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Theater der Dinge: Puppen-, Figuren- und Objekttheater
Theater der Dinge: Puppen-, Figuren- und Objekttheater
Theater der Dinge: Puppen-, Figuren- und Objekttheater
eBook506 Seiten5 Stunden

Theater der Dinge: Puppen-, Figuren- und Objekttheater

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Über dieses E-Book

"Lektionen 7 Theater der Dinge" gibt einen umfassenden Überblick über die Ausbildung für das Puppen-, Figuren- und Objekttheater. In einer historischen Einführung wird gezeigt, wie in der Geschichte des Theaters vom Ritual bis in die Gegenwart das "Ding auf der Bühne" zum Protagonisten wurde. Im zweiten Teil werden die Grundlagen der Ausbildung beschrieben – vom Animieren, Sprechen, Spielen, Bauen und Führen bis hin zum Netzwerken für einen gelingenden Einstieg in den Beruf. Ein Serviceteil mit den Ausbildungsstätten für das Puppen-, Figuren- und Objekttheater schließt den Band ab.

Ein unentbehrliches Handbuch für alle, die mehr darüber wissen wollen, wie die Dinge Theater spielen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Dez. 2016
ISBN9783957491077
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    Buchvorschau

    Theater der Dinge - Verlag Theater der Zeit

    a.a.O.

    I.

    Theater der Dinge Eine Geschichte

    MAGIE, RITUALE, MASKEN – DAS THEATER DER DINGE IM ANTIKEN GRIECHENLAND

    „Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen neben einander her, zumeist im offnen Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren, den das gemeinsame Wort ‚Kunst‘ nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ‚Willens‘, mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen."

    Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

    Das Theater im antiken Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. steht zweifellos am Beginn einer beschreibbaren Theatergeschichte Europas. Allerdings ist schon solch ein rasch hingeschriebener Satz eine tollkühne Behauptung, berührt die Aussage in diesem Satz doch die zentrale Frage nach den Ursprüngen von Theater und die noch schwieriger zu beantwortende Frage: Was ist eigentlich Theater? Ab welcher Erscheinung eines Spiels, einer Darstellung sprechen wir heute eigentlich von „Theater? In der attischen Polis werden vor rund 2500 Jahren die seit Urzeiten vorhandenen und praktizierten theatralen Handlungen von Menschen zum ersten Mal belegbar und nachhaltig institutionell gerahmt; das Theater beginnt, sich aus dem rein kultisch-religiösen Bereich und dessen Zweckgebundenheit zu lösen. Ob man allerdings geneigt ist, an diesem Punkt der Entwicklung schon in den aufklärerischen Optimismus Bertolt Brechts einzustimmen, der hier den Sprung aus dem kultischen Bereich heraus in ein Theater vollzogen sieht, dessen Ziel er fortan als Unterhaltung definiert, soll an dieser Stelle nicht umfassend diskutiert werden. Einerseits führen die klare Trennung zwischen Spielenden und Zuschauer, die staatliche Organisation der Aufführungen, die Arbeitsteilung der künstlerisch Produzierenden und der Festcharakter in der Summe mit einiger Sicherheit zu einer neuen Stufe kultureller Kommunikation, zu Theater in seiner institutionalisierten Variante. Öffentlich, zentral und inmitten der Polis werden Fragen gestellt und behandelt, welche die Polis, ihre Verfasstheit und das Leben ihrer Bewohner direkt betreffen. Um es mit dem Romantiker Novalis zu sagen: „Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst. Auf der anderen Seite kann die religiös-kultische Anbindung und Einbindung der Aufführungen attischer Tragödien nicht übersehen werden. Von der Opferung zu Beginn der Feste, der zentralen Rolle des die Götter anrufenden Chores bis zu den verhandelten Stoffen: Das alles nimmt sich als eindeutiger Referenzpunkt in den Aufführungen aus. Aber, und das interessiert uns hier, welche Rolle spielen die Dinge in diesem Transfer aus dem kultischen Denken?

    Lange vor diesem ersten Aufscheinen einer theatralen Hochkultur im 5. Jahrhundert v. Chr., von deren Setzungen und Maximen das Theater bis in unsere Gegenwart zehrt, in deren dramatischen Texten wir uns immer noch glauben gespiegelt zu sehen, finden wir bereits Formen theatraler Handlungen der Menschen, die z. B. die attische Tragödie aufnimmt, nutzt, und: auch bändigt. Und wir finden irritierende Gemeinsamkeiten – und wieder die Spur dessen, was wir hier das Theater der Dinge nennen.

    Die bei vielen „Naturvölkern" nachweisbaren Rituale der Opferung etwa haben einen klaren (rituellen) Ablauf, in dem Requisiten, Kostüme und Masken verwendet werden. Gegenstände können beschworen, an Gegenständen können Handlungen vorgenommen werden, die einem Toten oder nicht anwesenden Menschen, Geist, Gott gelten. Ein Ding kann für etwas anderes stehen – das theatrale Prinzip des als ob wird hier bereits sichtbar. Die Ahnen werden durch Dinge personifiziert oder durch deren besondere Behandlung stellvertretend zu Bindegliedern zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit oder Zukunft erfahren. Verwandlung, Ekstase, Rauschzustände werden angestrebt und genutzt, um in existenziellen Situationen Auskunft zu erhalten über den Willen der Götter, den Zeitpunkt der Ernte oder das Ende der Trockenzeit. Kern dieser Vorstellungen oder die Bedingung für dieses Denksystem ist der Animismus, der Glaube an die Beseeltheit auch der Dingwelt. Wie sonst sollte man etwa an einer Puppe aus Stroh eine Handlung ausführen können, die einem dadurch fortan aus der Gemeinschaft ausgestoßenen Straftäter gilt? Zum Vorstellungs- und Denksystem des Animismus gibt ein Auszug aus Totem und Tabu von Sigmund Freud Auskunft. (Quelle 1)

    Diese beiden Axiome – die religiöse Referenz und die die theatrale Kommunikation erst konstituierende Rolle von Dingen (die Maske) – gehen in die Erscheinung der attischen Tragödie ein. Ersteres manifestiert sich in der Gebundenheit der Aufführungen an den Mythos, Letzteres durch das Bindeglied der Maske. Diese konstituiert die griechische Aufführungspraxis in einer Form von Theater, welche zwar mit Menschen über den Menschen reflektiert (Novalis), aber die Götter zum Bezugspunkt hat – und diese sind nur mit Masken darstellbar, welche Richard Weihe beschreibt. (Quelle 2)

    Der zentrale Ort, die Keimzelle des Theaters, der kreisrunde Platz der Orchestra, wird auch von den Mitgliedern des Chores nur maskiert singend, tanzend (und betend!) betreten, zentrales Requisit und Referenzpunkt der Handlung ist häufig ein Altar. Dies alles generiert eine Form der Darstellung, die keine Form von Realismus anstrebt, die deutlich auf etwas anderes, nicht in der Realität Vorhandenes verweist. „Zeus, wer immer du auch bist …", heißt es uns fast ironisch anmutend im berühmten ersten Standlied des Chors in der Orestie des Aischylos. Das Spiel vergegenwärtigt etwas außerhalb Stehendes – und stellt dabei konsequenterweise nicht den Menschen als Spieler in den Mittelpunkt. Das Theater in antiker Zeit verfremdet diesen Menschen und sein Tun mittels Masken, in späterer Zeit auch durch Kothurne (Schaftstiefel mit erhöhten Sohlen), durch das Metrum der verwendeten Sprache, durch Tanz und Gesang.

    Die großen Masken, in späterer Zeit noch kunstvoll ausgeschmückt, führen zu grotesken Verzerrungen des Spiels, die Gewänder haben weite, die Gesten optisch vergrößernde Ärmel. Aber auch in den Satyrspielen zeigen sich Überhöhungen des menschlichen Körpers; im derben, auch obszönen Spiel des Mimus etwa ist der allgegenwärtige aufgerichtete und grotesk vergrößerte Phallus zentrales Objekt und Zeichen. Dieses Spiel ist mit unserem gegenwärtigen Begriff des Schauspielens nur unzureichend zu fassen, der Mensch verkörpert nicht den Gott, er zeigt ihn, er verweist auf ihn. Ernst-Frieder Kratochwil spricht daher folgerichtig von Solisten, nicht von Schauspielern. (Quelle 3)

    Die Maske selbst scheint somit das Bindeglied zwischen einer animistisch konnotierten Kulthandlung und dem theatralen Spiel zu sein. Das Theater als Anlage selbst befindet sich im kultischen Bereich Athens, am Südhang der Akropolis. Die Aufführungen finden im Rahmen von Festen statt, die Dionysos, dem Maskengott, gewidmet sind. Der Kult dieses Halbgottes mit den ihn im Zustand der Ekstase umtanzenden Frauen, ein Kult der Verwandlung, des Rausches und der Ekstase, findet Eingang ins antike Theater, umgeformt und: gebändigt. Interessant für uns ist es – wenn wir das attische Theater als Wiege der europäischen Theaterentwicklung ansehen – auf Spielweisen des heutigen Theaters zu schauen: mit seiner Forderung nach einer vermeintlichen Authentizität der Darstellung, mit seiner Fokussierung allein auf den Menschen, der, der Maske, des Textes und jeglicher Verfremdung, ja der Kunstfigur entkleidet, auf sich und seine Körperlichkeit zurückgeworfen, nur noch als Experte seiner selbst auftritt.

    Ein anderer Berührungspunkt des Theaters der Griechen zu heutigen Formen des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters findet sich in einer Spezifik der Spielweise: Das attische Theater, das für seine Szenen noch keine Innenräume kennt, nutzt – vor allem bei der Darstellung von Extremsituationen des menschlichen Lebens und Leidens – das Prinzip des Zeigens durch Verbergen und ist damit dem heutigen Theater der Dinge in seiner wirkungsstrategischen Absicht verblüffend nahe. Der Vorgang der skandalösen Selbstblendung des König Ödipus wird uns wortgewaltig berichtet, nicht gezeigt. Medeas Mord an den eigenen Kindern erleben wir durch deren Hilferufe und die ahnungsvollen Repliken des Chores, wir sehen das Grauen aber nicht. Auch das Theater der Dinge setzt durch die Rahmung bewusst auf den Ausschnitt und den kofabulierenden Zuschauer, der das nicht zu Sehende durch seine Imagination ergänzt, ja punktuell geradezu erst durch diese entstehen lässt. Das alles verschlingende, aber nur akustisch suggerierte Monster wird in der Imagination des Zuschauers dadurch nur noch gewaltiger. Der nicht vorhandene Körper eines Kopfs an Fäden, der zu seinen Füßen spricht, wird in unserer Vorstellung komplettiert. Es mag ein kühner Vergleich sein, aber der Bericht von Kassandras und Agamemnons Tod im nicht zu sehenden Bad im ersten Teil der Orestie ist in seinem Skandalon dem dramatischen Klagen des Kaspers verwandt, der uns vom Krokodil berichtet, welches sich in sein – nicht sichtbares, da unterhalb der Spielleiste überhaupt nicht vorhandenes – Bein verbissen hat.

    In wichtigen Drehpunkten setzt das Spiel im antiken Theater genau wie unsere Darstellungskunst auf das Mittel des Epischen: Die Vorfälle werden berichtet, nicht dargestellt, und können so im Kopf des Zuschauers eine eigene Vorstellungswelt entfachen – die in ihrer Wirkung mitunter der Kraft einer trickreichen Darstellung voller Einfühlung und Schweiß weit überlegen ist …

    Jörg Lehmann

    Quelle 1

    Sigmund Freud

    Animismus, Magie und die Allmacht der Gedanken

    Animismus im engeren Sinne heißt die Lehre von den Seelenvorstellungen, im weiteren die von geistigen Wesen überhaupt. Man unterscheidet noch Animatismus, die Lehre von der Belebtheit der uns unbelebt erscheinenden Natur, und reiht hier den Animalismus und Manismus an. […]

    Was zur Aufstellung dieser Namen Anlaß gegeben hat, ist die Einsicht in die höchst merkwürdige Natur- und Weltauffassung der uns bekannten primitiven Völker, der historischen sowohl wie der jetzt noch lebenden. Diese bevölkern die Welt mit einer Unzahl von geistigen Wesen, die ihnen wohlwollend oder übelgesinnt sind; sie schreiben diesen Geistern und Dämonen die Verursachung der Naturvorgänge zu und halten nicht nur die Tiere und Pflanzen, sondern auch die unbelebten Dinge der Welt für durch sie belebt. Ein drittes und vielleicht wichtigstes Stück dieser primitiven „Naturphilosophie erscheint uns weit weniger auffällig, weil wir selbst noch nicht weit genug von ihm entfernt sind, während wir doch die Existenz der Geister sehr eingeschränkt haben und die Naturvorgänge heute durch die Annahme unpersönlicher physikalischer Kräfte erklären. Die Primitiven glauben nämlich an eine ähnliche „Beseelung auch der menschlichen Einzelwesen. Die menschlichen Personen enthalten Seelen, welche ihren Wohnsitz verlassen und in andere Menschen einwandern können; diese Seelen sind die Träger der geistigen Tätigkeiten und bis zu einem gewissen Grad von den „Leibern unabhängig. Ursprünglich wurden die Seelen als sehr ähnlich den Individuen vorgestellt, und erst im Laufe einer langen Entwicklung haben sie die Charaktere des Materiellen bis zu einem hohen Grad von „Vergeistigung abgestreift. […]

    Wie sind die primitiven Menschen zu den eigentümlich dualistischen Grundanschauungen gekommen, auf denen dieses animistische System ruht? Man meint, durch die Beobachtung der Phänomene des Schlafes (mit dem Traum) und des ihm so ähnlichen Todes und durch die Bemühung, sich diese jeden Einzelnen so nahe angehenden Zustände zu erklären. Vor allem müßte das Todesproblem der Ausgangspunkt der Theoriebildung geworden sein. Für den Primitiven wäre die Fortdauer des Lebens – die Unsterblichkeit – das Selbstverständliche. Die Vorstellung des Todes ist etwas spät und nur zögernd Rezipiertes, sie ist ja auch für uns noch inhaltsleer und unvollziehbar. Über den Anteil, den andere Beobachtungen und Erfahrungen an der Gestaltung der animistischen Grundlehren gehabt haben mögen, die über Traumbilder, Schatten, Spiegelbilder u. dgl., haben sehr lebhafte, zu keinem Abschluß gelangte Diskussionen stattgefunden. […]

    Der Animismus ist ein Denksystem, er gibt nicht nur die Erklärung eines einzelnen Phänomens, sondern gestattet es, das Ganze der Welt als einen einzigen Zusammenhang, aus einem Punkte zu begreifen. Die Menschheit hat, wenn wir den Autoren folgen wollen, drei solcher Denksysteme, drei große Weltanschauungen im Laufe der Zeiten hervorgebracht: die animistische (mythologische), die religiöse und die wissenschaftliche. Unter diesen ist die erstgeschaffene, die des Animismus, vielleicht die folgerichtigste und erschöpfendste, eine, die das Wesen der Welt restlos erklärt. […]

    Eine der verbreitetsten magischen Prozeduren, um einem Feind zu schaden, besteht darin, sich ein Ebenbild von ihm aus beliebigem Material zu machen. Auf die Ähnlichkeit kommt es dabei wenig an. Man kann auch irgendein Objekt zu seinem Bild „ernennen". Was man dann diesem Ebenbild antut, das stößt auch dem gehaßten Urbild zu; an welcher Körperstelle man das erstere verletzt, an derselben erkrankt das letztere. Man kann dieselbe magische Technik anstatt in den Dienst privater Feindseligkeit auch in den der Frömmigkeit stellen und so Göttern gegen böse Dämonen zu Hilfe kommen. Ich zitiere nach Frazer [James George Frazer: The magic art and the evolution of kings. Macmilian and Co., London 1920, Bd. 1 S. 67]: „Jede Nacht, wenn der Sonnengott Ra (im alten Ägypten) zu seinem Heim im glühenden Westen herabstieg, hatte er einen bitteren Kampf gegen eine Schar von Dämonen zu bestehen, die ihn unter der Führung des Erzfeindes Apepi überfielen. Er kämpfte mit ihnen die ganze Nacht, und häufig waren die Mächte der Finsternis stark genug, noch des Tags dunkle Wolken an den blauen Himmel zu senden, die seine Kraft schwächten und sein Licht abhielten. Um dem Gotte beizustehen, wurde in seinem Tempel zu Theben täglich folgende Zeremonie aufgeführt: Es wurde aus Wachs ein Bild seines Feindes Apepi gemacht, in der Gestalt eines scheußlichen Krokodils oder einer langgeringelten Schlange und der Name des Dämons mit grüner Tinte darauf geschrieben. In ein Papyrusgehäuse gehüllt, auf dem eine ähnliche Zeichnung angebracht war, wurde dann diese Figur mit schwarzem Haar umwickelt, vom Priester angespuckt, mit einem Steinmesser bearbeitet und auf den Boden geworfen. Dann trat er mit seinem linken Fuß auf sie, und endlich verbrannte er sie in einem von gewissen Pflanzen genährten Feuer. Nachdem Apepi in solcher Weise beseitigt worden war, geschah mit allen Dämonen seines Gefolges das nämliche. Dieser Gottesdienst, bei dem gewisse Reden hergesagt werden mußten, wurde nicht nur morgens, mittags und abends wiederholt, sondern auch jederzeit dazwischen, wenn ein Sturm wütete, wenn ein heftiger Regenguß niederging oder schwarze Wolken die Sonnenscheibe am Himmel verdeckten. Die bösen Feinde verspürten die Züchtigung, die ihren Bildern widerfahren war, als ob sie sie selbst erlitten hätten; sie flohen, und der Sonnengott triumphierte von neuem."

    […] Man erzeugt den Regen auf magischem Wege, indem man ihn imitiert, etwa auch noch die ihn erzeugenden Wolken oder den Sturm nachahmt. Es sieht aus, als ob man „regnen spielen" wollte. Die japanischen Ainos z. B. machen Regen in der Weise, daß ein Teil von ihnen Wasser aus großen Sieben ausgießt, während ein anderer eine große Schüssel mit Segel und Ruder ausstattet, als ob sie ein Schiff wäre, und sie so um Dorf und Gärten herumzieht. Die Fruchtbarkeit des Bodens sicherte man sich aber auf magische Weise, indem man ihm das Schauspiel eines menschlichen Geschlechtsverkehrs zeigte. So pflegen – ein Beispiel anstatt unendlich vieler – in manchen Teilen Javas zur Zeit des Herannahens der Reisblüte Bauer und Bäuerin sich nachts auf die Felder zu begeben, um durch das Beispiel, das sie ihm geben, den Reis zur Fruchtbarkeit anzuregen. Dagegen fürchtete man von verpönten inzestuösen Geschlechtsbeziehungen, daß sie Mißwuchs und Unfruchtbarkeit des Bodens erzeugen würden.

    Auch gewisse negative Vorschriften – magische Vorsichten also – sind dieser ersten Gruppe einzureihen. Wenn ein Teil der Bewohner eines Dayakdorfes auf Wildschweinjagd ausgezogen ist, so dürfen die Zurückgebliebenen unterdes weder Öl noch Wasser mit ihren Händen berühren, sonst würden die Jäger weiche Finger bekommen und die Beute aus ihren Händen schlüpfen lassen. Oder, wenn ein Gilyakjäger im Walde dem Wilde nachstellt, so ist es seinen Kindern zu Hause verboten, Zeichnungen auf Holz oder im Sand zu machen. Die Pfade im dichten Wald könnten sonst so verschlungen werden wie die Linien der Zeichnung, so daß der Jäger den Weg nach Hause nicht fände. […]

    Es unterliegt keinem Zweifel, was an all diesen Beispielen als das Wirksame betrachtet wird. Es ist die Ähnlichkeit zwischen der vollzogenen Handlung und dem erwarteten Geschehen. Frazer nennt darum diese Art der Magie imitative oder homöopathische. Wenn ich will, daß es regne, so brauche ich nur etwas zu tun, was wie Regen aussieht oder an Regen erinnert. In einer weiteren Phase der Kulturentwicklung wird man anstatt dieses magischen Regenzaubers Bittgänge zu einem Gotteshaus veranstalten und den dort wohnenden Heiligen um Regen anflehen. Endlich wird man auch diese religiöse Technik aufgeben und dafür versuchen, durch welche Einwirkungen auf die Atmosphäre Regen erzeugt werden kann.

    In einer anderen Gruppe von magischen Handlungen kommt das Prinzip der Ähnlichkeit nicht mehr in Betracht, dafür ein anderes, welches sich aus den nachstehenden Beispielen leicht ergeben wird.

    Um einem Feinde zu schaden, kann man sich auch eines anderen Verfahrens bedienen. Man bemächtigt sich seiner Haare, Nägel, Abfallstoffe oder selbst eines Teiles seiner Kleidung und stellt mit diesen Dingen etwas Feindseliges an. Es ist dann geradeso, als hätte man sich der Person selbst bemächtigt, und was man den von der Person herrührenden Dingen angetan hat, muß ihr selbst widerfahren. Zu den wesentlichen Bestandteilen einer Persönlichkeit gehört nach der Anschauung der Primitiven ihr Name; wenn man also den Namen einer Person oder eines Geistes weiß, hat man eine gewisse Macht über den Träger des Namens erworben. Daher die merkwürdigen Vorsichten und Beschränkungen im Gebrauche der Namen, die in dem Aufsatz über das Tabu gestreift worden sind. Die Ähnlichkeit wird in diesen Beispielen offenbar ersetzt durch Zusammengehörigkeit.

    Der Kannibalismus der Primitiven leitet seine sublimere Motivierung in ähnlicher Weise ab. Indem man Teile vom Leib einer Person durch den Akt des Verzehrens in sich aufnimmt, eignet man sich auch die Eigenschaften an, welche dieser Person angehört haben. Daraus erfolgen dann Vorsichten und Beschränkungen der Diät unter besonderen Umständen. Eine Frau wird in der Gravidität vermeiden, das Fleisch gewisser Tiere zu genießen, weil deren unerwünschte Eigenschaften, z. B. die Feigheit, so auf das von ihr genährte Kind übergehen könnten. Es macht für die magische Wirkung keinen Unterschied, auch wenn der Zusammenhang ein bereits aufgehobener ist oder wenn er überhaupt nur in einmaliger, bedeutungsvoller Berührung bestand. So ist z. B. der Glaube an ein magisches Band, welches das Schicksal einer Wunde mit dem der Waffe verknüpft, durch welche sie hervorgerufen wurde, unverändert durch Jahrtausende zu verfolgen. Wenn ein Melanesier sich des Bogens bemächtigt hat, durch den er verwundet wurde, so wird er ihn sorgfältig an einem kühlen Ort verwahren, um so die Entzündung der Wunde niederzuhalten. Ist der Bogen aber im Besitz der Feinde geblieben, so wird er gewiß in nächster Nähe eines Feuers aufgehängt werden, damit die Wunde nur ja recht entzündet werde und brenne. Plinius rät in seiner Naturalis Historia XXVIII, wenn man bereut, einen anderen verletzt zu haben, solle man auf die Hand spucken, welche die Verletzung verschuldet hat; der Schmerz des Verletzten werde dann sofort gelindert. Francis Bacon erwähnt in seiner Natural History den allgemein gültigen Glauben, daß das Salben einer Waffe, welche eine Wunde geschlagen hat, diese Wunde selbst heilt. Die englischen Bauern sollen noch heute nach diesem Rezept handeln, und wenn sie sich mit einer Sichel geschnitten haben, das Instrument von da an sorgfältig rein halten, damit die Wunde nicht in Eiterung gerate. Im Juni des Jahres 1902, berichtete eine lokale englische Wochenschrift, stieß sich eine Frau namens Matilda Henry in Norwich zufällig einen eisernen Nagel in die Sohle. Ohne die Wunde untersuchen zu lassen oder auch nur den Strumpf auszuziehen, hieß sie ihre Tochter, den Nagel gut einölen, in der Erwartung, daß ihr dann nichts geschehen könne. Sie selbst starb einige Tage später an Wundstarrkrampf infolge dieser verschobenen Antisepsis. (Frazer, ibid., 203.)

    Sigmund Freud: Totem und Tabu (Auszug aus Kapitel 3: „Animismus, Magie und die Allmacht der Gedanken"), Verlag Volk und Wissen, Berlin 1988, S. 407 ff.

    Sigmund Freud (1856 bis 1939), Kulturtheoretiker, Neurologe und Tiefenpsychologe. Er gilt als Begründer der Psychoanalyse und als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts.

    Quelle 2

    Richard Weihe

    Die Masken der Tragödie

    Jede Aussage über Form und Bauweise der antiken griechischen Theatermasken beruht im Wesentlichen auf Vasenbildern und ist daher bis zu einem gewissen Grad eine Frage der Interpretation.¹ Eindeutig feststellen lässt sich, dass es sich um Vollmasken handelte, die wie Visierhelme über den Kopf gestülpt wurden.² Sie bestanden aus vergänglichen Materialien.³ Vermutlich wurde ein leichtes Holzgerüst mit Leinwand überzogen, innen mit Wolle ausstaffiert und außen mit Kleister gesteift und mit Stuck überformt.⁴ Anschließend wurden Öffnungen für Augen (offenbar nur in Größe der Pupillen oder Iris) und Mund herausgeschnitten und die Masken bemalt.⁵ Die Maske wurde als Arbeitsinstrument des Schauspielers verstanden; die Maskenbildner nannte man Hersteller der Ausrüstung (skeuopoiós).⁶ Der Bezug zu Dionysos äußerte sich vor allem darin, dass siegreiche Protagonisten ihre Masken als Weihgaben im Dionysos-Tempel hinterlegten.⁷ […]

    Im Zuge der Vergrößerung der Theaterbauten musste auch die Frage der optischen Präsentation der Figuren neu durchdacht werden. Unter freiem Himmel sollten die Masken über beträchtliche Entfernungen hinweg klare optische Signale vermitteln. Es mussten zudem eindeutige visuelle Kriterien für die Unterscheidbarkeit der Figuren geschaffen werden. Indes ist die Maske nur eine von mehreren Komponenten, die zur Fernwirkung einer Theaterfigur beitragen. Mithilfe von ónkos und Kothurn wurde die Figur erhöht.⁸ Der Onkos war ein bogenförmiger Maskenaufsatz, von dem dichtes Haar seitlich herabfiel.⁹ Auf Vasenbildern der klassischen Zeit haben die Schaftstiefel der Schauspieler noch flache Sohlen.¹⁰ Der „hohe Kothurn", die Stelzschuhe, auf denen man sich bis heute die Schauspieler in den antiken Tragödien vorstellt, waren erst im hellenistischen Theater gebräuchlich.¹¹ Allerdings hielt man bereits im späten Hellenismus diesen hohen Schuh für ein Merkmal auch des klassischen Theaters. Horaz schrieb den Kothurn in seiner Ars poetica ohne weiteres schon dem Aischylos zu.¹² Es ist unschwer zu erkennen, dass die Bewegungsfreiheit des Schauspielers durch die umständlichen Stelzschuhe beträchtlich eingeschränkt wurde; umso wichtiger wurden die Frontalität des Spiels und eine stilisierte Gestik. […]

    Der entscheidende spieltechnische Vorteil der Masken bestand darin, dass sie den schnellen Rollentausch ermöglichten. Mit ihrer Hilfe konnte jeder Akteur in einer Aufführung mehrere Rollen übernehmen. Auch innerhalb derselben Rolle konnte es zu einem Maskenwechsel kommen, wenn es darum ging, eine drastische physiognomische Veränderung der Figur sichtbar zu machen, beispielsweise nach einer Blendungsszene.¹³ Im römischen Pantomimus wurde die Praxis, dass ein Akteur während des Spiels die Masken wechselte, auf die Spitze getrieben. Ein einziger Schauspieler übernahm sämtliche Rollen (Masken) einer Tragödie oder einer mythologischen Handlung.¹⁴ Die verschiedenen Personen wurden vom Akteur, im schnellen Austausch von Masken und Kostümen, allein mit tänzerischem Körperspiel vorgeführt – mit Musikbegleitung, doch ohne Text.

    Freilich wechselten die Schauspieler in derselben Tragödie auch zwischen Rollen unterschiedlichen Geschlechts, denn auch sämtliche Frauenrollen wurden von Männern gespielt. Zwischen der Maske und dem Gesicht des Schauspielers besteht keinerlei Beziehung, so konnte die Maske auch ohne weiteres das Geschlecht der Figur kodieren. Frauen waren vom Theaterbetrieb ausgeschlossen. Sie hatten in der griechischen Polis nicht das Recht, „ihr eigenes Geschlecht auf der Bühne darzustellen".¹⁵ Die griechische Gesellschaft empfand die weibliche Sexualität als verborgen und geheimnisvoll, die männliche dagegen als äußerlich und nobel.¹⁶ Daraus leitete man unterschiedliche Rollenbilder ab. Die Frau sollte sich inneren Aufgaben im Hause und in der Familie zuwenden, vor dem Blick der Öffentlichkeit geschützt. Daher war sie sozusagen schon im Alltag maskiert; sie sollte sich nicht öffentlich zur Schau stellen.¹⁷

    In einem Aufsatz über die Frauendarsteller im römischen Theater entwickelt Goethe den Gedanken einer „dritten Natur, der sich auch auf das griechische Theater anwenden lässt. Wenn ein Mann eine Frau spielt, so sind zwei Arten der „Nachahmung zu unterscheiden. Erstens zeigt der Mann allgemein weibliche Verhaltensweisen, zweitens zeigt er die Verhaltensweise einer bestimmten Frau. Voraussetzung für das Rollenspiel ist zunächst ein theatralischer Geschlechterwechsel. Bei der Darstellung des Individuums bleibt die Darstellung des Geschlechts stets in ihrer Künstlichkeit präsent.¹⁸ Da das Geschlecht somit als bewusstes Imitationsspiel vorgeführt wird, lernt der Zuschauer „eine dritte und eigentlich fremde Natur, wie Goethe meint, „nur desto besser kennen, weil sie jemand beobachtet, jemand überdacht hat …¹⁹ Dem entspricht, was Bertolt Brecht in Bezug auf Frauendarsteller im chinesischen Theater als „doppeltes Zeigen bezeichnet. Der Schauspieler zeigt eine Frauenfigur, und zugleich zeigt er, wie man Frauen spielt: „Das sind deutlich zwei Figuren. Eine zeigt, eine wird gezeigt.²⁰ Das Geschlecht wird somit auch zu einem Gegenstand der Darstellung, zu einer Spielform. „Die Chinesen zeigen nicht nur das Verhalten der Menschen, sondern auch das Verhalten der Schauspieler. Die Menschen werden nicht unmittelbar dargestellt, sondern es wird gezeigt, „wie die Schauspieler die Gesten der Menschen in ihrer Art vorführen.²¹

    Die Rollenvielfalt, die durch den Maskenwechsel ermöglicht wurde, ist der eine Aspekt; der andere ist die entsprechende stimmliche Differenzierung der Figuren, zumal dann, wenn derselbe Schauspieler Frauen- und Männerrollen spielte.²² Nachweislich hatte beispielsweise der Deuteragonist in der Elektra des Sophokles Orest und Klytaimestra zu spielen.²³ Der antike Schauspieler verkörperte also stets mehrere Stimmen, und die stimmliche Gestaltung und Ausdifferenzierung der Figuren war zweifellos eine große Herausforderung.²⁴

    Angesichts der ständigen Wechsel kann von Rollenaufbau und -identifikation seitens des Schauspielers wohl kaum die Rede sein; vielmehr wurden die Figuren vorgeführt. Die Maske gehört der Figur, das Gesicht dem Schauspieler. Indes sind Gesicht und Maske bei den frühen Vasenbildern noch kaum auseinander zu halten, da auch das Gesicht so stilisiert dargestellt wird, dass es einer Maske gleicht (einmal abgesehen vom geschlossenen Mund): eine Ambivalenz ganz im Sinne des prósopon.²⁵ Dieses Übereinander von Maske und Gesicht – als Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbaren – kontrastiert nun mit einem anderen Verhältnis. Die Stimme gehört stets dem Schauspieler, die Maske selbst ist stimmlos und augenlos – die stumme Maske über der Stimme des Akteurs. Die Stimme tönt hindurch, so hatte dereinst eine frühe, aber dauerhafte Fehletymologie das Wort persona von personare abgeleitet. […]

    Betrachten wir zum Beispiel eine expressive Maske (der hellenistischen Zeit) mit aufgerissenem Mund, weit geöffneten Augen und hohen, schrägen Brauen. Man könnte sagen, sie zeige Furcht. Dieser Ausdruck ist optisch fixiert. Die Maskenfigur hat selbst keine Emotionen, sie zeigt sie nur. Statt dass sich die Mimik des Schauspielers auf die wechselnden Emotionen der Figur fortlaufend einzustellen wüsste, kann mittels der Maske während der Dauer der Tragödie nur ein einziger unveränderlicher Ausdruck gezeigt werden. Der Ausdruck der Maske scheint den inneren Zustand der Figur als Resultat einer Handlung optisch vorwegzunehmen. Indes werden in den Texten durchaus dynamische Gefühlsäußerungen genannt, z. B. Tränen oder Küsse, die ja nicht gezeigt werden können.²⁶ Zu fragen wäre allenfalls, ob sie nicht eben deshalb genannt werden, weil sie nicht gezeigt werden können.

    Die starre Maske steht womöglich nur scheinbar im Widerspruch zur Emotionalität der Rolle. Indem die Mimik des Schauspielers ausgeschaltet wird, bietet sich die Maske als Hohlform für die Emotionen des Zuschauers an. Der Akteur ist der Träger der Maske; diese löst bei ihm Bewegungen aus, setzt ihn in Gang, und dadurch entsteht das Rollenspiel. Das wäre die physische Wirkung der Maske, ihre Motion. Andererseits lässt sich der Zuschauer durch die Maske innerlich bewegen, indem er seine Gefühle in ihren fertigen Ausdruck hineinprojiziert; der Zuschauer gibt dem Ausdruck der Maske den passenden Inhalt – das wäre die psychische Wirkung der Maske, ihre Emotion. Somit spiegelt sich die Emotion des Zuschauers in der Motion des Schauspielers. Der Zuschauer betrachtet die äußere (theatralische) Welt der Maskenfiguren und füllt die Maske gleichsam von hinten mit seiner eigenen Innenwelt; das gemeinsame Werk von Schauspieler und Zuschauer ist die sichtbare Plastik des Gefühls. Die Masken erlauben es dem Zuschauer, menschliche Gefühle in künstlichen Situationen real zu erleben. Sie vereinen komplementäre Welten: die fiktive Außenwelt der Bühnenfiguren mit der realen Innenwelt der Menschen im Zuschauerraum.

    Darin äußert sich von neuem die Doppeldeutigkeit des Prosopon: eine Maske für den Schauspieler, nur ein Gebrauchsgegenstand, aber ein Gesicht für den Zuschauer, das er mit den eigenen Gefühlen besetzt. Gerade diese Doppelbezüglichkeit – durch die Innenseite zum Schauspieler, durch die Außenseite zum Betrachter – macht die plastische Maske zum Emblem des Theatervorgangs.²⁷ Indem sie stellvertretend für das Gesicht des Schauspielers (A) das künstliche „Gesicht" einer Theaterfigur (B) zur Schau stellt, operiert sie als Zeichen für den theatralischen Vorgang selbst, bei dem eine Übertragung von A auf B stattfindet. Ist die Maske das Mittel für diese Übertragung, so bezeichnet Prosopon ihre Spannweite vom Natürlichen zum Künstlichen. Will das Theater Wahrheit zeigen, scheint es dazu beide Seiten des Prosopon zu benötigen: einmal dann, wenn Natürliches künstlich verstärkt und hervorgehoben, das Innere nach außen gekehrt und eindeutig gemacht wird (wie beim plakativen Gefühlsausdruck einer expressiven hellenistischen Tragödienmaske); das andere Mal, wenn das Künstliche (in Form der Maske) symbolisch niedergerissen, das Gesicht demaskiert und in seiner Nacktheit exponiert wird.²⁸

    Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske. Die Geschichte einer Form (Auszug aus Teil 2: „Die Masken der Tragödie"), Wilhelm Fink Verlag, München 2004, S. 132 ff.

    Richard Weihe (geb. 1961) habilitierte nach Schauspielakademie und Studium in Zürich, Oxford und Bonn im Bereich Theater und Philosophie. Er übersetzt Dramen und Lyrik aus dem amerikanischen Englisch und moderiert die Sternstunden Philosophie im Schweizer Fernsehen DRS.

    ¹Horst-Dieter Blume: Einführung in das antike Theaterwesen, Darmstadt 1978, 89; Françoise Frontisi-Ducroux: Du masque au visage. Aspects de l‘identité en Grèce ancienne, Paris 1995, S. 6.

    ²Horst-Dieter Blume, Artikel „Maske", in: Der neue Pauly, Bd. 7, Stuttgart 1999, Sp. 974 – 980, Sp. 979.

    ³Erika Simon nennt Holz, Gips, Leinen und Wolle als Materialien, in: Das antike Theater, Heidelberg 1972, S. 19.

    ⁴Horst-Dieter Blume: Einführung in das antike Theaterwesen, S. 89.

    ⁵Margarete Bieber, Artikel „Maske", in: Pauly’s Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 28. Halbband, Stuttgart 1930, Sp. 2070 – 2105, hier Sp. 2073.

    ⁶Horst-Dieter Blume, Artikel „Maske", Sp. 979.

    ⁷Horst-Dieter Blume, ebd., Sp. 979.

    ⁸Eine Entwicklung, die allerdings nach Erika Simon, Das antike Theater, S. 24, nicht früher als im Hellenismus begann.

    ⁹Horst-Dieter Blume, Artikel „Maske", Sp. 976. Besonders der hohe bogenförmige Haaraufsatz über der Maske hat die Vorstellung von antiken Theatermasken geprägt.

    ¹⁰Erika Simon: Das antike Theater, S. 23.

    ¹¹In der Zeit der großen Tragiker war der Kothurn

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