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NUR EINE STUNDE
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eBook199 Seiten2 Stunden

NUR EINE STUNDE

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Über dieses E-Book

Bayreuth an einem Tag im August. Im Festspielhaus fällt der Vorhang nach dem zweiten Aufzug des Musikdramas Tristan und Isolde. Konrad Wiechmann, ein aus Kiel angereister Festspielbesucher, begibt sich in die einstündige Pause. Die Nachwirkungen der betörenden Musik entfachen in ihm einen Gedankenflug aus Fiktion und Wirklichkeit.

Eine verschwommene Persönlichkeit versucht sich zu ordnen. Aufgerieben zwischen Selbstbehauptung und Fremdbestimmung, begleitet von der Hingabe an eine Ästhetik des Niedergangs, erkennt sie immer mehr die Unmöglichkeit ihrer Selbstenträtselung.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Feb. 2015
ISBN9783732324781
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    Buchvorschau

    NUR EINE STUNDE - Ulrich Strohauer

    Schattenwelten

    Dröhnend zerstob das Orchester den letzten Takt. Mit der geschliffenen Präzision einer Guillotine spaltet der senkrecht fallende Vorhang den Augenblick. Es folgen Dunkelheit und Stille. Bedächtig durchstochern meine Pupillen die künstliche Finsternis, zunehmend geraten sie in den geheimnisvollen Strudel einer alles verschlingenden Magie, die mich mitreißt in die Nacht; – als hätte das soeben vergossene Blutopfer auf der Bühne eine überzeitliche Sogwirkung im Schlepptau.

    Nach außen herrscht vollkommene Stille, und gäbe es einen Zustand nach der Stille, dann müsste es dieser sein.

    Die Welt ohne Geräusch wirkt aufgesetzt, geradezu unnatürlich, was kaum überrascht, schließlich ging der Totenstille eine listig inszenierte Dramatik voraus, die in krassester Ausartung von Gefühlsaufwallungen den heftigsten Kontrast dazu geboten hat. Interessanter scheint mir die Frage, oder besser, das fragende Gefühl, denn diese Frage ernsthaft, womöglich gar vor Zeugen, zu stellen, käme mir lächerlich vor, die Frage, welche von diesen Welten die wirklichere ist, welcher ich mich zugehörig wähne, und ob ich mir aussuchen darf, in welcher ich heimisch sein möchte und eines Tages sterben will.

    Worauf gründet sich der mystische Gleichklang im Publikum, der seinen Ausdruck im kollektiven Bedürfnis nach Stille findet, auf das Resultat anerzogener Disziplin oder auf den dramaturgisch angestrebten und heute möglicherweise gelungenen Feldversuch mit dem Ergebnis von unentstellter Ergriffenheit? Ich liebäugel mit der Ergriffenheit, woraus sich allmählich mehr als Liebäugelei entwickelt, bis schließlich alle Zweifel schwinden.

    Überall, sei es hier, in der schweißvernebelten Galerie, oder im lau durchwehten Parkett, in jedem Winkel des riesigen Raums herrscht ein stummes Gesetz. Es diktiert momentan nicht nur das Benehmen, sondern gleichsam das, was gemeinhin dazugehört, um sich benehmen zu können, und das hat, wenigstens ein bisschen, mit Denken und Nachdenken zu tun. Das kann dabei rauskommen, wenn das von Todessehnsucht triefende Werk luziferische Mittäter findet, experimentierfreudige Regisseure und mutige Dirigenten, die sich bis zur Selbstaufgabe der Partitur unterordnen und damit zugleich eine unheimliche Macht auf das Publikum ausüben.

    Der Text des ungeschriebenen Gesetzes ist zwar nirgendwo nachzulesen, dennoch wird er, je nach individueller Stimmungslage und Zufriedenheit mit der abgelieferten Leistung, strikt befolgt, sei es aus Respekt, Zurückhaltung, Ehrfurcht, Ergriffenheit oder Ängstlichkeit. Kein Finger kratzt lautstark über die Bartstoppeln, weder ein Huster noch ein geisttötendes Räuspern schleudert die stille Gemeinde ins profane Diesseits. Dieser Zustand läuft jeder Normalität zuwider und nährt deshalb den Gedanken, diktaturerfahrene Mitverfasser des Dekrets, so was ähnliches wie eine Festspiel-Stasi, hätte sich kontrollierend unters Publikum gemischt und bedroht jeden Abtrünnigen mit der Lynchjustiz, was in der halbwegs zivilisierten Festspielrealität so viel heißt wie unwiderruflicher Kartenentzug.

    Körpersäfte haben ihr Eigenleben. Schon länger spürte ich den Schweiß zwischen meinen Augen, der sich in der senkrechten Falte sammelte und inzwischen zum Tropfen angewachsen ist. Jetzt bricht der Damm, zäh wie dickes Öl gleitet er abwärts, staut sich immer wieder, nun am Brillensteg, überwindet auch diesen, und schießt zunehmend geschwinder runter, bis er unter meinen wischenden Händen auf der Wange mäandert.

    Gleich ist es vorbei, das Theater nach dem Theater, jene improvisierte Subpartitur, die von keinem Programm ankündigt wird, die aber für das Überleben des Werks mindestens so wichtig ist wie die Komposition selbst. Denn was taugte schon ein Drama, wenn es an echten Menschentränen mangelte, an innerster Teilhabe, nicht nur am Schicksal der Protagonisten auf der Bühne, sondern am Schicksal des Menschseins an sich. Welchen überzeitlichen Wert besitzt eine Darbietung, wenn die Zeitungen am nächsten Tag allein die sterile Brillanz von Orchester, Dirigat und Gesang zu würdigen wüssten?

    Endlich und plötzlich zugleich brechen sie los, die erwarteten und befürchteten Bravos und Buhs, sie sprengen die Sprachlosigkeit und zerstreuen die letzte Verkrampfung in meinem verfallserotisch gebrandschatzten Oberstübchen. Platzregen von abertausend Händen kesselt mich ein, er schwillt an zu gigantischen Flutwellen, die mich vom durchschwitzten Sitz direkt in den Orkus zu spülen drohen.

    Mühsam ringen meine Augen dem Schatten da unten, wo ich die Bühne vermute, erste Umrisse ab, als die Schneide plötzlich wieder nach oben rast. Zugleich beleuchten peu á peu die Strahlen künstlichen Glimmers eine gott- und seelenverlassene Trümmerstätte, die mehr dem Mond gleicht als der Erde. Das also soll der Gründungsmythos der Pause sein, in die die Regie das Publikum jetzt entlässt. Auf dieser Ruine, eine Allegorie des Scheiterns, steht nun für eine Stunde jene Maschinerie still, die bis eben noch alle dramatischen und technischen Anstrengungen unternommen hatte, die wesentlichen Merkmale menschlichen Ungemachs im Zeitraffer einer musikdramatischen Darbietung rauschhaft und zauberisch verklärt auf die Bühne zu hexen.

    Man könnte annehmen, der Applaus versuchte den Liebestod noch zu übertrumpfen. Soll ich mit einsteigen, mich dem Diktat unterwerfen? Was ich bis eben nicht durfte, soll ich jetzt müssen? Ich weiß, der Vergleich hinkt, trotzdem, ich denke an eine Galeere, alle werden zum Rudern gepeitscht, von weitem ein ästhetischer Anblick, je näher ich mir aber das Bild ran hole, desto unansehnlicher wird es, oder, positiv bewertet, differenzierter. Nicht nur wegen der unmenschlichen Bedingungen im Unterdeck, sondern aufgrund der Verschiedenheit der Menschen. Stets verwandelt sich das große Miteinander beim näheren Hinsehen zum Nebeneinander. Die Vorstellung, Großes gemeinsam zu erleben, ist das Ergebnis einer von Sehnsucht getriebenen und zugleich von ihr bestochenen und somit manipulierten Wahrnehmung. Ich stelle mir vor, dem Enthusiasmus der Massen die Kleider vom Leib zu reißen und stoße auf einen Beutel mit Glasperlen, das Synonym für das verschlungene Mosaik von Einbildung und Spekulation, das mir an jeder Ecke angedreht wird, mitunter auch erfolgreich. Jeder wird zum Artisten auf dem Trapez des glitschigen Weltzirkus erzogen, und so vielversprechend es auch erst mal angeht, irgendwann kommen die Gleichgewichtsstörungen.

    Nun kommt Bewegung auf die Bühne. In umgekehrter Reihenfolge ihrer Bedeutsamkeit, also die Nebenrollen zuerst, treten die Künstler vor den Steinbruch und nehmen, je nach erbrachter Leistung, ein Spektrum, das vom erkältungsbedingten Gekrächze bis zur gesanglichen Großtat reicht, ihren Applaus entgegen, der in fein differenzierter Abstufung ihre Anstrengung honoriert, oder besser bemüht ist, dieser gerecht zu werden. Denn nicht immer basieren solche Huldigungen auf objektive Urteilsfähigkeit, mitunter dienen sie auch der Mythospflege, als Anerkennung für das Lebenswerk eines Künstlers, der auch mal indisponiert sein darf. Und so müssen einige einmal mehr bitter erfahren, dass es im Leben nicht immer gerecht zugeht, ja, dass die Gerechtigkeit selbst womöglich einer Tagesform unterliegt. Die launische Natur hat viele Facetten.

    Das Publikum nimmt die Vorstellung geteilt auf. Sein Raunen gilt zuerst der schrottigen Bühne, dann der narzisstischen Regie, die zudem an Platzangst leidet, ein weit verbreitetes Phänomen, das mich oft fürchten lässt, die Protagonisten könnten beim nächsten unachtsamen Schritt in den Orchestergraben stürzen; was hier nicht so schnell passieren kann, jedenfalls nicht, solange die Abdeckung hält. Ich habe es mir inzwischen abgewöhnt, wegen der Bühne Herzrhythmusstörungen zu riskieren, folglich habe ich für alle Eventualitäten meine eigenen Bilder im Gepäck. Andere, darunter nicht wenige, die es zweifellos gut mit mir meinen, nennen das geistige Erstarrung, weswegen ich versuche, mich von den Konserven zu befreien, zu emanzipieren, im besten Falle zugleich ein bisschen von mir selber, worin ich, zumindest beim nüchternen Blick auf den Modellcharakter des Vorhabens, mehr Vorteile als Nachteile erkenne. Doch wie es aussieht, handelt es sich um ein länger angelegtes Projekt. Wenigstens weiß ich jene auf meiner Seite, die im Weg das Ziel sehen.

    Auch wenn das Drama noch nicht zu Ende ist, so behaupte ich schon jetzt, dass jene am zufriedensten sein werden, die mit einer konservativen Erwartung angereist sind und in etwa wissen, was sie erwartet, die es jedoch drauf haben, den Bühnenhokuspokus zu isolieren, und sich, nunmehr losgelöst von allem bildhaften Schrecken, dem reihen Genuss der Musik in ihrer Eigenschaft als Weltschmerztablette hinzugeben, eine Musik, die nur in diesem Hause, das eigens für die monströse Orchestrierung wagnerscher Werke konstruiert worden ist, adäquat zur Wirkung kommt. Dieser Personenkreis liegt mir am nächsten. Die fürchterlichste Inszenierung kann ihnen nichts anhaben. Geleitet von der berechtigten Erwartung, jeder Versuch, ein Werk zu realisieren, das viele bis heute für unaufführbar halten, müsse folgerichtig im stümperhaften Schiffbruch enden, schließen sie notfalls die Augen. Gewiss sind auch einige unter ihnen, die es bedauern, sie je wieder öffnen zu müssen. Meine gingen jedenfalls wieder auf.

    Ich spüre die Verschiedenheit der Leute um mich herum. Den Phlegmatischen ficht so schnell nichts an, stoisch glotzt er auf die Trümmerbühne. Anders der Cholerische, erst recht, wenn er zu den Traditionalisten zählt; fassungslos schüttelt er den Kopf, dann der Berufsgenervte, eben wettert er über die Schutthalde da unten, morgen ist es das Fernsehprogramm und übermorgen die Steuererhöhung.

    Da, eine Reihe vor mir, ein bekanntes Männergesicht. Offenbar ohne Karte angereist, verbrachte er die letzte Nacht im Schlafsack vor der Kasse, um morgens der Erste zu sein. Genützt hat es ihm nichts, und so schleppte er sich tagsüber mit rot beringten Augen über den Parcours. Ich habe ihn noch vor mir, in den Händen den Pappfetzen mit SUCHE KARTE drauf, offenbar rausgerissen aus einem Schuhkarton, ein skurriles Teil, dem Experten auf dem Gebiet der Bildenden Kunst, und dabei voll auf Höhe zeitgenössisch gesicherten Beurteilungsvermögens, womöglich das Prädikat künstlerisch wertvoll verliehen hätten. Hier ging er leider leer aus. Irgendwie hat er tatsächlich ein Ticket ergattert, plötzlicher Herztod eines Festspielgastes, Schwarzmarkt oder Raub, anders kann es nicht gewesen sein. Jetzt blickt er ringsum, streift mich, als hätte er mich denken hören; sein Gesicht sieht noch immer aus wie ein ungemachtes Bett. Dabei kommt ja noch ein ganzer Aufzug, was heißt kommt – droht.

    Eine seltsame Neigung treibt manche, die bei der Kartenbestellung wieder mal eine Absage einstecken mussten, in das Abenteuer, auf gut Glück anzureisen, ein Widerholungszwang etwa, die Sucht nach dem Desaster oder eine andere pathologische Macke, jedenfalls etwas schwer Vermittelbares. Im schlimmsten Fall, und der schlimmste Fall ist überwiegend die Regel, steht der vergeblich angereiste Pilger allein mit der Frage, warum er sein schlechtes Karma ausgerechnet hier abzubüßen hat, hier, am Ort der Verheißung.

    Die Liturgie ist fast zelebriert, lediglich ein kurzer Moment der Reife fehlt noch für den Schritt ins Hier und Jetzt. Übertragen auf eine Klinik, ein Vergleich, der bei der Beschreibung kulturellen Geschehens immer irgendwie passt oder entsprechend hingebogen werden kann (wobei die Nervenklinik eindeutig näher liegt als die Chirurgie), hätte der behandelte Patient nach der Narkose im Aufwachzimmer soeben das Bewusstsein wiedererlangt, wäre aber noch zu schwach auf der Brust, um von allein hoch zu kommen.

    Applaus ohne Ende, immer mehr Bravos und weniger Buhs, soviel zum akustischen Gesamteindruck. Eigenartig, die Leute schlagen sich in fürchterlichster Kakophonie die Hände rot, erzeugen dabei ein höchst unmusikalisches Geräusch, und alle deuten das als Geste der Wertschätzung. Und was für Hände dabei rührig werden, zarte Schreibtischtäterhände, unauffällige Durchschnittspfoten, dazwischen wieder rechteckige Schaufeln und regelrechte Schlachterklauen.

    Angesteckt oder angestiftet von diesem Klangbrei, einer besonderen Unterart akustischer Luftverschmutzung, reiße ich meine Hände aus dem Schoß, hebe sie empor, überrascht davon, wie virtuos und widerstandslos ich in den martialischen Nachklang einzustimmen bereit bin. Ich helfe mit, das Sakrale zu atomisieren, ich, der willige Helfershelfer, unterwerfe mich dem Befehl eines kollektiven Kommandos, ich, der Mitläufer, die zuverlässige Stütze eines Trägheitsgesetzes. Es ist nicht zu leugnen, zumindest ein Teil von mir ist der Schall gewordene Wille der anderen.

    Anders als sonst forme ich meine Hände diesmal nicht zur Eierkugel, die stets ein hohles Blubb freisetzt, diesmal laufen sie spitz zu. Sobald die glatt gebügelten Handflächen hell aufeinander schlagen, muten sie an wie die zusammen geklebten Hände eines betenden Mönches. Schnell fallen sie zurück in den Schoß, nicht als Ausdruck von Verdrossenheit, sondern weil mein Applaus in Intervallen folgt.

    Die fallende Schneide läutet das Ende des Geklatsches ein, gleichzeitig wird es hell, ein Vorgang, der mir am aktuellen Beispiel erneut belegt, dass man sich in einem Punkt auf das Licht völlig verlassen kann, es fördert die Zerstreuung. Das Licht ist der natürliche Feind aller Gespenster, schon ein spärlicher Glimmer hält sie in Schach. Wie damals im Kinderzimmer, ich erwache nachts aus einem bösen Traum und ängstige mich im Dunkeln. Sobald aber von der Straße her die hellen Lichtkegel vorbeifahrender Autos die Wände entlang rasen, hauen die Dämonen ab. Ich falle noch weiter in die Zeit zurück und entrolle das Panorama meiner ersten Erinnerung überhaupt. Den Ort kann ich genau bestimmen, ich war drei oder vier, es war Winter, und es hatte leicht geschneit. Ich befand mich auf einem von Schlaglöchern übersäten Weg und schaute himmelwärts in eine gelähmte Sonne, die das hochvernebelte Firmament zu durchstrahlen versuchte. Noch heute sehe ich den gleichen Himmel, die gleiche Sonne und den gleichen hohen Nebel, manchmal, am Meer. Und es ist noch immer das gleiche bewegende Schauspiel, wenn die Sonne sich bis Mittag mit der genüsslichen Gier eines Eis essenden Kindes durch die nasskalten Schwaden hindurchleckt. Ich stelle das einstige Bild neben das heutige, und eine untrügliche Stimme flüstert mir zu: Deine vernebelte Sonne von einst und der heutige Blick durch den Dunst am Meer sind nicht das Gleiche, sie sind Ein und Dasselbe. Dann katapultiert es mich zurück zum Thema auf der Bühne, die Suche nach Ganzheit, nach Überwindung der zerrissenen Welt, es geht um unstillbare Sehnsucht und unvermeidliche Trauer. Die Liebenden kommen nicht zusammen, die Gräben sind zu tief. Allein der Tod als Bindeglied zwischen unerfüllter Gegenwart und hoffnungsvoller Zukunft verheißt Erlösung. Und dieser Tod ist groß angelegt, in der Manier des 19. Jahrhunderts, Sterben in Schönheit, mit großer Gebärde und weltüberwindender Musik.

    Der Applaus verebbt, dafür steigt der Gesprächspegel an, Stimmen pro und kontra, Stimmen von Menschen, die das Erlebte unbedingt kommentieren müssen. Das geteilte Echo ruft eine gereizte Atmosphäre hervor, und stets lärmen die Lästerer lauter als die Zufriedenen oder die Gleichgültigen. Die Aufgeregtheit, mit der sich Kunstinteressierte am Zeitgeist reiben, erinnert mich immer wieder an den tanzenden Wassertropfen auf dem glühenden Herd.

    Unauffällig richte ich mein Haupt nach vorn, während ich in Wahrheit den rechten Sitz neben mir ausspähe. Die beiden weißen Ringe, die zuvor frei im Schatten schwebten und gleißende Figuren in die Nacht malten, entpuppen sich als Rüschenbesatz an den Ärmeln eines freizügig dekolletierten schwarzen Kleides, das eine üppige Blondine für den heutigen Auftritt gewählt hat. Ihr dünnes Haar ließ sie zu einem Pagenkopf frisieren, der einerseits wie ein Kompromiss wirkt, zum anderen aber zeigt, wie einfach manchmal mit einem Mehr an Weniger ein ansprechendes Ergebnis erzielt werden kann. Weshalb ich gleich an einen Stahlhelm denke, weiß ich nicht, Gedankenketten sind manchmal unergründlich. An nichts haftend, schaut sie ringsum, und als ihr Antlitz mich streift, sehe ich in ein abwesendes, rundes, kreidiges Gesicht, das wie zeitverzögert hinterher lebt. Wie auch immer, spätestens im Treppenhaus wird sie die Gewalt über ihre Charakterzüge wiedererlangt haben, den neurotischen Kontrollblick, Skepsis, Dominanzsucht und Instinktsicherheit. Sie liebt den Genuss, ein trockener, schwerer Rotwein würde zu ihren schwarzrot nachgezogenen Lippen passen, die makellos übergehen in sanft abfallende Mundwinkel, dazu ein dunkles Timbre, das ich mir dazu denke. Sie ist in Begleitung eines wesentlich älteren, hochgewachsenen Herrn von sehniger Gestalt, schlank, schwarz gelockt und dauergebräunt, ein

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