf Dauer, dachte er, würde die Gesamtkonstellation zwischen Rachel und ihm ohnehin nicht gut gehen können.

    »Jeder hat nur ein Leben«, hatte Rachel gesagt. »Noch bin ich jung genug, habe genügend Chancen und werde nicht versauern, während du den Kriegshelden spielst.«

    Umsonst hatte er ihr nahegelegt, dass das heutige Deutschland auch auf seine Bürger jüdischen Glaubens zählen müsse. Gerade bei der Landesverteidigung. An diesem Tag ging ihre Beziehung zu Ende, und Jerôme entwickelte einen regelrechten Widerwillen gegen sie.

    »Aus einer noch so schönen Schüssel kann man nichts essen, wenn nichts drinnen ist«, hatte seine Mutter mit Hinweis auf Rachel warnend gesagt.

    Rachel war gegangen, und sein eigener Vater hätte fast mit ihm gebrochen. Nun, so weit war es zum Glück nicht gekommen. Viel hatte allerdings nicht gefehlt. Vielleicht war es die Hoffnung, dass Jerôme nach seiner Rückkehr aus dem Kriegsgebiet doch noch für die Übernahme des Traditionsunternehmens zur Verfügung stehen würde, spätestens aber nach den vier Jahren, die sich der Sohn zum Dienst an der Waffe verpflichtet hatte.

    »Schmeckt es Ihnen?«, wiederholte die junge Frau ihre Frage.

    Jerôme schluckte den letzten Bissen herunter. »Danke, ausgezeichnet. Sie können mir bitte einen Espresso bringen und dann die Rechnung. Sie haben doch Espresso?«

    »Ja, natürlich. Einen Espresso und die Rechnung. Gerne doch.«

    Er sah der Frau nach, als diese zum Tresen ging und telefonierte.

    Am Tisch der Rekruten war für kurze Zeit Ruhe eingekehrt. Man diskutierte jetzt leise. Dann kam laut die Aufforderung: »Jetzt Strophe zwo – mit der schwäb’schen Eisenbahn … zwei, drei …«

    »Mit der schwäb’schen Eisenbahn fahr’n wir nach Afghanistan, ich leg schon den Turban an, auf geht’s zu den Taliban!«, grölten die Männer. Nur jener Eddie und einer der Zivilisten schienen den Text vergessen zu haben, stellte Jerôme fest, der die Szene interessiert beobachtete.

    Die Kellnerin brachte den Espresso. Sie bemerkte, wie gespannt Jerôme zu der Truppe am hinteren Tisch schaute.

    »Es ist immer das Gleiche«, sagte sie. »Sie kommen friedlich herein, fangen an zu diskutieren und trinken mehr, als ihnen bekömmlich ist. Schließlich wird es so laut, dass sich die anderen Gäste beschweren und wir in der Kaserne anrufen müssen, bevor hier eine Schlägerei vom Zaun gebrochen wird. Wenn wir nicht aufpassen, geht die Einrichtung zu Bruch, und das können wir uns nicht leisten. Sind Sie auch einer von denen?«

    Jerôme schaute auf die Rechnung. 17,50 Euro für das Schweinefilet mit Spargel schienen ihm nicht gerade billig. Es war eine gute Portion gewesen, der Spargel sauber geschält, sodass er butterweich im Mund zerging. So gesehen war das Essen diesen Preis wert. Nur den Espresso, von dem er nun einen kleinen Schluck nahm, hätte er sich heißer gewünscht. Alles Gute war nicht immer beisammen. »Ich rücke morgen ein.«

    Der Leutnant kam in Begleitung eines Hauptfeldwebels

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