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Die Breitseite des Lebens: Berichte eines Verbrechens in der Linzer Stahlstadt
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eBook281 Seiten3 Stunden

Die Breitseite des Lebens: Berichte eines Verbrechens in der Linzer Stahlstadt

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Über dieses E-Book

Edgar ist seines monotonen Lebensalltags überdrüssig geworden. Als er eines Tages die Kontaktanzeige einer jungen Frau liest, beschließt er darauf zu antworten. Mit diesem unbedachten Schritt tritt er eine Lawine an fatalen Ereignissen los. Eine emotionale Achterbahnfahrt beginnt für ihn und seine Familie...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Juni 2020
ISBN9783347077140
Die Breitseite des Lebens: Berichte eines Verbrechens in der Linzer Stahlstadt

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    Buchvorschau

    Die Breitseite des Lebens - Ingo Irka

    BERICHT 1

    Montag, 3. Juli, 6: 45 Uhr

    Jede Entscheidung ist der Tod tausend anderer Möglichkeiten

    Edgar schlug missmutig seine Augen auf und ließ den Blick im Zimmer umherwandern. Seine Stimmung war am Tiefpunkt. Daran konnten selbst die Sonnenstrahlen nichts ändern, die sich bereits ihren Weg durch die Schlafzimmergardinen gebahnt hatten. Sie schmerzten ihn sogar.

    Wie auch der Anblick seiner immer noch schlafenden Ehefrau neben ihm. Zerknirscht musterte er sie von oben bis unten. Ihre viel zu dick geratenen Zehen mit dem billig wirkenden Nagellack. Die schwarzen Haarstoppel auf ihren Beinen. Ihr obligates Nachthemd. Ihre zu kleinen Brüste darin. Und schließlich ihr halbgeöffneter Mund aus dem es roch, als würde eine tote Ratte darin verwesen.

    „Und täglich grüßt das Murmeltier! Und das für den Rest deines Lebens", hörte er sich sagen, ehe er wieder von ihr abließ und seine Decke beiseiteschob.

    Mit einem tiefen Seufzer rollte er sich aus dem Bett. Langsam schlich er in Richtung Badezimmer, wo der Spiegel bereits wartete, sein verhärmtes Antlitz zu reflektieren. Was war nur aus ihm geworden? An welcher Weggabelung hatte ihn das Leben falsch abbiegen lassen? Wo war der eloquente und fröhliche Mensch abgeblieben, der er einmal war? Er wusste es selbst nicht. Doch seine tiefen Falten und schwarzen Ringe unter den Augen ließen vermuten, dass es bereits vor langer Zeit gewesen sein musste.

    Trotz anfänglich gutem Start. Als er und Lydia sich kennen und lieben gelernt hatten, hing der ganze Himmel noch voller Geigen. Keine Wolke trübte das junge Glück. Nein, die Zeit war geprägt von einer Leichtigkeit des Seins. Man liebte sich einfach. So, wie es sein sollte. Doch irgendwann verstimmten sich die Geigen. Und dann verstummten sie ganz. Die Leichtigkeit des Seins erlosch und die Schwere des Lebens hielt schleichend Einzug. Und daran konnte nicht einmal die Geburt seiner beiden Töchter etwas ändern. Ganz im Gegenteil.

    Seitdem war er vielmehr nur noch das fünfte Rad am Wagen. Das fünfte Rad, das keine Bedeutung mehr hatte. Ab diesem Zeitpunkt kippte sein Leben. Sophia und Clara wurden älter. Lydia und er wurden älter. Und ihre Ehe alterte doppelt so schnell. Alles raste dahin und wenn er nicht abbremste, würde es bald vorüber sein. Das Ende seiner Ehe nahte. Und dieses Ende würde wie eine Mauer daherkommen. Mit dem Schluss, dass er demselben Schicksal geweiht sein würde wie Millionen anderer Väter auch. Dem Schicksal eines einsamen, geschiedenen Wochenendvaters.

    „Guten Morgen, du Loser", brummte er mürrisch sein Spiegelbild an und schob sich die Zahnbürste in den Mund.

    Das Weiß der Zahnpasta hob sich merklich ab vom Braun seiner nikotingefärbten Zähne. Aber es war ihm gleichgültig. Was sollte es schon für einen Unterschied machen, ob er noch ein strahlendes Lächeln hatte oder nicht, wenn es ihm ohnedies vergangen war. Selbst die Tatsache, dass sich jeden Morgen sein Zahnfleischblut mit in das Waschbecken mischte, schien ihn nicht weiter zu beunruhigen. Zumindest blutete er für sich und für niemand anderen. Außerdem, wem sollte er nach dieser langen Zeit noch gefallen? Lydia? Nein, er brauchte ihr nicht mehr zu gefallen. Er brauchte niemandem mehr zu gefallen. Nicht einmal sich selbst. Ein Mensch, der sich selbst zum Wurm machte, durfte sich nicht wundern, wenn auf ihn hinauf getreten wurde. Bedächtig legte er die Zahnbürste zurück in die Lade und wusch sich die letzten Reste einer unruhigen Nacht aus seinem Augenwinkel.

    „Guten Morgen, du Loser", fluchte er nochmals, ehe er seinem Spiegelbild den Rücken kehrte und in die Küche schlenderte.

    Alles, was jetzt an Handgriffen und Bewegungen anstand, war bereits pure Routine und folgte einem stringenten Ablauf: Das Betätigen der Kaffeemaschine. Das Eingießen des gebrühten Kaffees in den Becher. Das Öffnen der Balkontüre. Das Anstecken der ersten Zigarette. Der erste Schluck aus dem Becher. Der erste kräftige Lungenzug des Tages. Und im Anschluss, der allmorgendliche Blick in die Tageszeitung. Schließlich musste man genügend Inhalte aufnehmen, um die ganze Welt getrost verdammen zu können. Genau diese gesamte Chronologie war bereits in Fleisch und Blut übergegangen und bestimmte seit Jahren die ersten Minuten seines Tagesablaufs.

    So auch diesen Morgen. Und doch sollte der heutige Tagesbeginn sich etwas anders gestalten, als zunächst vermutet. Nicht etwa, dass die Horrorprognosen zum Klimawandel weniger geworden wären. Nein, daran lag es nicht. Es lag auch nicht daran, dass die Anzahl der Verkehrstoten wieder drastisch angestiegen war. Auch das war nicht der Grund.

    Nein, die Ursache, weshalb dieser Morgen sein Leben nachhaltig verändern sollte, war vielmehr im lokalen Mittelteil der Zeitung zu finden. In der Rubrik der Kontaktanzeigen. Noch nie zuvor hatte er sein Augenmerk auf diesen Teil der Zeitung gelegt. Niemals hatte er auch nur einen Gedanken daran verschwendet, sich eine dieser Anzeigen auch noch zu lesen. Wer war schon so verzweifelt, sein Glück über eine Annonce finden zu wollen? Höchstens schwule Buchhalter oder dicke Hausfrauen. Menschen, deren Selbstwert am Nullpunkt war und die zu faul, zu feige oder zu fett waren auf konventionellem Weg einen Partner zu finden. Was sollte er von solch einem Typus Mensch halten? Eigentlich nichts.

    Doch just an diesem Morgen stoppten seine Augen unweigerlich an dieser Seite. Er konnte gar nicht anders. Es war ein Foto, das ihn beinahe magisch in den Bann zog. Das Foto einer Frau, die mit ihrem Lächeln und ihrem sanften Blick direkt in sein Herz traf. Sie hatte auf den ersten Anblick das, was man das gewisse Etwas nennen konnte. Wie vom Donner gerührt stierte er auf ihr makelloses Konterfei. Es war einer dieser Momente in dem schlagartig das schlechte Gewissen in ihm hochfuhr. Ein Moment in dem sein Blick sofort zur Türe ging, um sich zu vergewissern, dass niemand kam. Ein Moment der selbstaufoktroyierten Schuldigkeit. Doch es kam niemand. Seine Frau schlief noch seelenruhig und auch die Kinder waren noch in ihren Zimmern. Und das war auch gut so.

    Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf das Foto: Romana, 35 Jahre, blondes Haar, sportliche Figur, großer Busen und ein offensichtlich guter Geschmack, was Mode anbelangte. In ihrem roten Kleid und den offenen langen Haaren hatte sie sogar eine frappierende Ähnlichkeit mit seiner ersten Jugendliebe. Auch sie hatte wallendes blondes Haar und ihr Faible für Rot war ihm heute noch im Gedächtnis. Ganz gleich, welches Shirt oder Jäckchen sie damals trug, es war rot. Egal, welches Haarband ihren Zopf zusammenhielt, es war rot. Die Halskette: rot. Und selbst ihre Socken, daran konnte er sich noch peinlich genau erinnern, waren rot. Mit eingestickter Mickey Mouse!

    „Hallo, mein Name ist Romana und ich komme aus Linz. Ich bin eine selbstbewusste und spontane Person, die eine eigene Firma im Webbereich leitet. Ich habe eine Tochter mit siebzehn Jahren, die nächstes Jahr im Gymnasium in Urfahr maturieren wird. Ich bin nun bereits seit mehr als zwei Jahren Single und suche einen Partner mittleren Alters, der meine Vorlieben mit mir teilt. Ich fahre leidenschaftlich gerne mit dem Mountainbike und spiele gerne die eine oder andere Runde Golf."

    Er stoppte und rekapitulierte. Bis hierher hatte er noch nichts gelesen, das ihn zum Aufhören bewegt hätte. Alles schien soweit ganz gut. Nicht einmal die Tatsache, dass scheinbar eine Tochter mit von der Partie war bereitete ihm Unbehagen. Ganz im Gegenteil. So würden seine beiden Töchter eine ältere Schwester bekommen, die sich glänzend um die beiden kümmern könnte. Und er würde zur Belohnung die Mutter einheimsen. Bis hierher also die besten Voraussetzungen. Seine Augen suchten die nächsten Wörter.

    „Ich reise auch sehr gerne und möchte viel von der Welt sehen. Was ich hingegen gar nicht ausstehen kann, sind Reisen in den hohen Norden. Ich bin eher der Sonnenscheintyp und fühle mich im Süden wohl. Ach ja, eine meiner großen Schwächen ist auch die italienische Küche und wenn ich nicht gerade selbst am Herd stehe, dann suche ich schon einmal den Italiener um die Ecke auf. Soviel nun zu mir. Wenn du ein großer und sportlicher Mann bist, der so in etwa die gleichen Vorlieben hat wie ich, dann würde ich mich freuen, von dir zu hören. Und wenn du noch dazu aus der näheren Umgebung bist, dann würde es mich noch mehr freuen, von dir zu hören. Mach es gut, Romana."

    Das hatte gesessen. Das war es, was einen guten Morgen ausmachte. Er lehnte sich gelöst zurück, trank einen Schluck Kaffee und ließ seine Gedanken kreisen: Linz, Reisen, Italien, Sonnenscheintyp.

    Dann blickte er nochmals auf das Bild. Musste es nicht irgendwo eine Kontaktadresse geben? Ein Kennwort oder eine Chiffre Nummer? Er fand etwas. „Falls Sie Kontakt mit der Person aufnehmen wollen, dann senden Sie eine E-Mail an unserekronenzeitung@presse.at mit dem Kennwort Romana, 35, Linz und hängen Sie Ziffer 4 hinten an. Wir leiten Ihre Mail dann weiter, übernehmen aber keine Gewährleistung, dass die kontaktierte Person sich bei Ihnen rückmeldet."

    In seinem Kopf begann es plötzlich zu arbeiten. Ein Gedanke begann den nächsten zu jagen. Was würde eigentlich im schlimmsten Fall passieren, würde er wirklich Kontakt mit ihr aufnehmen? Würde seine Frau Verdacht schöpfen? Was, wenn Romana wirklich antworten würde und sich mit ihm treffen wollte? Sollte er absagen? Sollte er gleich in die Offensive gehen? Oder sollte er es einfach nur lassen, um den familiären Frieden nicht zu gefährden? Er blickte erneut zur Türe und fühlte seinen Puls schneller werden. Doch immer noch war alles ruhig.

    Seine Augen wanderten nervös zurück zur Kontaktadresse. Wie fremdgesteuert tippte er die ersten Buchstaben des Kennwortes in seinen Computer: Romana, 35, … er hielt kurz inne. Was sollte er eigentlich genau zurückschreiben? Und vor allem musste er es so schreiben, ohne dabei gleich verzweifelt oder anstößig zu wirken. Seine Finger tippten weiter in die Tastatur.

    „Hallo, liebe Romana! Mein Name ist Edgar und ich bin siebenundvierzig Jahre alt. Beruflich bin ich als Einkaufsleiter bei einer internationalen Maschinenbaufirma tätig und für die Zulieferung der Rohstoffe zuständig. Ich delegiere einen Mitarbeiterstab von rund zwölf Personen und weiß was es heißt in einer leitenden Funktion tätig zu sein. Außerdem teile ich dieselben Vorlieben wie du: Reisen, Golfspielen und Mountainbike. Ich habe zwei aufgeweckte Töchter im Alter von dreizehn und fünfzehn Jahren, die beide das Gymnasium Landwiedstraße besuchen."

    Er runzelte die Stirn. Sollte er wirklich all diese Informationen preisgeben? Es kam ihm vor wie ein Seelenstriptease, den er gerade beging. Schlussendlich öffnete er sich peu a peu einer bis dato Unbekannten. Sollte er dieser Person überhaupt alles anvertrauen? Er begann alles nochmals im Kopf durchzuspielen. Doch wie er es auch drehte und wendete, jeder Gedanke endete bei einer inneren Stimme, die ihn mit einem bestimmenden Mach weiter, du Weichei! zum Weiterschreiben drängte. Er war schließlich selbst immer noch sein kompetentester Berater. So klopfte er die nächsten Zeilen in die Tasten.

    „Ich wohne am Römerberg in einer Dachterrassenwohnung und bin dort abends bevorzugt bei einem guten Gläschen Wein am Balkon anzutreffen. Ich blicke dabei über die Dächer auf die Donau. Ich könnte mir jedoch sehr gut vorstellen, das nächste Glas in deiner netten Gesellschaft beim Italiener mit dir zu trinken. Nachdem auch ich ein Fan der mediterranen Küche und Kultur bin, würde sich so ein netter Abend doch anbieten, oder? Wenn du also mit einem sportlichen und sympathischen Mittvierziger ein paar unvergessliche Stunden verbringen möchtest, dann würde ich mich riesig freuen, von dir zu hören bzw. zu lesen. Bis dahin wünsche ich dir alles Liebe und Gute, Edgar."

    Geschafft! Er hob seinen Blick und ließ ihn über das Geschriebene wandern. Alles passte. Keine Rechtschreibfehler. Keine Überlänge in den Sätzen. Und vor allem keine plumpen Floskeln oder abgedroschene Phrasen. Er hasste solche verbalen Banalitäten. Sätze, wie "Ich möchte mit dir im zarten Mondschein in den

    Sonnenuntergang segeln. oder Ich habe ein Leben lang nur auf dich gewartet. In diesen Sätzen spiegelte sich keinerlei Echtheit wider, keine Authentizität. Nur Ideenlosigkeit und der Unwille, einer gewissen Kreativität Raum zu geben. Diese Ecke wollte er jedenfalls nicht bedienen. Und sein Spruch mit dem Italiener schien ihm auch passender, als ein langweiliges Willst du mit mir einmal essen gehen?" Insofern passte alles zusammen. Das Einzige, was jetzt noch fehlte, um die Sache ins Rollen zu bringen, war das Drücken der Entertaste.

    Doch plötzlich hörte er Schritte draußen im Flur, die immer näher in Richtung Esszimmer kamen. Schlurfend und laut hörbar die Pantoffel hinten nachziehend. Einmal flappte der eine, dann der andere. Bis nur noch ein dunkler Schatten das Glas in der Tür verdunkelte und die Klinke sich langsam nach unten bog.

    „Guten Morgen!, drang es an sein Ohr. „Nur damit du es weißt, du musst die Kinder heute nach der Schule zum Reitunterricht bringen und um spätestens vier Uhr wieder abholen. Clara muss noch die letzten Vokabeln lernen und Sophia kennt sich bei den Bruchrechnungen nicht aus. Vielleicht kannst du ihr ja bei ein paar Beispielen helfen. Du kennst dich ja so gut aus mit Mathematik. Gott sei Dank ist bald Ferienzeit. Dann hat der ganze Stress ein Ende. Ich treffe mich heute mit den Mädels und komme erst gegen neun. Also braucht Ihr mit dem Essen nicht auf mich zu warten. Die Rinderfilets sind noch im Tiefkühler. Vielleicht kannst du den beiden ja ein paar Pommes dazu machen. Du weißt ja, das mögen sie so. Die Kartoffeln dazu sind in der Speise. Oder du machst ihnen einfach Reis. Das überlasse ich dann dir.

    Die Esszimmertüre fiel wieder in das Schloss. Ein Zucken huschte über sein Gesicht. So, als hätte er vergessen, die Herdplatte vor einer Reise abzudrehen.

    „Oder nein, mach ihnen lieber Pommes", hörte er es nochmals vom Flur, ehe die Schritte in Richtung Badezimmer verhallten.

    Das war knapp. Ein Schritt weiter in das Esszimmer und sie hätte direkt auf den Bildschirm geblickt und die ersten unangenehmen Fragen des Tages gestellt. Doch er kam mit dem sprichwörtlichen Schrecken davon. Nochmals starrten seine Augen auf die Eingabetaste. Sollte er drücken oder nicht? Sollte er das Risiko eingehen? Konnte er seiner Frau und den Kindern noch in die Augen sehen, wenn eine Notlüge nach der anderen seine Lippen verlassen würde? Oder würde es ihm egal sein? Würde ihm ein flüchtiges Treffen mit einer schönen Unbekannten mehr wert sein, als seine Ehe? Italienische Vulkanausbrüche oder Bruchrechnungen? Golf oder Reiten? Pasta oder Pommes? Edgar blickte nochmals zur Türe. Dann drückte er Enter.

    BERICHT 2

    Montag, 3. Juli, 7: 32 Uhr

    Mit einer neuen Frau im Haus, tauscht man nur den Teufel aus

    Nachdem Edgar den Laptop zugeklappt hatte, erledigte er die letzten Handgriffe zuhause. Dann schloss er alles ab, stieg in den Aufzug und fuhr in die Tiefgarage hinunter. Als er im Auto am Weg zur Arbeit saß, wirkten Lydias Worte aus der Küche noch nach. Er fühlte, dass erneut ein Tag der Fremdbestimmung für ihn begonnen hatte. Wie so oft. Das Gedudel aus dem Radio tat das Übrige für seine Stimmung.

    „Always look at the bright side of life", schallte es durch das Auto.

    Er drehte den Lautstärkeregler zurück. Wenigstens hielt der Verkehr sich an diesem Morgen in Grenzen. Nur ein paar vereinzelte Autos hier und da. Ansonsten kein gröberes Aufkommen. Es war vielerorts Betriebsurlaubszeit und das machte sich auch auf den Straßen bemerkbar.

    Ursprünglich hätte auch er jetzt bereits seinen Urlaub antreten können. Doch zu Gunsten eines Kollegen hatte er sich bereit erklärt, für ihn einzuspringen und die nächsten paar Tage freiwillig den Journaldienst zu übernehmen. Er bog auf die Hauptstraße und drückte etwas auf das Gas. Immer noch waren fast keine Autos zu sehen. Freiwillige Dienste waren sonst ja nicht so seine Sache. Aber in wirtschaftlich unsicheren Zeiten wie diesen, konnte es nicht schaden hin und wieder seinen guten Willen zu heucheln. Nicht, dass es ihm so erging wie seinem Arbeitskollegen Mike, der auf der Abschussliste der Firma stand, weil er nicht einmal ordentlichen Kaffee für die Belegschaft brühen konnte.

    Doch im Grunde genommen hatte er es relativ gut erwischt. Dienstzeiten von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags und an den Freitagen bis drei Uhr. Dabei fünf Wochen Urlaub im Jahr bei vierzehn Gehältern. Und nachdem er bereits seit mehr als zehn Jahren in diesem Unternehmen arbeitete, fiel er bereits in die dritte Lohnstufe der internen Bonuszahlungen. Somit also ein solider Rahmen. Wenn er sich überdies nicht ganz dämlich anstellte, dann würde nächstes Jahr sein Urlaubskontingent sogar auf sechs Wochen erhöht werden. Bezahlt, verstand sich. Alles in allem war seine Arbeitsstätte demnach so etwas wie eine Insel der Seligen im weiten Meer der vielen anderen unglücklichen Arbeitssklaven.

    Zuhause durfte er das natürlich nicht zu laut herausposaunen. Hier musste der Eindruck geweckt werden, dass die Arbeit unmenschlich und kolossal anstrengend wäre. Hier hatte der Job als unglaubliche Belastung verkauft zu werden. Die Belohnung dafür war hin und wieder abendlich auf der Couch den Opferstatus genießen zu können und sich der Rolle des Lakaien entledigen zu können. Und wenn es ab und an auch noch einen frei erfundenen Stau bei der Heimfahrt gab, dann war ihm vielleicht sogar der gewünschte Fernsehkanal sicher. Ja, in der Art hatte er sich seine Vorteile und Freiräume zu schaffen. Mit inszenierten Geschichten und kleinen Lügen.

    Er passierte den Bahnhof, wo nebst Zugverkehr auch das öffentliche Busnetz der Innenstadt zusammenlief. Schon als Kind wusste er, dass hier der Dreh - und Angelpunkt von Linz war. Wenn damals die angekündigte Verwandtschaft abzuholen war, dann war sie hier zu holen. So etwa, wenn Tante Birte und Onkel Detlev aus dem deutschen Bremerhaven per Zug zum unverhofften Besuch anreisten. Diese Stippvisiten der Piefke - Bagage, wie sein Vater sie abschätzig zu nennen pflegte, markierten dann den Punkt, an dem er verstimmt in das Auto stieg und sie hier in der großen Bahnhofshalle in Empfang nahm.

    Doch auch wenn Onkel Adi aus Sandl sich mit dem Bus ankündigte, traf man sich hier. Der lustige Onkel Adi mit dem schmucken Oberlippenbärtchen und den schwarzen Springerstiefel. Und meistens im Schlepptau seine noch lustigere Tante Eva, die immer lauter lachte, je später der Abend wurde. Zu fortgeschrittener Stunde konnte sie sogar in einer Fremdsprache reden. So dachte er als Kind zumindest. In Wirklichkeit war sie nur zu betrunken, um noch einen halbwegs sinnvollen Satz herauszubringen. Das wusste er heute. Aber ganz gleich, wer mit Bus oder Bahn kam, hier war immer die Zusammenkunft.

    Und exakt hier, an diesem Bahnhof, hatte auch er einige Jahre später viele seiner Stunden zugebracht und seine großen Lebensträume geschmiedet. Wie oft saß er in Zukunftsvisionen versunken an den Bahnsteigen und wartete zu, dass sein Zug ihn zu den Vorlesungen an der Universität brachte. Wie viele Male hatte er die Lautsprecherdurchsagen gehört, während er in der Wartehalle über seinen Skripten und Büchern brütete. Und für was? Für dieses Leben, das schon so gebraucht daherkam? So gelebt?

    Eine Hupe riss ihn kurz aus den Gedanken. Ein Kleinwagen war mit einem Laster touchiert und blockierte die Gegenseite der Fahrbahn. Überall lagen Glassplitter und Blechteile. Eine Frau saß weinend am Straßenrand. Sie gestikulierte wild und war völlig aufgelöst. Scheinbar war es ihr Auto, das nun reif für die Schrottpresse dastand. Die Motorhaube war keine Motorhaube mehr, sondern glich vielmehr einer aufgerollten Sardinenbüchse. Das Blech faltete

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