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eBook564 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Marianne und Christian fühlen sich füreinander bestimmt. Dennoch entscheidet sie sich für einen anderen, mit dem sie ihr Bedürfnis nach Leidenschaft ausleben und dem Elternhaus entfliehen kann. Dessen Anspruchslosigkeit enttäuscht sie allerdings, und seine drogenbedingte Abwesenheit, als sie ihn unbedingt braucht, zerstört ihre Hoffnung auf Zweisamkeit. Aus Angst wählt sie fortan vermeintlich sichere Partner.
Nachdem er sie verloren hat, findet Christian Zuflucht in einer Beziehung, deren Wert er erst erkennt, als sie nicht mehr zu retten ist. Folgende Affären bescheren ihm temporäre Erleichterung. Als er die große Liebe gefunden zu haben glaubt und abermals scheitert, verliert er Zuversicht und Halt.
Zum Ende des Studiums genügt ein Anruf für ein Wiedersehen. Schnell kommen sie sich nah, bis er eine Diskussion um ihr Aidsrisiko anzettelt. Darüber empört entlarvt sie den Grund seiner Neugierde.
Nach Jahren treffen sie erneut aufeinander. Im Liebestaumel stürzt sie ihre Umgebung ins Chaos. Er dagegen versucht zu vermeiden, dass sich seine Welt in einen Scherbenhaufen verwandelt.
*
Der Roman startet Anfang der 1980er Jahre, kurz vor Mariannes und Christians Abitur. Beide stammen aus typisch deutschen, noch kinderreichen Familien. Ihre von der Nachkriegszeit geprägten Eltern machten erhebliche Abstriche bei der Partnerwahl. Der Lebensinhalt der Väter ist die Arbeit. Die Mütter geben sich mit dem Anschein eines trauten Heims zufrieden. Beide können die Früchte der sexuellen Befreiung ernten und ihr Leben selbst bestimmen. Das nötige Handwerkszeug zur Bewältigung dieser Freiheit und das richtige Maß für die Auseinandersetzung mit Liebe und Partnerschaft gab ihnen allerdings niemand mit auf den Weg.
Ihre Zeit an der Universität begleiten die Friedens-, Anti-Rüstungs- und Anti-AKW-Bewegungen, sowie der gesellschaftliche Druck zur Selbsterfahrung. Nach dem Berufseinstieg weichen ihre Ideale zunehmend materialistischen Interessen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. Jan. 2015
ISBN9783732310005
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    Buchvorschau

    Freie Zeit - Hubertus Schirfler

    1 IN DER SCHULE

    1.1 Dorfleben

    ‚Nicht zum Aushalten, lang mach ich das nicht mehr mit!‘ Der regnerische Frühsommertag im heimatlichen Dorf ödet Marianne an. Gelangweilt schaut sie aus dem Zimmerfenster in die Gärten der Nachbarn, und findet keine Antwort auf die Frage, wie sie dem Gefühl des sinnlosen Zeitvergehens entfliehen soll. Sie wirft sich auf die Matratze. ‚Die ganze Family bei der Oma, zwei schulfreie Tage, und was passiert? Nichts. Überhaupt nichts. Keiner hat Zeit zu irgendwas. Kein Freund verfügbar. Statt ne Fete zu organisiern, hauen alle ab. Den Samstag hab ich vertrödelt, und heut sieht‘s nicht besser aus. Nicht mal Clara will was von mir seit ihrem neuen Macker.‘

    Aus ihrem Ort Großniedesheim wegzukommen ist am Wochenende fast unmöglich. Busse fahren nur im Stundenabstand und die letzte Rückfahrt aus Frankenthal, gegen 21 Uhr, stellt für ein abendliches Ausgehen schlichtweg keine Alternative dar. Alleine losradeln ist für sie nachts zu gefährlich, von den zehn Kilometern Distanz einmal abgesehen.

    ‚Schon wieder dieses Kirchenglockengebimmel!‘ Jetzt, sonntags nach dem zweiten Kirchgeläut, verlassen die Dorfbewohner die Kirche und gehen nach Hause, wo sie ein warmes Mittagessen erwartet, oder sie ziehen hinüber zum Sportplatz am Ortsrand, um unter dem Vorwand, der mäßigen lokalen Fußballmannschaft beizustehen, einen Schoppen zu heben. Keine Aussichten, die sie reizen könnten, ihr Haus zu verlassen.

    ‚Ich muss was tun, sonst flipp ich aus!‘ Durch das gekippte Fenster dringt süßlicher Bratenduft, der sie hochschnellen und das Fenster missmutig zuschlagen lässt. Sie beschließt, die Schallplatte aufzulegen, die am vorigen Abend neben dem Plattenteller liegen blieb, hebt den Tonabnehmer an, um ihn gefühlvoll nach außen zu drücken, bis ein Klicken zu vernehmen ist, dem eine langsame, konstante Kreisbewegung folgt. Die Nadel führt sie vorsichtig zur Rille. Sie lauscht dem Knistern, atmet erleichtert auf, als schräge Töne einsetzen und irgendwann Jimmy Hendrix eine Antwort fordert: „Who knows?" Die du du dudu dada dadaa da, die du du dudu dada dadaa da. Ein Räucherstäbchen hilft, den Sonntagsbratengeruch der Nachbarin zu vertreiben.

    Sie klemmt eine Decke hinter den Rücken, um sich bequem gegen die Wand zu lehnen. Die schrillen Akkorde halten sie nicht davon ab, zu Hermann Hesses Taschenbuch zu greifen, das ihr Kalle vor einer Woche überließ, nachdem auch Clara es gelesen hatte. Der Titel versprach nichts Gutes, und zuvor hatte sie eigentlich beschlossen, von diesem Gemütsverderber nichts mehr freiwillig oder außerhalb des Deutschunterrichts zu lesen. Dennoch versinkt sie in die Lektüre, nimmt nicht einmal mehr wahr, dass die Musik irgendwann endet und das Aroma des Räucherstäbchens verfliegt. Stunden vergehen bis zur Unterbrechung durch die Haustürklingel.

    Obwohl sie nun lieber weiterlesen würde, schlurft sie hinaus und über den Flur, fühlt einen leichten Schwindel wegen des allzu zügigen Aufstehens und öffnet das Fenster des zweiten Stockwerks. Ihre Neugier bezüglich des Störenfrieds endet allerdings abrupt, sobald sie sein grünes, blank geputztes und ordentlich abgestelltes Peugeot-Mofa auf der anderen Seite der Hofeinfahrt sieht. Das hat mir grade noch gefehlt! Sie beugt sich nach vorn, ringt sich ein Grinsen ab, weil sie nicht unhöflich sein mag, und ruft grußlos hinunter:

    „Hi, Christian. Herbie ist nicht da; sind alle ausgeflogen!"

    Er scheint nicht zu verstehen, oder es fällt ihm nichts Passendes ein. Jedenfalls rafft er sich erst nach endlosen Sekunden auf, etwas von sich zu geben.

    „Verdammter Nieselregen!"

    Sein erneutes Schweigen verunsichert sie. Er ist weit gefahren und das Wetter wirklich nicht das beste.

    „Na gut, ich mach auf."

    *

    Er sieht sie hinter den Glasbausteinen die Treppe herunter kommen und würde am liebsten losheulen. Nur die Angst, ihr dann eine Erklärung zu schulden, hält ihn davon ab. Sich vor einem Mädchen lächerlich zu machen, das um ein Jahr älter ist, wäre schrecklich peinlich, weit schlimmer noch als ein abwertender Kommentar seiner Freunde.

    Keine Tränen und die Zähne zusammenbeißen, ermutigt er sich. Vielleicht ist es besser, dass außer ihr niemand daheim ist. Dass Herbie ihm tatsächlich helfen könnte, glaubte er ohnehin nicht recht. Schließlich waren die Verabredungen mit ihm in letzter Zeit nicht unbedingt erfreulich gewesen und ihre früher ausgezeichnete Freundschaft ging nach und nach buchstäblich vor die Hunde. Seit Monaten spielen sich insbesondere in Gruppen immer dieselben Szenen ab: nach lustlosem Geplapper und für ihn ohne jede Notwendigkeit packt ein Anwesender Plättchen und Tabak aus, um einen Joint zu drehen, und er, eingemachter Nichtraucher, lässt die Selbstgedrehten an sich vorbeiziehen, um sich nicht mit Hustenanfällen zu blamieren. Als sportorientierter Jugendlicher hat er schließlich keinerlei Interesse, sich an den beißenden Geschmack im Mund zu gewöhnen oder gar lästige Fragen seines Schwimmtrainers zu riskieren, wenn er plötzlich trotz stramm durchgezogener Trainingseinheiten wertvolle Sekunden auf der Hundertmeterbahn verliert. Später dann, mitten im vom Qualm verhangenen Zimmer, kreisen Sprüche und Parolen, die zwangsläufig in ein ihm leidiges Kichern münden, das er dennoch mit einem hohlen Grinsen begleitet. Er kommt sich beim Kiffen absolut überflüssig vor. Es ist nicht witzig zu erfahren, wie die Kumpels, denen er bis vor einem halben Jahr noch einen zumindest einigermaßen normalen Intelligenzquotienten zugesprochen hätte, grundlos und Hennen gleich vor sich hin gackern.

    „Hi."

    Als sie die Haustür öffnet, erinnert er sich gerade an eines dieser frustrierenden Treffen, zuckt erschrocken zusammen und blickt hilflos in ihre tiefgrünen Augen.

    „Marianne. Danke, dass du aufmachst."

    Eine zickige Windböe streift um die Hausecke, zieht an ihr vorbei in den Flur hinein, hebt ihr dunkelblondes, welliges Haar von den Schultern und legt ihre breite Stirn frei, die einen leisen Eindruck von Dickschädeligkeit erzeugt, im krassen Kontrast zu ihrer etwas rundlichen Nase, den weichen Wangen und blutroten Lippen.

    „Huch, wie‘s bläst."

    Durcheinander und auf sich selbst konzentriert nimmt er ihre wohlgeformten Brüste unter dem kurzen, engen T-Shirt und die sinnlichen Kurven ihrer Hüften, die einen erwachsenen Mann in derselben Situation wahrscheinlich aufwallen und zu unüberlegtem Handeln verführen könnten, überhaupt nicht wahr. Nur ihre Augen zählen, ruhigen Polen gleich, und es sprudelt aus ihm heraus, was nicht länger verschwiegen werden kann:

    „Ich bin durchgebrannt."

    Neugierig mustert sie ihn. Sie hätte ihm, dem ordentlich braven und korrekten Jungen etwas Derartiges nicht zugetraut. Noch bevor sein etwas desolates Auftreten ernsthaft Zuneigung oder Mitleid erweckt, wird sie sich allerdings eines Magenknurrens bewusst.

    „Ach! – Haste auch Hunger? - Komm schon rein!"

    Er nickt, schließt geflissentlich die Tür, legt seine verschlissene, gebraucht gekaufte Motorradjacke mitsamt Helm in die Garderobe und folgt ihr in die Küche. Während er zusieht, wie sie einen heißen Milchkaffee zubereitet, schlägt sie vor, den Tisch im Essplatz zu decken. Ihm ist es gleich, dass sie damit weiterhin ein Gespräch hinsichtlich seiner überaus handfesten Nachricht vermeidet. Er setzt sich in Bewegung, sucht Teller, Tassen, Besteck und Platzdeckchen zusammen, bis sie seine und ihre Tasse füllt, liebevoll mit einem Teelöffel Schaum krönt und endlich direkt neben ihm auf einem Stuhl landet. Bei Vollkornbrot, Butter, Honig und kräftigem Käse tauschen sie dann Banalitäten aus, und seine Anspannung hat sich deutlich verringert, als sie bei der dritten und letzten Schnitte angelangen. Ein paar Brotkrumen bleiben auf ihrem Teller zurück, die sie auf ihre flach ausgebreitete Hand schüttet und flink in den Mund schiebt, von einem Schmatzen und genüsslichem Abschlecken der Handfläche begleitet. Seinen etwas abschätzenden Blick beantwortet sie mit einem forschen Lächeln und wartet dann ab, wie und ob er reagieren wird, wenn er eine Weile ganz auf sich selbst gestellt ist.

    „Darf ich was Klavier spielen?"

    „Du weißt, wo‘s steht."

    „Soll ich dir helfen ‘n Tisch abdecken?"

    „Lass nur! Nicht nötig."

    Trotzdem sucht er einen Teil des Geschirrs zusammen und stellt es in die Küche, bevor er hinüber ins Wohnzimmer trottet, in dem ein gut gestimmtes, stattliches Klavier steht, das er weit mehr als sein eigenes schätzt.

    In ihren säuberlich aufgestapelten Noten ist seine derzeitige Lieblingsmusik, der dritte Teil eines Impromptus Schuberts, schnell gefunden. Schon verheddert er sich in dessen Takten, rangelt sich grantig vorwärts, gibt sich dennoch nicht sofort geschlagen. Der Einstieg missglückte jedoch. Er muss neu beginnen. Wieder nichts. Wer hätte gedacht, dass es derart schwierig wird sich zu konzentrieren. Dass er sich vor weniger als zwei Stunden ausgerechnet wegen des Klavierspielens mit seinem Vater stritt, lenkt ihn ab. Stille breitet sich aus. Irgendwo muss sie jetzt denken, dass etwas mit ihm nicht stimmt.

    Er rekapituliert, dass ihn sein Alter wie oft zuvor unterbrach, weil er Hilfe für irgendeine Handwerksangelegenheit brauchte. Als braver Sohn hatte er dazu nie nein gesagt, doch dieses Mal lief das Fass über.

    „Kannst du nicht warten?", entgegnete er trocken und seine unglaubliche Antwort bedrohte die bisher unangetastete Autorität des Familienoberhaupts.

    Trotzdem war kaum vorauszuahnen gewesen, dass seinem an sich verständlichen Wunsch, fortzufahren, eine derartig heftige Reaktion folgen würde.

    „Wenn d‘ nedd gleisch riwwer kummscht, konnscht gleisch doi Sache packe."

    Er wusste, dass es nichts zu diskutieren gab, ordnete seine Noten, verzweifelt über die ständigen Niederlagen des Alltags und weil es für seine Wünsche wie immer keinerlei Raum gab, stand auf, wie um zu gehorchen und griff in der Garderobe zu seinen Klamotten. Die Drohungen seines schreienden Vaters wurden draußen und mit wachsendem Abstand leiser.

    „Loss disch bloß nimmer blicke. Dir zeig ischs, wenn d‘ widder heem kummscht", tönte es über die Terrasse bis hinüber zum Schuppen, wo er sein Mofa antrat.

    Er seufzt auf, setzt zum dritten Versuch an, der wider Erwarten gelingt, startet mit dem richtigen Anschlag, flüssig und mit angemessener Geschwindigkeit. Die Noten ziehen an ihm vorbei, seine Ratlosigkeit schlägt in tiefe Trauer um, und die melancholische Melodie, gefühlvoll vorgetragen, drückt seinen Gemütszustand besser aus als jegliches Wort.

    *

    Hätte er nicht wiederholt gestoppt, wäre ihr das Klagen in seinem Spiel womöglich entgangen. Auf leisen Sohlen schleicht sie sich zum Wohnzimmer, bleibt im Türrahmen stehen, träumt mit ihm, schenkt ihm mit ihrem Bleiben ein gehöriges Maß an Anerkennung. Er wird nervös darüber, kämpft um seine Konzentration.

    ‚Eigenartig, dass mich sein Geklimper so anzieht. Wie gelingt es ihm, so was derart perfekt einzustudiern? Was für ne Kraft sich hinter seinem verschlossenen Charakter versteckt! Er ist anders, gefällt mir. - Wie er sich wohl anfühlt?‘

    Erst als an schwierigen Stellen ein paar hasplige Fehler die Melodie eintrüben, gewinnen praktische Aspekte an Bedeutung. ‚Schade, dass er in der zwölften ist. Mit nem Typen von ner Klasse drunter was anzetteln, das würd keiner kapiern. Man checkt meilenweit, dass er grün hinter den Ohren ist. Schon bei nem Blick in die Augen kriegt er das Muffensausen. Was für ‘n Glück die Clara hat, ‘n duften Kerl gefunden zu haben, der seine eigene Knete verdient, mit nem Super-Motorrad obendrein. Dagegen er, mit Mofa!‘

    Er ahnt, dass sie den Kontakt zu ihm verloren hat, und hält augenblicklich inne.

    „Wenn du bloß zum Kontrollieren und Fehlersuchen gekommen bist, spiel ich nicht weiter."

    Es hilft wenig, dass er seine Schroffheit bereut, noch bevor er den Satz beendet.

    „Dann spiel halt allein", entgegnet sie schlagfertig und stapft davon.

    ‚Ich mach alles falsch! Wie kann ich nur so doof sein? Ausgerechnet bei ihr.‘ Er verkneift sich die Tränen, die hartnäckig und ebenso vergeblich ihre Rechte fordern, rappelt sich mühsam zu einem weiteren Start auf, diesmal mit Chopin-Etüden, die ausgezeichnet zu seiner dramatischen Selbstkritik passen und auf Anhieb gelingen. Die Musik ist seine Rettung.

    Er driftet davon, liefert sich aus, denkt dabei an sie, die wahrscheinlich nicht auf einen wie ihn steht und bestimmt schon mit mehreren Jungs zusammen war. Denn ihre Augen schweifen kein bisschen ab, wenn er sich traut, sie zu fixieren, oder sich ausmalt, von ihr in die Kunst des Liebens eingeführt zu werden. Die Gestalt der süßen, hübschen Susi vom Strandbad taucht auf in seiner Phantasie, seine Geheimfavoritin, die nichts von ihrem Glück weiß, schon zwei Sommer lang. Mit ihr wäre es himmlisch, zu schmusen, auch für sie würde es nach seiner Einschätzung das erste Mal sein. – Seine Freunde rätseln genauso wie er permanent übers „miteinander schlafen", haben größtenteils nie etwas Ernsthaftes mit einem Mädchen gehabt; außer zwei, die dafür bezahlen mussten, und diejenigen, die übers Kiffen zum Zuge kamen. Auch er würde es gerne einmal einem Mädchen geben, so richtig, verwegen, mit Zustoßen und so. Cool, damit sie weiß, wo‘s lang geht, wenn sie sich auf jemanden wie ihn einlässt, und vielleicht würde er sie danach links liegen lassen. – Der schnuckeligen Susi folgt die Erinnerung an den ehemaligen Klassenkamerad, der unverhofft krank wurde und starb; eigenartig, dass er aus seinem Leben verschwand, nie mehr verfügbar sein wird, um Witze zu reißen oder allen möglichen Unsinn anzustellen. Dann erinnert er sich an seinen tattrigen Klavierlehrer, immer mit den gleichen Witzen und leeren Kriegsgegnerfloskeln gewappnet, von wegen seiner durch Feldzüge verhinderten Karriere; dessen Frau erteilt auch ihm gelegentlich Unterricht, wenn er krank oder sonstwie verhindert ist, jedoch viel zu streng und mechanisch, weshalb ihm die Lust an den Klassen vergeht. Seine Cousine verschloss bei einem kürzlichen Besuch wahrscheinlich aus Absicht nicht die Tür zum Bad, um ihm ihre im Badewasser schwimmenden, dicken Titten und ihre leicht behaarte Scham zu offenbaren, als er, nichts ahnend, zum Pinkeln ins Bad platzte, nachdem ihre Eltern ausgegangen und sie wortlos verschwunden war. – Jäh endete sein Verlieben während eines Schulausfluges nach Straßburg, bei dem er sein erstes Mädchen küsste und im dortigen Stadtpark bis hin zur Gürtellinie erforschte. – Seine Mutter erpresst ihn, verlangt ihm aus Faulheit alle möglichen Erledigungen ab. Sein Alter rackert sich für die Familie ab, meint, dass die Welt ausschließlich aus Geld besteht. Noch am vergangenen Wochenende war ihnen gemeinsam die Reparatur seines Mofamotors gelungen, deren Schwierigkeit er deutlich unterschätzt hatte. – Weshalb hatte sein egozentrischer, lispelnder Deutschlehrer, mit dem ihn eine Art Hassliebe verband, kürzlich sein bis dahin unantastbares Junggesellenleben und Unabhängigkeit aufgegeben?

    Die schnellen Läufe seiner letzten Etüde verklingen. Mann, war ich weggetreten!, denkt er. Leise schließt er den Klavierdeckel und tritt in den Flur, vermutet, dass sie nach oben in ihr Zimmer verschwunden ist, wahrscheinlich immer noch vergrämt, und das mit Recht. Jetzt einfach von der Bildfläche abzutreten wäre unhöflich. Er muss ihr zumindest danken, dass sie ihn nicht abwies oder fort schickte.

    Langsam, Stufe für Stufe, geht er hinauf. Je weiter er sich hinauf wagt, desto unsicherer wird er.

    *

    Sie war mehr über sich selbst als über ihn verärgert, nachdem sie hinauf gegangen war. Saublöde Anmache! So was passiert mir nicht nochmal. – Aber was hab ich andres erwartet? Er ist ‘n Freund Herbies, ‘n Kiddie eben, mit Mofa und so, fährt es ihr durch den Sinn. Danach schnaubte sie ein trotziges „Vergiss es!" und versuchte, sich der unterbrochenen Lektüre zu widmen. Doch seine Melodien entwickelten sich zu sorgsam und gefühlvoll, als dass sie ihn mit solchen Schlussfolgerungen vergessen konnte. Seine Musik trug sie weg, hüllte sie in einen seichten Nebelschleier, trotz gelegentlicher Fehler, die ihr geübtes Gehör ohne jegliche Anstrengung identifizierten. Sie lauschte, alle Viere von sich gestreckt, teilte alsbald seine Sehnsucht nach Verständnis, wünschte sich aus einem urmütterlichen Gefühl heraus, ihm mitzuteilen, dass seine Resignation übertrieben sei und es viel Schönes auf der Welt zu entdecken gäbe.

    Ich würd dir Geborgenheit schenken, wenn du nicht so störrisch wärst. Verrückt bin ich, dazu bereit zu sein!, sagt sie sich in Gedanken. Verwirrt räumt sie sich ein, dass er eine gewisse Macht über sie ausübt und ihr das Ende des letzten Musikstücks etwas Liebgewonnenes nimmt.

    Wie aus dem Nichts tritt er zu ihr. Seine Anwesenheit reicht anfangs kaum aus, sie in die Wirklichkeit zu befördern. In Trance bemerkt sie, dass er alsbald neben ihr sitzt, in sich versunken wie sie selbst.

    Sie legt ihre Hand auf seinen Rücken, streicht langsam auf und ab, bis hinauf zu seinem Nacken. Später und ihm zugewandt fasst sie hinein in sein weiches Haar, ahnt aufgrund seiner Reglosigkeit, dass ihre feinen, sanften Fingerbewegungen ihm den Verstand rauben, er nicht gewohnt ist, angefasst oder verwöhnt zu werden, glaubt, die Situation zu dominieren oder zumindest außer Gefahr zu sein. Aber urplötzlich binden sie seine Augen, und sie fühlt sich entblößt, geradezu nackt. Ein heftiges Kribbeln durchströmt ihren Körper, sie fragt sich, ob und wie lange sie standhalten kann, ohne sich ihm schenken zu wollen. Ihre Hand liegt schwer auf seinen Nackenmuskeln. Sie zieht ihn zu sich. Um nicht zu verbrennen. Glück breitet sich in ihr aus, als sie sich gegenseitig mit den Lippen elektrisieren. Ihre Zunge dringt tief in seinen Mund, bis er taumelig erwidert. Sie will ihn, begehrt ihn, fällt über ihn her, bestätigt sich, dass es mit ihm atemberaubender wäre als bei den bisherigen, kurzen Affären, die allesamt auf Feten starteten und nicht lange anhielten.

    Allesamt waren die Jungs älter als sie gewesen, hatten nach eigenen Angaben bereits Erfahrung mit anderen Frauen gemacht und wussten glücklicherweise, wie es anzustellen war, sie zu erobern. Das gab ihr Sicherheit und war einer unangenehmen Überraschung mit Anfängern zweifellos vorzuziehen. Bis zum Akt waren sie nett und überaus aufmerksam mit ihr umgegangen. Den Ersten hatte sie zuvor seit Monaten beobachtet und aus Verhütungsgründen kurz nach der Regel programmiert; er verrichtete seine Arbeit nach ihrer Aufforderung in einem Zuge, was weniger wehtat als erwartet. Bei den folgenden drei Verflossenen, mit Antibabypille gewappnet, bemerkte sie dann, dass sie sich wohl selbst auf die Suche nach Entdeckung begeben musste, wenn sie dem Gefühl entgehen wollte, nur zur Befriedigung missbraucht zu werden. Ruppige Bewegungen und Loszappeln wollten die Typen, ohne im entscheidenden Augenblick auch nur einen einzigen Gedanken an sie zu verschwenden. Danach gab es als Belohnung ein Küsschen oder Streicheleinheiten, wie für einen Schoßhund. Anschließend wurde sie zügig zu Hause abgesetzt, obwohl reichlich Zeit zur Verfügung stand und keine Eile geboten war. Für Mädchenträume war da kein Platz, und sie konnte sich nicht vorstellen, ein solch langweiliges Treiben mit ein und demselben Kerl jemals zu wiederholen.

    Heute, mit ihm, meldet sich jedoch eine natürliche Lust. Sie zerrt an seinem T-Shirt, würde am liebsten ihre Kleider von sich reißen, seinen Kopf auf ihre Brüste legen, sich in seinem betörenden Schweiß baden. Sie braucht ihn, führt ungeduldig und überwältigt vor Begehren seine Hand unter ihre Wäsche. Der Hautkontakt löst eine ihr bis dahin unbekannte Hitze aus, ihr nach Erfüllung suchendes Becken weitet sich, als sich ein tiefes Stöhnen in seinem Ohr entlädt.

    Tausend Gedanken schießen ihm durch den Kopf. Vor allem, dass er sich am Morgen hätte duschen sollen oder rechtzeitig verduften muss, um sich nicht lächerlich zu machen. Seine Unsicherheit verstärkt sich, je weniger Zeit sie ihm zum Überlegen zugesteht. Er hätte es gerne beim Küssen belassen, hätte eine wesentlich geringere Geschwindigkeit eingeschlagen, streichelt ihre Brust, nur, um ihr einen Gefallen zu tun, wundert sich, was man mit handwerklichem Geschick bewirken kann. Dass sie ihn mit kläglichen Lauten beschenkt, ist an der Grenze des Aushaltbaren, ihr zu allem bereites Becken eindeutig zu viel.

    Ist sie derart leicht zu haben?, fragt er sich. Will sie mit ihm schlafen, ohne miteinander zu gehen? Erkundet sie aus Langeweile, wonach ihr der Sinn steht, um ihn danach über Bord zu werfen? Wohin mit seinem Pimmel, wenn sie sich ausgezogen haben? Was reden in Bezug auf Schwangerschaft?

    Er darf sich nicht von ihr überrumpeln lassen.

    „Willst du‘s dir nicht bequemer machen?"

    „Nein, ist schon okay wie ich lieg."

    Er ist unehrlich zu ihr und schneidet eine trotzige Grimasse. Dass er seine Angst nicht eingesteht, lässt ihr kaum Handlungsspielraum. Sie versucht, ihn mit einladenden Küssen wieder für sich zu gewinnen.

    „Lass mich!"

    Er dreht sich abrupt auf den Rücken, verheddert in wirren Gedanken, fühlt sich gefangen und einsam zugleich. Jetzt hab ich‘s endgültig versaut, ärgert er sich. Sehnlichst wünscht er, dass sie den Weg findet, ihn zu öffnen, oder zumindest erneut mit ihren Liebkosungen beginnt.

    Dir ist nicht zu helfen, denkt sie stattdessen, richtet sich auf und sucht nach einer neuen Platte, um der unerträglichen Spannung zu entrinnen, weit davon entfernt eine neue Frustration zu riskieren. Diese hier passt bestens, meint sie stumm, als ihr ihre ehemalige Lieblingsplatte mit den Chopin Preludes, interpretiert von einem ungarischen Pianisten, in die Hand fällt. Sie widmet sich fortan ausschließlich der Musik, vom ersten aufwallenden Beben bis zum letzten dramatischen Bass, gegen die Wand gelehnt, immerhin ihm zugewandt. Dass er für die gelungene Wahl dankbar ist, braucht sie nicht zu fragen. Reglos liegt er vor ihr, die Augen an die Decke geheftet, ohne ihr einen versöhnlichen Blick zu schenken. Mehr als eine halbe Stunde wagen weder sie noch er, die leidenschaftlichen Melodien zu unterbrechen.

    Vergeblich wartet er auf ein ihm bekanntes, zusätzliches Preludes, das nicht Teil ihrer Aufnahme ist.

    ‚Die Situation bringt mich um. Ich muss weg von hier, schnell weg, will nichts mehr spürn.‘ Ein Gedanke legt ihm nahe, dass er weinen und ihr eine Gelegenheit geben sollte, auf ihn zuzugehen, doch er verwirft ihn aus Angst vor dem unkalkulierbaren Risiko der folgenden Antwort.

    Sie fühlt sich zu Unrecht schuldig, verachtet plötzlich seine unüberwindliche Halsstarrigkeit, mag sein verschlossenes Gesicht nicht mehr widerspruchslos hinnehmen.

    „Magst du gehn?"

    Er nickt, und noch bevor sie sich über ihren nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag und dessen Konsequenzen bewusst wird, verlässt er das Haus, wirft sein Mofa an, fährt geduckt davon. Während sie in ihrem Zimmer bleibt, Tränen freien Lauf gibt, von der Trauer überwältigt, nicht für sich gewinnen zu können, wonach sie am meisten verlangt.

    Später erst nimmt sie sich vor, das Geschehene auf sich beruhen zu lassen. Sie möchte sich vor weiteren Enttäuschungen schützen, folgert richtig, dass er einen langen Weg vor sich haben wird, ehe er einer Frau gewachsen ist.

    *

    Montagmorgen, kurz nach sieben Uhr und absolut pünktlich, steht Clara an der Bushaltestelle und fragt sich, ob es ihre häufig verspätete Freundin schaffen wird, genau dann aufzutauchen, wenn der Bus gerade abfährt. Marianne besuchte bereits in der Grundschule dieselbe Klasse und ist trotz unterschiedlicher Kurse in der Oberstufe des Karolinengymnasiums ihre einzige Freundin aus Kinderzeiten geblieben. Am Vorabend, nach der Heimkehr aus Marburg, rief sie bei ihr an, um die gute Nachricht zu verkünden, dass sie mit ihrem Freund Kalle in einer Wohngemeinschaft eine Bleibe für den Studienbeginn im Oktober ausfindig machen konnte. Doch zu ihrer Überraschung lag Marianne bereits im Bett und war nach Auskunft ihrer Mutter nicht zu stören. Warum steht sie nicht auf, um mich zu grüßen?, dachte sie, und maß noch im selben Augenblick der Tatsache des frühen Schlafengehens eine besondere Bedeutung zu.

    Sekunden bis zur Busankunft fehlen.

    Sie befürchtet, dass die lange Freundschaft aufgrund ihrer Entscheidung für ein Politikwissenschaftsstudium an der Marburger Universität einen Bruch erleiden wird. Der sympathische Lehrer des Sozialkundeleistungskurses hatte dazu reichlich Werbung gemacht, was bei einer sozial und politisch interessierten Schülerin wie ihr auf fruchtbaren Boden fiel. Und ihre Überzeugung bezüglich des Wohnortwechsels war derart stark gewesen, dass sie seit Monaten Kontakte knüpfte und sich geflissentlich informierte. Demgegenüber konnte sich Marianne, einen Monat vor dem schriftlichen und zwei Monate vor dem mündlichen Abitur, eine Zukunft ohne Schule nicht vorstellen und hatte nicht die leiseste Idee, was sie danach mit sich anfangen sollte.

    Marianne biegt um die Straßenecke. Ihre Gesichtszüge sind bald deutlich zu erkennen. Sie findet die Vorahnung des vorigen Abends bestätigt. ‚Ich hätt sie früher anrufen solln! Irgendwas stimmt nicht mit ihr.‘

    „Da lass ich dich zwei Tag allein und schon bist du wieder verknallt. Wer ist‘s denn diesmal? – Behaupte bloß, dass hinter diesem Gesicht kein Kerl steckt!"

    Marianne ärgert es, dass sie so leicht zu durchschauen ist.

    „Könntest wenigstens nen guten Morgen wünschen."

    „Und? – Klar, ich hab recht!"

    Clara grinst bis über beide Ohren, stolz auf ihre Treffsicherheit.

    „Du bist schuld."

    „Wie das denn?"

    „Abhaun und mich allein lassen."

    „Verknallt bis…!"

    „Freu dich nicht zu früh! So was Ähnliches vielleicht, und mehr sag ich dir sowieso nicht. Es ist nur doof."

    Das Einsteigen in den Schulbus unterbricht die Unterhaltung. Clara zieht Marianne in eine der hintersten Reihen, um ungestört zu tuscheln. Bei der morgendlichen Busfahrt nach Frankenthal hatten Geheimnisse zwischen ihnen noch nie Bestand.

    „Wer isses?"

    „Keine Auskunft."

    „Der Charly?"

    „Nee."

    „Ted?"

    „Nee. Klappe zu, Affe tot! - Ich sag kein Wort mehr."

    „Der Ulli, oder dein Ex? - Ich geb nicht auf, bis ich‘s raushab."

    „Hör schon auf!"

    „Der Klaus?"

    „Du spinnst und kommst sowieso nie drauf. Lass es gut sein!"

    „Ist er vom KG oder vom AEG?"

    Er könnte tatsächlich von der Nachbarschule, dem Albert-Einstein-Gymnasium, sein.

    „Mehr Info gibt‘s nicht."

    „In der Dreizehnten?"

    „Jetzt antwort ich gar nichts mehr."

    „Nein! Einer aus der Zwölften? Da setzt‘s aus! Das glaub ich … - Der Christian! - Verlorn, ich hab dich überführt!"

    „Der Christian? Wie kommst du denn da drauf?"

    Clara schaut Marianne schmunzelnd an.

    „Ist mein Geheimnis."

    „Sag schon!"

    Mariannes Tonfall erweckt in ihr den Eindruck, dass sie vom scherzhaften Ton zu einem normalen Gespräch übergehen sollte.

    „Vor ein, zwei Wochen – erinnerst du dich? – da war ich bei dir, und der Christian bei Herbie. Er fing an rumzuklimpern, und dir wurds plötzlich ganz anders bei seim Trauergedudels."

    „Du hast dich schon mal was besser ausgedrückt."

    „Du weißt genau, dass ich für diese Musik nichts über hab."

    „Schon gut."

    „Und? Was ging ab?"

    „Nichts."

    „Nichts?"

    „Fast nichts. Ich mein, er wollt nicht und …"

    „Was denn?"

    „Es ist einfach zu blöd … "

    Mariannes Stimme bricht. Clara umarmt sie liebevoll und wartet, bis ihr leises Schluchzen endet. Dann ergreift sie erneut die Initiative.

    „Magst du mehr erzähln?"

    „Frag nicht so dumm!"

    *

    „Ich find den Christian super süß. Obwohl er von der Zwölften ist. Im Vergleich zu seinen Kumpels ist er total nett. ‘N bisschen melancholisch vielleicht, aber ‘n Knuddeltyp, zum Schmusen, mit Kerzchen und so."

    Sie trotteln durch die Fußgängerzone Richtung Schule. Clara versucht, Marianne davon zu überzeugen, dass sie ihn nicht wegen oberflächlicher Gründe fallen lassen sollte.

    „Mehr als Küssen ist mit ihm nicht drin. Ich leih ihn dir gern mal aus."

    „Wär super romantisch, wenn du seine Erste wärst. Würd dir das nicht gefalln? – Siehste. Schon wieder überführt. Mir gefällts jedenfalls, wenn Kerle nicht gleich ans Vögeln denken."

    „Ab und an dran denken, wär schon angesagt."

    „Du tust ihm Unrecht. Es gibt so viele andere Sachen, die ihr teilen könnt."

    „Ach nee, was denn, zum Beispiel? Er lacht kaum, guckt traurig aus der Wäsche, kifft nicht, raucht nicht, redet nur alle fünf Minuten nen halben Satz, und dazu sein Mofa … – Meinst du, es macht mir Spaß, mich nem Gelächter auszusetzen? Sag mal ganz ehrlich, was dein Macker über ihn sagen würd!"

    „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass Kalle nicht mein Macker ist?"

    „Er ist dein Macker. ‘N guter sogar."

    „Wenn du‘s so ausspricht wie jetzt, hört sich‘s gleich anders an. – Also, um das Thema abzuschließen: ich find, du kennst den Christian nicht richtig. Gib ihm ne Chance, und er wird zugänglich."

    „Das könnt eventuell und unter Berücksichtigung der Umstände vielleicht sogar sein", feixt Marianne.

    „Das ist mit allen so."

    „Wirklich?"

    „Bei dir etwa nicht?"

    „Schon."

    „Und was wirst du tun, wenn er auf dich wartet?"

    Claras Frage ist durchaus berechtigt. Tatsächlich gelangen sie jetzt in Schulnähe.

    „Ist eher wahrscheinlich, dass er mir aus dem Weg geht."

    „Meinst du wirklich?"

    Clara kann sich vorstellen, dass einer aus der zwölften Klasse nicht unbedingt auf ein Mädchen der dreizehnten am Schuleingang wartet, bloß um das relativ hohe Risiko einzugehen, sich in Gegenwart von Bekannten eine Abfuhr einzufangen.

    „Bei dem Stress, den er zu Haus hat! Mich in ne unangenehme Situation bringen, brächt er sowieso nie fertig. Dazu hat er etwas zu …, ist zu … taktvoll, viel zu konventionell."

    *

    Nach der erwartet unerfreulichen Auseinandersetzung mit seinem Vater und einem sogenannten Klärungsgespräch ohne jedes greifbare Ergebnis verpuffte Christians Ausreißen im Nichts. Endlich in seinem Zimmer angelangt, lag er wach und ließ die Ereignisse des Tags ein ums andere Mal an sich vorbeiziehen. ‚Ich hab mir immer eine Freundin wie sie gewünscht. Zumindest hätt ich die Situation nutzen und ausprobiern müssen. Weshalb wies ich sie zurück? – An ihr lag‘s nicht. Sie ist hübsch, fühlt sich toll an, ich mag sie. Es war wirklich einwandfrei. Dumm von mir, sie zu unterbrechen.‘ Je später die Nacht, desto mehr rückten seine vermeintlich schwachen Seiten in den Vordergrund: dass er jünger ist als sie und nicht raucht, obwohl Kiffen „in ist; dass er mehrere Jahre in den Tanzunterricht an der Tanzschule Mayer ging und dort erst kürzlich einen Fortgeschrittenenkurs absolvierte, obwohl sie einmal behauptet hatte, dass nur Spießer tanzen und sie solch ein übles Paarverhalten nie akzeptieren würde; das Minderwertigkeitsgefühl, mit einem Mofa herum zu gurken, während sich die Typen aus der Dreizehnten bereits mit Motorrädern und Autos zur Schau stellen; und seine Brille war gemäß einer frechen Fetenbesucherin ein altmodisches Birnenmodell – in bestimmten Kreisen kam es gerade in Mode, den Ministerpräsidenten ihres Bundeslandes aufgrund seiner Gesichtsform mit dieser Frucht zu identifizieren –, was er zuerst nicht verstand und ihn nachher reichlich verunsicherte. Mit Leichtigkeit wertete er seine Stärken ab: sein Klavierspiel war „out, seine Sportlichkeit unzufriedenstellend, seine Bedenken anzugeben einfältig, die Gabe zu reflektieren hinderlich, und das Ablehnen von Drogen Feigheit. Was wäre phantastischer gewesen als mit ihr einen Joint zu rauchen, loszukichern, und im Rausch oder Himmel - je nachdem was ihn nach dem Konsum erwartet hätte - gemeinsam mit ihr Sex zu erleben?

    In Anbetracht solch zwiespältiger Gefühle schien es am vorteilhaftesten, weiteren Kontakt zu ihr zu vermeiden oder zumindest abzuwarten, bis sie ihm positive Signale sendete und sich zwischenzeitig beim Onanieren mit der Erinnerung an ihren Geruch, Lippen und Brüste zu begnügen, die sich wundersam in seine Hand schmiegten.

    *

    Herbie, nicht gerade der Typ, der sich über andere den Kopf zerbricht, bemerkt bald, dass er sich heftiger als jemals zuvor verliebt hat. Erstens geht er ausgerechnet Montagmorgen direkt ins Klassenzimmer, ohne mit den Kumpels auf dem Schulhof zu albern, zweitens will er tagelang in den Pausen nicht mehr hinüber ins AEG, wohin eigentlich ausnahmslos jeder aus der Clique strebt, weil man sich dort irgendwie weniger kontrolliert und freier fühlt. Drittens entrinnt ihm diesmal kein einziges Klagewort.

    Deswegen will er möglichst schnell auskundschaften, um welches Mädchen es sich diesmal handelt, und je nach Befund eventuell selbst die Initiative ergreifen und diese für sich gewinnen. An Christians gutem Geschmack gibt es schließlich nichts zu rütteln, seit eine seiner angeblich unerreichbaren Angebetenen ihm nach einem Joint die Unschuld geraubt hatte.

    „Herbie, könnt‘st du uns nach ‘m Sport am Nachmittag Karten fürs Konzert in der Aula kaufen? Der Vorverkauf startet heut."

    Sie befinden sich allesamt im Schulhof des Nachbargymnasiums, als sich Marianne und Clara zu ihnen begeben und um Unterstützung bitten.

    „Welches Konzert denn?"

    „Samstag in ner Woche. Blues."

    „Ach, das Bluesfest! Klar doch, no problem."

    „Mach bloß kein auf locker!", schaltet sich Norbert ein, der bei den Mädchen einen guten Eindruck hinterlassen möchte.

    „Grad du, Coolie!"

    Jürgen will sich ebenfalls von seiner besten Seite zeigen.

    „Ich find Blues und gemeinsamen Spaß haben super."

    Lutz versucht es mit der einsichtigen Tour.

    „Prima Sache. Da könnten wir durchaus zusammen hin."

    Norbert meint tatsächlich, einen hervorragenden Vorschlag unterbreitet zu haben.

    „Warum eigentlich nicht? Wär doch dufte, alle zusammen", meint Siegfried.

    „Sicher, wieso eigentlich nicht?, setzt Lutz hinzu. „Was meinst du, Herbie?

    Der einzige, der die Gelegenheit nicht ausnutzt, um vor den beiden Mädchen sein Image aufzupeppen, ist Christian, der kaum dass Marianne in die Runde trat, wie angewurzelt stehen blieb und keinen Ton hervor bringt. Sekundenbruchteile fixiert er Claras

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