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Das Rotationsprinzip der inneren Kreise
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eBook229 Seiten3 Stunden

Das Rotationsprinzip der inneren Kreise

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Über dieses E-Book

Frustriert vom unmerklichen Effekt seines Wirkens, gerät ein katholischer Priester etwas verspätet in eine Lebenskrise, die über eine Midlife-Crisis weit hinausgeht und ihn sein Amt niederlegen lässt. Der geplante Neuanfang des 52-Jährigen wird zu einer langwierigen Selbstfindung, die ihn systematisch an den Rand der Gesellschaft führt, wo er den Sinn des Lebens, den er so schmerzlich vermisst, erst recht nicht findet, verbunden mit einer abenteuerlichen Jobsuche, die die Abgründe des Arbeitsmarktes in ihrer bizarrsten Form zum Vorschein bringt - denn ein katholischer Priester ist im Grunde nicht vermittelbar.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Nov. 2015
ISBN9783732371938
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    Buchvorschau

    Das Rotationsprinzip der inneren Kreise - Wolfgang Schwab

    Erdbraun

    Mariannes Pläne sahen ursprünglich vor, die Halbtagsstelle der katholischen Bücherei zumindest für ein halbes Jahr zu übernehmen, bis dann ab März die kleine Wohnung neben ihrer zwei Jahre jüngeren Cousine Katja frei geworden wäre. Sie hatte sich auf den bevorstehenden Ortswechsel schon richtig gefreut, sich Kartenmaterial aus der Umgebung Einthovens und einen holländischen Sprachführer besorgt. Aber als dann Heidrun, Albrechts Hauswirtschafterin, ganz unerwartet, mit nicht mal vierzig, an einer Blutvergiftung starb und Marianne, auf Drängen Albrechts, vorübergehend für sie einsprang, starb nachfolgend auch die Idee mit Holland. Die geplante kurze Übergangszeit verlängerte sich erst um Wochen und schließlich wurden es ganze zwölf Jahre, in denen in ihr die Überzeugung reifte, Hausarbeit würde sie in einer Art befriedigen, die einer guten Beziehung nahe käme. Um der selbst gewählten Märtyrerrolle auch äußerlich den nötigen optischen Anstrich zu verleihen, setzte sie diesbezüglich nicht weniger klare, unmissverständliche Maßstäbe; kein Schnitt, kein Muster, alles grau in grau – wie jemand, der seine Wäsche jeden Morgen mit geschlossenen Augen aus dem Wichtelsack zieht.

    Wesentlich origineller erwiesen sich da ihre Kochkreationen, mit denen sie ihre tiefe, innere Aversion gegenüber diesem leidigen Handwerk immer wieder erneut zum Ausdruck brachte und die mehr dem Zufallsprinzip als festen Regeln folgten. Mal gab es Grießpudding mit Brathering, dann wieder Bratkartoffeln mit heißen Himbeeren oder diverse andere Unverträglichkeiten. Besonders hoch im Kurs, daher entsprechend häufig auf dem Speiseplan, standen Suppen aller Art, deren Zutatenlisten entfernt an die Rezepturen barocker Alchemisten erinnerten.

    Einen deutlich höheren Lustgewinn erfuhr sie zweifellos durch die Nahrungsaufnahme selber, die das körperliche Missmanagement ihrer gedrungenen Statur aber weniger verursachte, als lediglich an einigen Stellen punktuell hervorhob, indem sie ihre ohnehin erhöhte Disposition zur Fettbildung, zum Beispiel an den Hüften, enorm vorantrieb. Sie besaß zudem sehr kurze, kräftige Beine, die das anatomische Gesamtverhältnis proportional nicht berücksichtigten, und einen kurzen, breiten Hals, der in einem viel zu kleinen Kopf steckte, als hätte man Körperteile mehrerer Personen untereinander vertauscht. Ihr Gesicht wirkte eher ausdrucksschwach: freudlose schiefe Mundwinkel, die der Mimik ganzjährig den nachhaltigen Ausdruck tief empfundener Abscheu gegenüber allem Lebenden aufnötigten, kleine stumpfe braune Augen, wie zwei rostige Nagelköpfe, und kurzes, ergrautes Haar, das keinerlei Schnitt erkennen ließ. Scheinbar alles nur auf seine natürliche Funktion ausgerichtet, als hätte jemand ein langweiliges Bild über ein hässliches Loch geklebt.

    Aus dem tiefen Teller vor ihr dampfte die dünne Suppe, die sie mittags schon zubereitet und eben nur langsam aufgewärmt hatte. Vorsichtig süffelte sie jetzt etwas von ihrem Löffel und verzog das Gesicht, als könne sie kaum glauben, dass sie diejenige war, die dieses absurde Geschmackserlebnis, das entfernt an vergorenes Sauerkraut erinnerte, in vollem Umfang zu verantworten hatte.

    »Du hattest heute Besuch«, stöhnte sie und salzte etwas nach. »Die beiden Schmitt waren hier.«

    Albrecht, der noch damit beschäftigt war, die eigentliche Grundzutat seiner Suppe zu erforschen, war so in Gedanken, dass er Marianne überhörte.

    »Hörst du?«

    Er sah von seinem Teller auf. »Welche Schmitt?«

    »Du weißt doch die kleine Rothaarige. Die Nette. Claudia oder wie sie heißt, aus der Stadtbäckerei, und er arbeitet doch als Schreiner oder Zimmermann in Roßbürg.«

    Natürlich wusste er, wer sie waren. Sie kannte er sogar persönlich aus der Zeit als sie ein Jahr lang, zweimal die Woche, mittwochs und freitags seinen Kommunionunterricht besucht hatte. Sie hieß nicht Claudia, sondern Caroline, geborene Kollwig. Stollbergstraße 19. So lautete zumindest ihre alte Adresse. Es fiel ihm nicht schwer, sich an sie zu erinnern, da sie zu den Kindern gehört hatte, die besonders still, verschlossen, in sich gekehrt waren und die Geduld jedes Erwachsenen auf eine harte Probe stellten, da man einfach nicht in sie hineinsah, nie wusste, was sie dachten, und jede ihrer Handlungen, selbst wenn diese ausblieben, spontane Handgreiflichkeiten einforderten. Und von ihrem Mann wusste er zumindest so viel, dass er Protestant war und aus einer der Nachbargemeinden stammte. Großer, hölzerner Kerl, schütteres, dünnes, blondes Haar, das unsportlich über die Ohren hing und darauf zu warten schien, vom nächsten Windstoß mitgerissen zu werden.

    »Du meinst die kleine Kollwig. Die Schüchterne?«

    »Schüchtern schien die mir nicht zu sein.«

    »Die ist so schüchtern, dass sie keinen Schatten wirft. Was wollten die denn?«

    »Du hattest versprochen sie zurückzurufen.«

    »Hatte ich?«

    Stimmt! Da war was gewesen … Der Termin für das anstehende Traugespräch. Verdammt. Wieso mussten die beiden ausgerechnet ökumenisch heiraten? Albrecht verabscheute ökumenische Trauungen, vor allem, wenn sie auf protestantischen Boden stattfanden und man nur als Gastredner fungierte. Das war beinahe so, als würde der Vorsitzende der Republikaner für die Linkspartei kandidieren. Warum konnten sich die Leute nicht für eine Konfession entscheiden? Sonst entschieden sie sich doch auch für alles mögliche Gemeinsame – Namen der Kinder, Farbe der Toilettenvorleger … nur bei der Glaubensfrage machten sie ständig Zicken.

    »Meinst du, ich kann da um die Zeit noch anrufen?«

    »Ist doch erst halb neun«, ermunterte sie ihn.

    Er verzichtete auf einen zweiten Teller Suppe, war froh, dass ihn der erste nicht schon umgehauen hatte, und tätigte von seinem Arbeitszimmer aus den späten Anruf. Dann notierte er sich Dienstag, den 25. Oktober, 19 Uhr in sein dunkelgrünes Notizbuch und drehte den Thermostat des Heizkörpers eine Stufe höher, obwohl er wusste, dass die Zeit, die er hier verbringen würde, nicht ausreichte, um wirklich in den Genuss erhöhter Raumtemperatur zu gelangen.

    Er bog den flexiblen Hals der Schreibtischlampe tiefer über das rötlich schimmernde, alte Pergament, das vom Vortag auf dem Schreibtisch lag und an dessen freier Übersetzung er seit Tagen fieberhaft arbeitete. Es war nur eines der vielen Schriftstücke, die Albrecht während monatelanger Renovierungsarbeiten der Kirche, vor vier Jahren, völlig unerwartet hinter einem alten Bretterverschlag unter dem Dach entdeckt hatte. Wahrscheinlich hatte man die alten Papiere während des Zweiten Weltkriegs aus dem bedrohten Rathaus der nahen Kreisstadt, welche im 17. Jahrhundert die Zentralverwaltung über vierzig Dörfer umfasste, hier her ausgelagert und nach dem Krieg dann einfach da oben vergessen, denn außer den üblichen Kirchenregistern befanden sich viele amtliche Dokumente darunter. Es gab Kauf- und Pachtverträge, Einzeldokumente über materielle oder finanzielle Zuwendungen an Armenhäuser, Sonderregistraturen, in denen die statistische Häufigkeit einzelner Berufe wie Böttcher, Bader-Wundärzte, Gerber, Perücken- oder Tuchmacher erfasst wurde, und natürlich die obligatorischen, braunen Gerichtsakten, vom jeweiligen Stadtschreiber abgefasst.

    Bei dem alten Dokument, das vor ihm lag, handelte es sich um eine handschriftliche Schuldverschreibung aus dem Jahr 1602, über funf Schefel Brantrogen, zwen Malter Haver unt dresig schwere Schiling, die ein Jacub Veith, Bauer aus Braunbach, einem Hanß Korbnagel schuldete. Die eigentliche Besonderheit jener Schuldverschreibung bestand aber darin, dass besagter Gläubiger Hanß Korbnagel, Großgrund- und Mühlenbesitzer aus Bärenweiler-Schildtach, eben diesen Betrag im Jahr 1603 als Verlustabschreibung in einem seiner grünen Kontorbücher auswies, ohne dass man in den Gerichtsakten damaliger Zeit eine namentliche Erwähnung eines Jacub Veith fand. Das war insofern ungewöhnlich, da es eine akribisch geführte Auflistung jener Personen gab, welche ihre Strafen in dem gefürchteten Schuldnerturm abbüßten; ein Jacub Veith war jedenfalls nicht darunter. Vermutlich bestand das Rätsel seines Verschwindens aber weniger in Aktenungenauigkeiten als in der gewaltigen Papiermenge an sich, die das Herausfiltern unterschiedlicher Informationen selben Ursprungs deutlich erschwerte. Um darin überhaupt nennenswerte Gemeinsamkeiten zu erkennen, typisierte Albrecht die Dokumente, die er im Gästezimmer aufbewahrte, in die Rubriken Politik, Wirtschaft sowie Soziales und übersetzte deren in Kurrent oder Latein abgefasste Inhalte in modernes Deutsch. So konnte er später die sozialen, wirtschaftlichen und moralischen Verwerfungen der letzten vierhundert Jahre als gebundene Chronik dokumentieren; das war sein Ziel.

    Besonders aufschlussreich, da sie über statistische Zahlen hinaus direkt oder zumindest indirekt die innere Geisteshaltung der damaligen Menschen widerspiegelten, erwiesen sich die vielen Gerichtsakten, wie die der Anna Jakobi, die er vor Wochen in den kurzen, schwülen Sommernächten mühsam übersetzt und aufgearbeitet hatte. Anna Jakobi, geborene Holzleder, war die zweite Ehefrau des Schneiders Cristof Jakobi aus Pfulen, von dessen Schwester Brigit Wallbach, vermutlich aufgrund einer Erbstreitigkeit, der Schadzauberei und Buhlschaft mit dem Teufel bezichtigt. Am 18. Februar 1611 hatte man das Verfahren gegen sie nach sorgfältiger Prüfung aller Indizien durch den Würzburger Oberrat Mathias Bradl eröffnet. Weitere Anwesende waren der junge, ehrgeizige Vogt Tillmann Gribich, die beiden Laienrichter Johann Küppel und Jakob Hohlmaier, Goldschmiedemeister und Brauereibesitzer, sowie der katholische Ortsgeistliche Bernhardt Klemm, der als Leumundszeuge fungierte. Nach dreiwöchiger Verhandlung und dreimaligem wiederholtem Geständnis während des Verhörs, wurde Anna Jakobi am 11. März 1611 im Sinne der Anklage schuldig gesprochen. Noch am selben Abend erhielt sie die Schwertstrafe und wurde im vermuteten Alter von 48 Jahren auf dem Schindanger, außerhalb des Dorfes, öffentlich enthauptet und verbrannt.

    Schon bei der ersten, groben Durchsicht der Dokumente waren Albrecht, abgesehen von der hohen pathologischen Sozialgewalt damaliger Zeit, zwei wesentliche Besonderheiten aufgefallen: Einmal die hohe Fluktuation in der Bevölkerungsdichte Anfang des 17. Jahrhunderts infolge des 30-jährigen Kriegs, dessen Totenmelodie noch immer leise aus den Pergamentseiten flötete, und zum anderen die schlechte medizinische Versorgungslage allgemein, die sich indirekt aus den Sterberegistern ableiten ließ. Allein während der schweren Windpockenepedemie des Winters 1616/1617 starben im Kirchspiel Lammpoldingen 38 Kinder im Alter von ein bis fünf Jahren. Der damalige Pfarrer der Gemeinde, Baltasar Schörgelen, vermerkte dazu am 23. Januar 1617 in einem sehr persönlichen Beitext, der schon beinahe so etwas wie Mitgefühl für die Betroffenen erkennen ließ: In nemlichen Winder Anno Domini Ain Tausent Sechshundert unt sibzehnt Jahr herschte ein außerordentlich Kaelt, welcher volgt ein hiziges, bosartig Ausschlagfiber, item Kindsblatern genant. Alerorten hilt es großen Schaden under der Kinterwelt. Unt gar vile guade menschelein starpen wie die Fliag.

    Doch während die Windpocken als flächendeckende Pandemie noch eher unbeholfen daherkamen, stellte die große Pestilenz fünf Jahre später einen Gegner, dem die damalige medizinische Versorgung außer der nackten Angst nichts entgegenzusetzen hatte und der sich allem wissenschaftlichen Kenntnisstand entzog, als bestünden für ihn keinerlei weltliche Regeln. Die hitzige Seuche nahm ihren Ausgang in den heißen Augustwochen des Jahres 1622. Dem jungen Stadtschreiber Ulrich Hutter aus Markt Reidenau zufolge, breitete sie sich von Osten her, entlang der oxschen Handelsstraße zwischen Ungarn und dem Dachauer Land aus. Neben den zeitgemäß prophylaktischen Maßnahmen, zu denen täglicher Aderlass ebenso zählte wie ein völliger Badeverzicht, erwähnte er auch einen deutlichen Anstieg an Hexenprozessen. Und in Kalkmünden, dem kleinen Städtchen nahe der Donau, glaubte man, dass die Juden nachts umherschlichen und selbst gefertigte Pestsalbe unter die Türklinken der Häuser rieben, worauf man in der ersten Hysterie 35 Männer, Frauen und Kinder totschlug. Aber ganz unverständlicherweise zeigte diese Maßnahme nicht mehr Erfolg, als der von den Ärzten viel beschworene Aderlass, der seine Betreiber oft selber in peinliche Not brachte, wenn diese sich in Unkenntnis des Übertragungswegs an ihren totkranken Patienten ansteckten und kurz darauf verstarben. Denn die Seuche, so berichtete Hutten, wütete schlimmer als ein hungriger Wolf in einem Stall voller Hühner. Innerhalb zweier Tage warf sie selbst den Gesündesten wie dürres Laub nieder. Bald waren die Friedhöfe so überfüllt, dass die Pestknechte, meist zwangsrekrutierte Schwerverbrecher, draußen vor den Dörfern tiefe Sammelgruben anlegten. Nachts fuhren sie, rot bemäntelt, im hellen Schein der Fackeln mit hölzernen Wagen rumpelnd durch die engen Straßen und warfen kleine Steine an die dunklen Fenster. Dort, wo niemand erschien, zogen sie die Toten an den Füßen wie schwere Getreidesäcke aus den Häusern. Dabei kam es nicht selten vor, dass der eine oder andere infolge des Fiebers nur bewusstlos war und später in der Leichengrube mit Schrecken erwachte.

    Im Oktober erreichte die Seuche schließlich ihren dramatischen Höhepunkt, verebbte dann im kalten Dezember, flammte im feuchten Frühjahr 1623 noch einmal für einige Wochen auf und kam im heißen Sommer auf natürliche Weise zum Stillstand, da sämtliche potenziellen Überträger gestorben und die Bevölkerungsdichte für eine Weiterverbreitung zu ausgedünnt war.

    Zehn Jahre später kehrte sie dann erneut zurück, aber diesmal im schweren Marschgepäck der holkschen Kürassiere, die, frei nach dem Motto Der Krieg ernährt den Krieg’ ganz Sachsen zum öffentlichen Schlachthaus erklärten. Und wer infolge der Plünderungen nicht gehängt, verbrannt oder zu Tode geschändet worden war, starb zwei Tage später an der Seuche, bis zwischen Vogtland und Leipzig nicht einer mehr lebte, der die unzähligen Toten in den Städten oder auf dem Land hätte beerdigen können, und der Fäulnisgeruch verwesender menschlicher Körper die warmen Lüfte zwischen Juli und September noch Wochen durchwehte.

    Die Schreibtischlampe flackerte zwei-, dreimal und erlosch plötzlich. War die Glühbirne kaputt? Geschützt durch seinen Hemdsärmel, nahm Albrecht das heiße Glas vorsichtig zwischen die Finger und schaukelte es leicht hin und her, was ein kurzes Aufleuchten provozierte – zum Glück, denn er hatte keine Ersatzbirne im Haus. Er drehte das heiße Glas ganz leicht im Uhrzeigersinn und der helle Lichtkegel spannte sich erneut brettsteif über die veithsche Schuldverschreibung.

    Wo steckte er nur, dieser verdammte veithsche Bauer? Der Kerl konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! Nicht selten war, dass Vor- und Zunamen einzelner Personen während des 30jährigen Krieges einfach verloren gegangen waren oder eine linguistische Änderung erfahren hatten. Aber der Schuldnerbrief stammte aus einer Zeit lange vor dem Krieg, was eine analoge Namensänderung infolgedessen ausschloss. Nein, irgendetwas anderes, Unerwartetes musste geschehen sein. Vielleicht war der Kerl plötzlich verstorben oder mit seiner Familie einfach weggezogen?

    Nur gut, dass Albrechts Recherchen nicht immer so hohen Arbeitsaufwand erforderten wie in diesem Fall. Mittlerweile war er zwar recht geübt darin, weitreichende Zusammenhänge klar zu interpretieren und die losen Enden verschiedener Ereignisketten so zu verknüpfen, dass sich hinterher ein lückenloses Bild über Personen und Ereignisse abzeichnete, aber letzten Endes erforderte diese Art der Spurensuche viel Zeit und Nerven, etwas, über das er nur in begrenztem Umfang verfügte. Wesentlich leichter verhielt es sich mit dem Dokumentieren alter Gebäude, da diese in der Regel nicht einfach verschwanden, sondern höchstens mal den Besitzer wechselten oder ihre frühere Funktion einbüßten, wie die alte Dorfschule in der Christoph-Kneipel-Straße, ein festes, steinernes Haus, welches erstmals 1704 in einer öffentlichen Ausschreibung schriftlich erwähnt wurde.

    Albrecht besaß zwei Grundrisspläne des hohen Gebäudes, auf denen weite Teile des umliegenden Areals mit eingezeichnet waren. Auf einem der Pläne erkannte man unmittelbar hinter der Schule, in östliche Richtung, einen kleinen Auwald, der im Herbst und Frühjahr das natürliche Auffangreservoir der reißenden Peine bildete. Hundert Jahre später hatte man den Fluss begradigt, dann in weiten Teilen umgeleitet und später unterirdisch weitergeführt, wodurch der Wald seine Speicherfunktion verlor und die Stadtverwaltung ihn abholzen ließ. Heute befand sich eine Druckerei, die inzwischen selbst in die Jahre gekommen war, auf dem Gelände, und die damals baufällige Schule war 1950 zum Wohnhaus umgebaut worden. Es hieß sogar, dass Goethe während seiner Italienwanderung vor 250 Jahren, kurze Zeit in der Schule übernachtet hätte. In dem Zusammenhang gab es das hartnäckige Gerücht um ein kurzes, aber heftiges Verhältnis mit der Tochter des damaligen Bürgermeisters Walther Hehmel. Sie sei sehr hübsch gewesen, die Anneliese; groß, zierlich, blond, 18 Jahre, mit dem zehn Jahre älteren Oberstudienrat Günter Berner verheiratet. Aus Kummer über die plötzliche Abreise des Dichters sei sie dann bald darauf ins Wasser gegangen, erzählte man sich, worauf der arme Witwer in eine tiefe Depression fiel, die, dem Wahnsinn nahe, mehrere Jahre anhielt, bis er am frühen Morgen des 5. November 1768 im örtlichen Spital an Lungenentzündung starb. Ob diese Liebschaft allerdings einen realistischen Hintergrund besaß und der Dichterfürst auch nur einen Fuß in diese abgelegene Gegend gesetzt hatte, war bis heute urkundlich nicht nachzuweisen. Es existierte zwar ein indirekter Hinweis darauf, nämlich die Abschrift einer Nachlassregelung eines Walther Hehmel, tatsächlich damaliger Bürgermeister, die zumindest dessen Existenz beglaubigte, doch erwähnten die Unterlagen nirgendwo eine Tochter namens Anneliese und noch weniger besagten Goethe. Wohl aber eine Bettina Kreuzner, geborene Hehmel, eine jüngere Halbschwester des Bürgermeisters, die er als Alleinerbin vorsah. Auf jeden Fall würde Albrecht an der Sache dran bleiben …

    Die gesamten Aufzeichnungen endeten dann irgendwann im 19. Jahrhundert während der beiden großen Auswanderungswellen, die der damalige Pastor Bernhard Schnur sorgfältig dokumentiert hatte. Als ernster, glaubenstreuer Mann mit wenig Sinn für Humor,

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