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SPROTTENBLUT - Wagner & Anderson ermitteln in Kiel: Küstenkrimi
SPROTTENBLUT - Wagner & Anderson ermitteln in Kiel: Küstenkrimi
SPROTTENBLUT - Wagner & Anderson ermitteln in Kiel: Küstenkrimi
eBook582 Seiten7 Stunden

SPROTTENBLUT - Wagner & Anderson ermitteln in Kiel: Küstenkrimi

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Über dieses E-Book

Ein Mord und zwei Ermittler, die weit mehr verbindet, als der Fall:

Kriminaloberkommissar Pieter Anderson ist ein wahrer Meister im Verdrängen - bis im Kieler Schrevenpark die Leiche einer Frau gefunden wird und er dort auf Elisabeth Wagner trifft. Die unnahbare neue Kollegin ahnt nicht, dass sie Pieter mit den Geistern einer tragischen Vergangenheit konfrontiert. Sie will nur eins: sich wie gewohnt in ihre Arbeit stürzen, um der Einsamkeit ihrer vier Wände zu entgehen. Gemeinsam untersuchen die zwei ungleichen Ermittler eine Mordserie, die unerwartet ihrer beider Biographien betrifft, ihr Leben in Gefahr und völlig durcheinander bringt …

Ein spannender Küstenthriller, bei dem auch Gefühl und Humor nicht zu kurz kommen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Juni 2021
ISBN9783347342484
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    Buchvorschau

    SPROTTENBLUT - Wagner & Anderson ermitteln in Kiel - Zhara Herbst

    KAPITEL 1

    1

    Die Nacht war totenstill, ihr Atem flach und viel zu laut. Es war wieder derselbe Traum gewesen, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte, und noch immer war sie wie erstarrt. Beth rang nach Luft und ermahnte sich im selben Moment, gleichmäßig zu atmen, doch ihr Brustkorb hatte sich bereits zusammenzogen – eng, als läge sie unter Beton.

    Vor langer Zeit war es real

    Sie versuchte, die Erinnerungen an das Damals zu verdrängen. Ein fahler Mond schien auf das Bett.

    Beth machte sich klar, dass es ihr möglich war, sich zu bewegen, atmete, aber die Angst verblasste nicht. Also fuhr sie sich durchs Haar, betrachtete die Weite ihres Schlafzimmers und hielt sich mühsam an dem Anblick fest: das große Bett, die von ihr auf dem Flohmarkt liebevoll zusammengetragenen Möbelstücke und die Topfpflanzen, die vor dem Fenster standen. Als sie das Offensichtliche begriff, atmete sie durch und fand endlich zurück ins Hier und Jetzt: Sie war allein. Ihr drohte keinerlei Gefahr.

    Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, entledigte sie sich ihres vom Angstschweiß nassen Shirts und rieb sich damit fest über die Haut. Die Narben auf ihrem Rücken – großflächig und daher kaum zu übersehen – brannten auch in dieser Nacht so strafend, dass sie nie vergessen würde, was damals geschehen war.

    Beth stand auf und tat so, als hätte nicht der Traum, sondern ihr Wecker sie dazu bewegt. Dann begann sie den zu frühen Morgen – im Grunde war es noch mitten in der Nacht – wie immer mit den üblichen Routinen.

    Der Duft des Madras-Currys, den sie sich gestern nach dem Dienst bestellt hatte, hing in der Luft. Beth pinnte die Speisekarte ihres neuen Lieblingsinders zu den anderen an den Schrank, öffnete ein Fenster und steuerte zielstrebig auf den Kaffeeautomaten zu. Bald löste das Aroma des Espressos den des Currys ab.

    Dank eines seltsam heißen Spätsommers waren die Temperaturen auch in dieser Nacht nicht unter zwanzig Grad gefallen. Beth nahm den ersten Schluck Kaffee, woraufhin ein Teil der Anspannung verflog und sie ruhiger atmete. Die Narben aber brannten nach wie vor.

    Also tat sie, was sie immer tat, wenn sie der Schmerz nach einem dieser Träume überfiel: Beth tauschte ihre Nachtwäsche gegen das Funktionsshirt, eine kurze Shorts und die inzwischen abgewetzten Laufschuhe ein und machte sich getrieben auf den Weg.

    Der Dunst von feuchter Erde, sattem Grün und Tau würzte die laue Luft. Natürlich war der Stadtpark menschenleer. Beth genoss die Einsamkeit, die wie so oft ihr einziger doch dafür treuester Begleiter war.

    Vor ein paar Wochen erst war sie nach Kiel zurückgekehrt, hatte die kleine Wohnung nahe des Schrevenparks entdeckt und sich sofort in sie verliebt. Von allen Orten, die sie kannte, war der Park – ihr kleiner Garten Eden, mitten in dem Labyrinth der kalten Stadt – ihr Lieblingsplatz. Wie viele Stunden hatte sie in ihrer Jugend hier verbracht? Während sie den Gänsen dabei zusah, wie sie friedlich durch den See schwammen, beruhigte sie der Park letztendlich jedes Mal. Noch heute kannte sie hier jeden Winkel, jeden Busch und jeden Baum.

    Nach einer guten halben Stunde bog sie angenehm verausgabt in den abgelegenen Teil der Grünanlage ein. Die Schmerzen waren fort, also verlangsamte sie ihren Schritt, kam auf dem schmalen Steg zum Stehen und genoss die Ruhe dieser ausnehmend schönen Nacht. Der See lag ihr zu Füßen. Trauerweiden tauchten ihre Äste in das Nass, in dem sich die umliegenden Häuser, die Sterne und der Mond spiegelten. Die Vögel grüßten den noch fernen Morgen, bis ein Rascheln im Gestrüpp den Frieden des Moments durchbrach. Die Grillen verstummten und es war gespenstisch still.

    Beth wandte sich um und blickte in die relative Dunkelheit, während ihr Pulsschlag sich beschleunigte. Wolken schoben sich über das Firmament. Sie horchte in die Nacht, ging festen Schrittes auf das Buschwerk zu und blieb dicht davor stehen.

    Nichts. Nur Totenstille.

    Dann schoss etwas Dunkels aus dem Busch.

    Ein Marder?

    Genauso schnell, wie er gekommen war, verlor er sich wieder im Schutz der Nacht.

    Beth atmete tief durch und trat zurück. Seit wann ließ sie sich denn so leicht erschrecken? Noch dazu von einem Tier, das weit mehr Angst vor ihr als sie vor ihm hatte. Sie musste lachen. – Bis ihr Blick erneut auf jene Stelle fiel, von der aus das Tier aus dem Gebüsch geschossen war. Da lag doch irgendwas!

    Beth kniete sich hin. Als sie die Äste auseinanderzog und der metallene Geruch noch warmen Blutes tief in ihre Nase kroch, setzte ihr Herz kurz aus …

    2

    Ein schriller Klang entriss ihn einem seltsam tiefen, beinahe totengleichen Schlaf. Pieter presste sich, vom Lärm des Telefons kurz irritiert, die Hand auf das Gesicht und atmete tief durch. Ein müder Blick auf das Display bestätigte, was sein Verstand längst ahnte.

    Müde seufzend nahm er ab. »Was gibts?«

    »Moin! Und nebenbei bemerkt: Willkommen zurück«, begrüßte ihn Antons vertraute Stimme. Sein Kollege schien bereits hellwach. »Eine Leiche. Offensichtlich Mord. Ist also euer Fall. Ich sichere den Fundort und die Spusi ist gleich hier.«

    »Okay.« Pieter fuhr sich durch das rabenschwarze Haar. Herrgott, es war noch mitten in der Nacht! »Verrat mir wo. Ich mach mich auf den Weg.«

    Kaum hatte Anton die Adresse durchgegeben, schwang sich Pieter aus dem Bett, das viel zu groß für ihn allein war, und tappte träge in das Bad. Dort begrüßte ihn das noch verschlafene Spiegelbild eines trainierten Mannes Ende dreißig. Kritisch musterte er seinen zu wild gewachsenen Drei-Tage-Bart und beschloss, dass die Rasur bis heute Abend warten musste.

    Erst gestern war er aus dem Urlaub, einem längeren Besuch bei seiner Schwester Sophie, in sein Heim zurückgekehrt. Die Zeit bei ihr und seinen Neffen war wieder zu kurz gewesen; vielleicht genauso kurz wie diese Nacht.

    Pieter lugte in den Kleiderschrank. Alle guten Sachen lagen in der Wäsche und so griff er nach der alten Jeans und einem Freizeit-Shirt. Beides war pechschwarz und für die Arbeit viel zu lässig, aber immerhin waren die Klamotten frisch.

    Als er am Fundort eintraf, wartete Anton bereits auf ihn. Pieter fiel die Unrast seines für gewöhnlich ausgeglichenen Kollegen auf, als der ihn knapp grüßte.

    »Der Notarzt hat sie schon für tot erklärt«, meinte Anton dann, wobei auch seine Worte seltsam aufgewühlt erschienen. »Was offensichtlich war. Die Leiche ist verstümmelt, wird nicht leicht zu identifizieren sein. Wer das getan hat, war sehr gründlich.«

    Pieter nickte unzufrieden. Manchmal war er diesen Wahnsinn leid.

    Er atmete tief durch, präparierte sich mit Handschuhen und den Plastiküberzügen für die Schuhe und hüllte sich dann in den weißen Plastikoverall, den es zu tragen galt.

    »Sie liegt dort drüben«, sagte Anton, während er den Reißverschluss zuzog. »Nackt. Ist echt kein schöner Anblick.«

    »Danke für die Vorwarnung.«

    Pieter atmete erneut tief durch, stellte sich auf einen üblen Anblick ein und ging bedächtig auf den Fundort zu, an dem sich die Kollegen bereits sammelten. Als er sie grüßte, sahen sie auf. Die meisten nickten ihm nur flüchtig zu und fuhren dann in konzentrierter Stille mit der Sicherung der Spuren fort. Nur Carmen sah ihn wieder länger an, wobei sie grinste wie ein Honigkuchenpferd.

    Pieter lächelte höflich, bevor er sich zum Leichnam niederkniete und die Zähne aufeinanderpresste – Anton hatte recht …

    Die blasse Haut der übel zugerichteten Toten war mit Wunden übersät, feinen geraden Schnitten. Sie wirkten nicht sehr tief, was bedeuten konnte, dass das Opfer vor dem Tod gefoltert worden war. Und das da auf dem Oberarm sah aus wie ein Tattoo – oder war es doch nur Dreck? Als er die Wunde auf dem Brustkorb des geschundenen Leibes sah, jagte ein Schauer über seine Haut.

    Er sammelte sich kurz.

    Keine Totenflecken, – was aufgrund des Blutverlustes jedoch keine Überraschung war. Die Totenstarre hatte noch nicht eingesetzt. Angesichts der Temperaturen lag der Todeszeitpunkt somit sicher keine drei Stunden zurück.

    Pieter erhob sich, trat einen Schritt zurück und blickte in das Nichts. Die Sonne ging gerade auf. Er gönnte sich diesen Moment, der nach ein wenig Frieden roch. Dann ging er zur Absperrung zurück, vor der Anton noch immer wartete.

    »Irgendwelche Zeugen?«, fragte Pieter.

    »Bis jetzt nicht. Bisher haben wir nur diejenigen befragt, die zum Gaffen rausgekommen sind. Waren nicht viele. Keiner hat etwas gesehen oder gehört. Später, wenn die Leute wach sind, gehen wir von Tür zu Tür … Ach ja! Ich habe mit einer Frau gesprochen, die dich interessieren wird.« Pieter horchte auf, woraufhin Anton grinste. »Joggerin. Sie fand die Leiche. Genau genommen ist sie die Neue aus deiner Abteilung.«

    Pieter sah seinen Kollegen fragend an.

    »Elisabeth Wagner. Kriminalhauptkommissarin. Ihr habt euch offensichtlich noch nicht kennengelernt.«

    Natürlich! Das hätte er ja fast vergessen. Die Neue hatte ihre letzten Dienstjahre in Flensburg mit der Suche nach Vermissten zugebracht. Ihre Beurteilungen – offensichtlich leistete sie tadellose Arbeit – hatten sie entsprechend ihrem Wunsch an den neuen Einsatzort, hierher zur Kripo Kiel geführt. Aufgrund des Urlaubes hatte Pieter noch keine Gelegenheit gehabt, sie zu begrüßen und das heute waren wohl auch nicht gerade ideale Umstände dazu. Aber eine Frau, die mitten in der Nacht durch dunkle Stadtparks joggte und dabei aus Versehen über eine Leiche fiel; das interessierte ihn auf jeden Fall!

    3

    Anton hatte ihr erlaubt, den Tatort zu verlassen – ausnahmsweise, schließlich war sie heute nicht als Kommissarin hier: Beth war eine Zeugin. Noch dazu eine, die nicht hinreichend vernommen worden war. Man könnte so ein Vorgehen dilettantisch nennen. Dem Kollegen für die Geste dankbar, traf Beth nun, eine knappe Stunde später, frisch geduscht und notdürftig gestärkt erneut an Ort und Stelle ein. Der Leichenfund hallte noch immer in ihr nach. Diese starren, flehend weit aufgerissenen grünen Augen …

    Wie so oft, wenn sich ein Rätsel vor ihr auftat, lechzte sie danach, sich diesem hinzugeben. Beth wollte unbedingt in die Ermittlung einbezogen werden und so bald wie möglich zu dem Stab von Mitarbeitern zählen, aus dem die Kommission, die es jetzt zu bilden galt, bestand. Dass sich die Arbeitszeit in diesem Fall auf zwölf bis sechzehn Stunden täglich aufsummieren konnte, war ihr recht, sogar willkommen.

    Der Rettungsdienst war abgerückt, der Fundort abgesperrt. Einige Mitarbeiter des Erkennungsdienstes hatten die Leiche überdacht, sodass die Witterung ihr nun wohl nichts mehr anhaben konnte. Es würde Tage dauern, bis die Sicherung der Spuren abgeschlossen war.

    Vor einer Stunde hatte Beth erfahren, dass Pieter Anderson der vorerst zuständige Ansprechpartner war. Der Ruf, der ihm vorauseilte, war vielversprechend gut: Pieter sei umgänglich, geduldig und unglaublich nett – meinten zumindest die Kolleginnen.

    4

    Pieter hatte den gesicherten Bereich des Parks verlassen und sich aus der viel zu warmen Schutzkleidung befreit. Seit einigen Minuten, die ihm jetzt schon viel zu lang erschienen, widmete er sich der neuen Staatsanwältin.

    Auch Beeke Larsens Nachtruhe war abrupt beendet worden. Im Gegensatz zu ihm, der hundemüde war und seine letzten sauberen Sachen trug, stand die blonde Frau perfekt frisiert, geschminkt und, wie es schien, hellwach vor ihm. Sie hatte umgehend die Leichenöffnung angeordnet und bedachte ihn gerade mit einem strengen Blick.

    »Ich will über alles, was passiert, unterrichtet werden«, forderte sie nun auch noch. »Sofort und ausnahmslos. Verstanden?«

    Angestrengt vom barschen Ton der dafür noch zu jungen Frau nickte er die Bitte ab. Beeke Larsen hatte ihren Posten noch nicht lange inne, war jedoch schon jetzt bekannt für ihren Hunger nach Erfolg.

    »Darüber hinaus werde ich an ihren Dienstbesprechungen teilnehmen«, meinte sie kühl. »So kann ich mir einen besseren Überblick über die Fortschritte verschaffen.«

    »Das steht Ihnen frei.« Doch es war unnötig.

    »Ich weiß, dass es mir freisteht.«

    Herrgott, was war nur mit der los? Er unterdrückte eine Reaktion, die sicher fehl am Platz gewesen wäre.

    »Steht bereits fest, wer die Ermittlungen leitet?«, wollte sie von ihm wissen.

    »Das wird Jürgen sein. Jürgen Wenzel, erster Hauptkommissar.« Pieter lächelte versöhnlich, doch erzielte bei der kühlen Blonden keine Gegenreaktion. »Ich werde dafür sorgen, dass Sie ihn schnellstens kennenlernen.« Er atmete tief durch und sah sich um, wobei er eine fremde Frau erspähte, die auffallend unruhig vor dem abgesperrten Tatort stand. »Alles Weitere klären Sie mit Jürgen selbst. Er ist erfahrener als ich und kann Sie daher sicher besser unterstützen. Entschuldigen Sie, dort drüben wartet eine der Kolleginnen.« Er mochte die verkniffene Staatsanwältin nicht, doch Jürgen würde sicher seine Freude an ihr haben. Der Alte war es gewohnt, mit schwierigen Persönlichkeiten umzugehen, und war dabei für gewöhnlich sehr geschickt.

    Pieter zog den Block hervor, auf dem er sich die Eckdaten aus dem Gespräch mit Anton notiert hatte. Dieser hatte sich der Neuen ja bereits angenommen und sie zu dem Leichenfund befragt, bevor er ihr erlaubte, sich zu Hause umzuziehen. Elisabeth Wagner … Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, stand mit dem Rücken zu ihm auf dem vom Morgentau noch nassen Gras und wippte unruhig mit dem Fuß.

    »Elisabeth Wagner?«, sprach er sie schließlich an.

    Sie wandte sich ihm zu. »Ja. Aber das klingt, als wäre ich hundert Jahre alt«, meinte sie lächelnd. »Bitte einfach Beth.«

    Er begriff, dass er sie wie vom Donner gerührt anstarrte und gab sich einen Ruck. Mehr als ein lahmes »Hey« wollte ihm trotzdem nicht über die Lippen kommen. Zu allem Überfluss verschwamm sein Blick. Diese grünen Augen! Ihr braunes langes Haar, die blasse Haut und ihre zierliche Statur … Das ist nicht möglich! Was er hier sah, war nicht real – das konnte es einfach nicht sein. Und doch schien alles an ihr so vertraut …

    Ihm wurde schwindelig. Dann schlecht. – Herrgott, was war hier los? »Okay. Dann also Beth«, sagte er abwesend, während er versuchte, dem morbiden Trugbild seiner tief in sich begrabenen Vergangenheit endlich die Hand zu reichen. »Pieter Anderson. Willkommen in Kiel.«

    Wo waren plötzlich alle hin? Anton war fort und Jürgen noch nicht da … »Sie … du bist die Neue?«, fragte er in dem verzweifelten Bemühen, an ihr vorbei zu sehen.

    »Ja. Ich …«

    »Dann schreib die Aussage doch bitte selbst.« Das Zittern und die weichen Knie ließen sich kaum mehr kontrollieren. »Deinen Bericht. Ich habe hier noch zu tun.«

    Pieter wandte sich ab und ging, um sich – und damit all die drängenden Gefühle, seine quälenden Erinnerungen – weit abseits des Trubels zu erbrechen.

    ***

    Die Blumenstraße befand sich nahe des Parks, in dem die Leiche der noch unbekannten Frau gefunden worden war. In dem alten Backsteinbau, der weitläufig als Blume bekannt war, befand sich das Kommissariat 1.

    Pieter war einer der zehn Mitarbeiter der Abteilung, die sich den Delikten Tötung, Brand sowie Vermissten widmeten. An diesem unseligen Morgen ging er aufgewühlt in dem Büro des leitenden Ermittlers, seinem Mentor Jürgen Wenzel auf und ab. »Was soll das heißen, die haben da was entdeckt?«, fragte er den Alten zunehmend besorgt.

    »Sicher ist es harmlos«, meinte der, woraufhin Pieter nur verständnislos den Kopf schüttelte. »Ich habe gleich einen Termin bei meinem Haus- und Hofquacksalber. Dort erfahre ich, was die Biopsie ergeben hat.«

    »Die haben dich deshalb auch schon biopsiert?« Er wusste, was das zu bedeuten hatte. »Wie lange bist du deswegen denn schon in Behandlung? Und warum hast du nichts gesagt? Ich wäre doch mitgekommen oder …«

    »Eben aus dem Grund: Du machst dir viel zu viele Sorgen. Und genau das schaffe ich auch allein! Hör zu, ich weiß nicht, was die Weißkittel mir heute sagen oder wie es danach für mich weitergeht, womöglich ziehen sie mich aus dem Verkehr.«

    »Aber … Jeder wird sich fragen, wo du bist und wann du wiederkommst.« Selbst im Urlaub war Jürgen stets ansprechbar. Der alte Fuchs gehörte längst zum Inventar des Kommissariats. Kaum denkbar, dass sich niemand um ihn sorgte, wenn er einfach so verschwand.

    »Du wirst es keinem dieser neugierigen Schnüffler sagen. Kein Wort zu niemandem, hast du gehört?«

    »Warum erzählst du mir davon, wenn du nicht willst, dass irgendwer davon erfährt?«

    »Du weißt genau, dass du für mich nicht irgendein Kollege bist«, meinte Jürgen sanft, woraufhin Pieter seufzte. »Ich habe dich nach dieser Sache damals an die Hand genommen und dir von dem, was du jetzt weißt, so einiges beigebracht. Und jetzt will ich, dass du diese Ermittlungen leitest. Es wird Zeit, dass du das machst.«

    »Jürgen!« Er suchte angestrengt nach einer angemessenen Formuliereng, die er jedoch nicht fand. »Ich weiß nicht, ob das jetzt der richtige Moment ist, um … Da ist diese Kollegin, die …«

    »Jetzt hör schon auf, dich anzustellen!«, unterbrach ihn Jürgen, was nicht zu ihm passte. »Mit Elisabeth wirst du keinen Ärger haben. Sie wird dich entlasten, statt dir Arbeit zu bereiten. Und es ist ein Fall wie jeder andere auch. Du hast mir mehrfach dabei zugesehen und wirst das jetzt übernehmen.«

    Die Fußstapfen, in die er dazu treten müsste, wären ihm zu groß.

    »Junge!«, insistierte Jürgen streng. »Du bist jetzt beinahe vierzig und willst weiterkommen, oder nicht? Das hier ist eine Chance, dich zu beweisen.«

    Als würde er so etwas brauchen oder wollen. Pieter atmete tief durch. Er kannte seinen Mentor schon zu lange, um nicht zu wissen, dass etwas im Argen lag.

    »Nun ja, Pieter, ich weiß nicht, ob ich wiederkomme«, rückte der endlich mit der Sprache raus. »Ich habe seit über einem Jahr Symptome und mich damit nicht zum Arzt getraut.«

    »Und du sagst, ich soll mir keine Sorgen machen?« Pieter war fassungslos. Dass Jürgen Ärzte hasste, war ihm klar, doch dass der Alte eine Krankheit so verschleppen würde …

    »Jetzt reg dich ab. Mein Posten wird womöglich frei und ich will, dass du ihn bekommst. Meine Empfehlung ist dir sicher.«

    »Das ist doch hoffentlich ein schlechter Scherz!«

    Jürgen schüttelte mild lächelnd den Kopf. »Du leitest die Ermittlung und ich kümmere mich um meine Prostata. Was am Ende dabei rauskommt, werden wir ja sehen. Na komm, jetzt sag mir, dass du meinen Posten für die nächsten Wochen übernimmst.«

    Er zögerte, nickte ihm zuliebe aber doch. Mit etwas Glück wäre Jürgen gar nicht lange weg.

    »Sehr schön. Und jetzt raus mit dir!«

    Pieter starrte seinen Mentor sprachlos an.

    »Na los«, brummte der und machte eine Geste, so als wäre er ein störendes Insekt.

    Also stapfte Pieter angeschlagen aus dem Raum.

    »Bevor ich gehe, schau ich noch mal bei dir vorbei«, gab ihm Jürgen hörbar schuldbewusst mit auf den Weg, was es jedoch kein Stückchen besser machte.

    Pieter hasste diesen Tag schon jetzt.

    5

    Nach dem allmorgendlichen und wie immer viel zu starken Kaffee war Beth unvernünftig früh am Arbeitsplatz erschienen. So hatte sie schon eine Weile hinter ihrem Schreibtisch zugebracht, als Pieter das Büro betrat.

    »Morgen«, grüßte er sie knapp, wobei er wieder selbstvergessen wirkte und sich wieder nicht dazu herabließ, sie auch anzusehen.

    Entwaffnend gut aussehend … Verdammt, wo war denn der Gedanke plötzlich hergekommen? »Guten Morgen!«, entgegnete sie rasch.

    Ihre gestrige, erste Begegnung war ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen, obwohl sie es recht angestrengt versuchte. Pieters stechendblauen Augen hatten sie so intensiv gemustert, dass es ihr den Atem geraubt hatte, und das war ihr in der Tat noch nie passiert. Doch so sehr sie Pieters Ausstrahlung auch faszinierte, irgendetwas stimmte nicht mit diesem Kerl.

    Sie zögerte. »Ist bei dir alles gut?«

    Pieter war leichenblass. Beinahe so fahl, wie die Wand hinter ihm, mit der er scheinbar konkurrierte. »Ganz und gar nicht, nein.« Er setzte sich.

    »Kann ich was tun?«

    Er sagte nichts.

    Irgendwann betrat ihr Vorgesetzter, Jürgen Wenzel das Büro.

    Von seinem Kopf hing drahtig graues Haar. Eine dicke Brille ruhte auf einer für sein Gesicht zu großen Nase. Der Alte lächelte, doch heute blieben seine sonst so lebhaft grauen Augen starr. »Du bist Frühaufsteherin, was?«, wandte er sich ohne Umschweife an sie.

    Beth nickte irritiert. Normalerweise wirkte seine gute Laune nicht so aufgesetzt.

    Der alte Kommissar genoss aufgrund seiner Beteiligung an allerlei erfolgreichen Ermittlungen ein hohes Ansehen im Kommissariat. Auch diesmal hatte man ihm zum Leiter der Ermittlungskommission ernannt, woraufhin Wenzel zwanzig Mitarbeiter aus verschiedenen Fachabteilungen ausgewählt hatte, die nun mit vereinten Kräften an dem Fall arbeiten würden. Auch sie und Pieter waren dabei.

    »Hast du dich gut eingefunden?«, wollte Wenzel von ihr wissen und klang dabei einen Hauch zu interessiert.

    »Ja. Du hast es mir sehr leicht gemacht.« Im Grunde hätte sie die Einarbeitung nicht gebraucht.

    Pieter schien besorgt und schielte alles andere als unauffällig zu Wenzel hinüber. Was war nur zwischen den zwei Männern vorgefallen?

    »Solange ich weg bin, halte dich getrost an ihn«, sagte Wenzel. »Pieter wird dich unterstützen, wo er kann.«

    Ach ja? Der Widerwille in dessen Augen blieb ihr nicht verborgen. Genaugenommen schien Pieter nicht erpicht darauf, mehr Zeit als nötig mit ihr zu verbringen.

    »Informierst du mich, sobald es Neuigkeiten gibt?«, wandte Wenzel sich an ihn.

    »Ja. Meldest du dich auch bei mir, sobald du etwas weißt?«

    Die Männer sahen einander eine Spur zu lange an, wobei die Miene ihres neuen Kollegen der eines geschlagenen Hundes glich.

    Wenzel nickte und ging Richtung Tür. »Kümmere dich um sie!«, forderte er noch einmal und drehte sich erneut zu Pieter um. »Und nimm sie nachher mit zu Franz. Sie hat ihn noch nicht kennengelernt.«

    »Es wird nicht nötig sein, dass du dich um mich kümmerst«, ergriff Beth das Wort, nachdem die Tür laut knarrend ins Schloss gefallen war. »Ich komme hier gut alleine zurecht.«

    Pieter würdigte sie keines Blickes, signalisierte aber durch ein knappes Nicken, dass er sie verstand. »Trotzdem, wenn Sie Fragen haben, kommen Sie damit zu mir.«

    Wie bitte? »Wir sind beim Sie?«

    »Ja«, bestätigte Pieter und starrte stoisch auf den Tisch. »So ist mir das jetzt gerade lieber.«

    Beth war sprachlos – und das kam nicht häufig vor. Mit diesem arroganten Scheißkerl teile sie sich also das Büro. Das war doch nicht sein Ernst! Der Kerl musste doch wissen, dass das ungezwungene Du in ihren Kreisen üblich war – selbst unter unbekannten Mitarbeitern. Umgänglich und nett … Ha! »Bitte«, meinte Beth so kontrolliert und kühl es ging, aber durchbohrte ihn mit einem finsteren Blick. »Dann also noch einmal von vorn: Sie müssen sich nicht um mich kümmern. Wenn ich Fragen habe, wende ich mich liebend gern an alle Mitarbeiter – außer an Sie.«

    »Nein … Hören Sie, so war das nicht gemeint.«

    »Ah ja? Es klang aber verdammt danach.«

    Nichts. Nur angespanntes Schweigen.

    Irgendwann stand Pieter auf und blieb, stocksteif und mit gesenktem Blick, vor ihrem Schreibtisch stehen. »Tut mir leid, wenn das jetzt falsch ankam. Sie können mich fragen, was Sie wollen. Jederzeit.« Er atmete tief durch. »Bitte kommen Sie um sechzehn Uhr ins Rechtsmedizinische Institut. Sie wissen, wo?«

    Beth nickte irritiert. Was Pieter tat und sagte, passte nicht zusammen. Während sie noch darüber nachdachte warum, marschierte er bereits hinaus.

    »Und gehen Sie rein, statt vor der Tür zu warten«, rief Pieter, ohne stehen zu bleiben oder sich noch einmal zu ihr umzusehen.

    Beth schüttelte sprachlos den Kopf. Was zum Henker war mit dem Kerl los?

    6

    »Was ist denn heute los mit dir?«, wollte Franz von ihm wissen.

    Wie Pieter ohne Mühe registrierte, war sein Ziehvater besorgt. Im Grunde war das Attribut besorgt das Erste, was ihm zu dem Mediziner eingefallen wäre, hätte irgendwer danach gefragt.

    »Du hast am Telefon bereits so merkwürdig geklungen.« Franz neigte neugierig den Kopf. »Hattest du Streit? Etwa mit Sophie? Oder … ist am Ende etwas mit den Kindern?«

    »Nein!« Das hatte ungewollt entnervt geklungen. Kein Wunder, denn er war seit Stunden überreizt. Erst dieses elende Gespräch mit Jürgen und dann die Sache mit der Neuen … Herrgott, das war komplett entgleist! Pieter atmete tief durch. »Sophie und den Kindern geht es gut. Die Arbeit macht ihr gerade sehr zu schaffen und …«

    Er unterbrach sich, denn sie hatten nicht viel Zeit. Pieter war nicht hergekommen, um mit Franz zu plaudern. So wie er selbst, würden auch die Kollegen bald eintreffen, um der Leichenschau des Opfers beizuwohnen.

    »Franz, von Sophie und dem Urlaub kann ich dir auch später noch erzählen. Es gibt da etwas anderes, über das ich mir dir reden muss: Elisabeth Wagner. Eine neue Kollegin. Sie wurde aus Flensburg hierher versetzt. Soweit ich weiß, auf eigenen Wunsch.«

    »Nun gut. Ich bin gespannt.«

    »Okay. Das ist … Hör mal Franz …« Sein Puls stieg merklich an. »Ich weiß nicht, wie das möglich ist, doch diese Frau … Sie … Sie sieht so aus wie Linda.«

    Der Name hallte unschön an den kahlen Wänden wider. Wie lange war es her, dass er ihn ausgesprochen hatte? Pieter wurde übel. Lange genug, damit selbst Franz, ein viel zu redseliger Mann, nun tatsächlich die Luft anhielt und schwieg.

    »Gut.« Franz ließ sich Zeit. »Sie sieht ihr ähnlich.«

    Na wunderbar! Franz sah ihn an, als wäre er verrückt.

    »Bist du deshalb derart durch den Wind?«

    »Sie sieht ihr nicht nur ähnlich, Franz! Sie ist …«

    Es klopfte und seine Kollegen traten in den hell gefliesten Kellerraum: Die schroffe Staatsanwältin war höchstselbst erschienen, statt den Termin an irgendeinen armen Wicht zu delegieren, wie es ihr Vorgänger getan hatte. Neben ihr ging Lutz, der Fotograf. Das Blitzlicht seiner Kamera war das wohl einzig Auffällige an diesem Mann. Carmen, Pieters hocherfahrene, aber leider eigentümliche Kollegin aus der kriminaltechnischen Abteilung, platzierte sich sofort dicht neben ihm. Ihre absehbare Bitte, dass er sie noch auf ein Bier begleiten möge, würde er auch heute höflich ablehnen – so wie beim letzten Mal und jeder anderen Gelegenheit davor …

    »Lass dir nachher einfach nichts anmerken, okay?«, flüsterte er flehend an Franz gewandt.

    Der schien besorgt, doch nickte, sodass Pieter zur Routine überging und dem Verlauf der Obduktion beunruhigt folgte.

    7

    Der Tod, der in den Kellerräumen des Instituts allgegenwärtig war, roch nach etwas Fremdem und Desinfektion. Beth atmete so früh und tief wie möglich ein, um sich an die Luft hier unten zu gewöhnen. Entgegen ihrer Erwartung fand sie einen gähnend leeren Sektionssaal vor, wobei sie Pieter in Begleitung eines Weißkittels und ohne jeden Ton empfing. – Er sah sie immer noch nicht an.

    »Willkommen in meinen Hallen!«, setzte der schlanke und etwas zu klein geratene Mediziner an. »Ich bin der Leiter dieses Instituts, Professor Doktor Erdich –, oder Franz, ganz wie Sie wollen. Kommen Sie. Wir müssen hier entlang.«

    Der Professor führte sie durch einen langen Flur, wobei Pieter dicht hinter ihnen ging. Die Luft war zum Zerreißen angespannt, was sicher nicht nur an den Leichen hier unten lag.

    »Vergleicht man es mit Flensburg, ist Kiel wirklich keine Augenweide«, versuchte Erdich sich an etwas Small Talk, was Beths Stimmung allerdings nicht hob.

    Ihr war nicht entgangen, wie dieser Weißkittel sie musterte und es auf diese ganz spezielle Art noch immer tat. Ärzte waren ihr ohnehin suspekt!

    Inzwischen standen sie in einem überraschend komfortablen Büro. Erdich bedachte Pieter – nicht so unauffällig, wie er offensichtlich meinte – mit irgendeiner drängenden Frage in seinem Blick. Verdammt, was hatte Pieter ihm erzählt?

    »Wie lange waren Sie in Flensburg?«, wollte der Professor wissen. Diesmal klang er ernsthaft interessiert.

    »Ein paar Jahre. Ist die Obduktion schon abgeschlossen?«

    »Ja«, war Pieters erstes Wort, seit sie hier eingetroffen war.

    Beth schluckte. Dann erfasste sie ein mulmiges Gefühl. Im Geist ging sie die letzte Unterhaltung noch mal durch. »Habe ich Sie vorhin missverstanden? Komme ich zu spät?«

    »Nein, sie waren überpünktlich.«

    »Aber …« Sie war schon wieder sprachlos.

    Beth kam sich nutzlos vor. Dann wallte Ärger in ihr auf. Da sie sich aber vorgenommen hatte, Pieters Sticheleien zu ignorieren, abzuwarten und sich ausschließlich der Arbeit zuzuwenden, riss sie sich zusammen.

    Der Professor nahm hinter dem Schreibtisch Platz und deutete auf einen Stuhl. »Wie ich hörte, waren Sie es, die die Leiche fand?«

    Sie nickte beiläufig und blieb, genau wie Pieter, stehen.

    »Dann haben Sie ja selbst gesehen, wie übel man das Opfer zugerichtet hat«, fuhr Erdich fort, als spüre er die Spannung nicht. »Wir fanden viele, aber nicht sehr tiefe Wunden. Es handelt sich um fünfzehn sauber ausgeführte Schnittverletzungen, wobei jede einzelne wohl schmerzhaft, doch nicht tödlich war.« Er gestikulierte wild, während er sprach, und holte Luft. »Das Opfer starb an einem hämorrhagischen Schock. Man hat sie verbluten lassen. Langsam und qualvoll. Für die Schnitte wurde ein Skalpell der Figur zehn benutzt.«

    Beth nickte und nahm notgedrungen Platz. Die Narben auf ihrem Rücken brannten und so würde es vielleicht gleich besser sein.

    »Aber die Leiche weist auch eine tiefe Stichverletzung auf«, fuhr der Professor ohne Punkt und Komma fort, wobei er ihr ein Wasser einschenkte und ihr das Glas lächelnd entgegenschob. »Die Klinge traf präzise ins Herz. Womöglich war es ein schmales Küchenmesser, eins mit einer zwanzig Zentimeter langen Klinge.«

    Beth runzelte die Stirn. Hatte er nicht eben noch gesagt, das Opfer sei verblutet?

    »So wie auch die Verstümmelungen im Gesicht wurde der Stich post mortem zugefügt«, erklärte Erdich.

    »Das heißt, der Täter verfügt über medizinische Kenntnisse«, stellte sie kühl fest.

    Pieter hatte sich inzwischen auch gesetzt – nicht weit genug entfernt, dass sie ihn nicht im Augenwinkel sah – und nickte, während der Professor weitersprach.

    »Zu dieser Überlegung hat sich Pieter auch hinreißen lassen.« Erdich blickte diesen lange an. Das Schauspiel nervte Beth. »Die Verletzungen wurden ihr strategisch zugeführt«, fuhr er endlich fort. »Was noch? Ah … vor ihrem Tod ist sie gefesselt und geknebelt worden. Sie wurde vergewaltigt und starb zwischen dreiundzwanzig Uhr und drei Uhr nachts. Und das ganz sicher nicht am Fundort. Die letzte Mahlzeit lag nicht allzu lang zurück. Es gab Spaghetti Bolognese.« Damit beendete der Mediziner den Bericht und richtete den Blick erneut auf Pieter, der für ihn weit mehr als ein Kollege zu sein schien. »Junge, was ist los? So schweigsam kenne ich dich nicht.«

    Womöglich sollte sie jetzt einfach gehen …

    »Sie müssen ihn entschuldigen«, richtete Erdich das Wort wieder an Beth, bedachte aber weiterhin mit strenger Miene ihn. »Ich kenne Pieter von klein auf und wenn er sich nicht gerade wie ein Klotz aufführt, ist er ein wirklich angenehmer Zeitgenosse.«

    Hätte sie sich noch unwohler fühlen können?

    »Du gehst zu weit«, war Pieters drohend kalte Antwort.

    Beth zuckte ungewollt zusammen.

    Der Mediziner überging den Einwand und tat – was sie vollständig irritierte –, als wäre nichts geschehen.

    ***

    Beth wich Hendricks Schlägen aus. Der zeigte keine Gnade, was ihr allerdings nicht ungelegen kam. Sie legte ihre Wut auf Pieters ungehobeltes Verhalten in den nächsten Kick, der ihren Gegner ungebremst am Oberschenkel traf.

    Jeder Versuch, zu dem Idioten durchzudringen, scheitert sowieso an seiner grenzenlosen Arroganz!, dachte sie aufgebracht. Was denkt sich dieser Mistkerl nur dabei?

    Beth setzte nach, vernachlässigte aber ihre Deckung, was sich rächte: Hendricks gnadenloses Knie traf ihre Seite. – Verdammt, das tat echt weh!

    Es war nicht klug, sich während eines Kampfes in Emotionen zu verlieren. Beth tat es dennoch und schlug ungehalten auf ihren Sparringspartner ein. Der wich ihren Schlägen aus, verschaffte sich durch einen gezielten Frontkick Raum und ging danach zum Angriff über. Als Hendrick zum nächsten Tritt ansetzte, drehte er sich um die eigene Achse und verfehlte ihren Kopf nur knapp.

    Beth war nicht konzentriert und völlig außer Atem. Da sie sich nicht verletzen wollte, gab sie auf.

    »Ärger bei der Arbeit?«, fragte Hendrick, als er ihr spielerisch gegen die Schulter schlug.

    Beth nickte abgekämpft. Er kannte sie zu gut, um nicht genau zu wissen, wie der Hase lief. Sie hatte diesen Kerl schon viel zu lange nicht gesehen.

    »War heute nicht dein bester Kampf«, bemerkte er lächelnd. »Hast dich nur an mir abgearbeitet, statt dich auf die Technik zu besinnen.« Hendrick entledigte sich seiner Handschuhe und sah Beth frech grinsend an. »Dabei weißt du doch, wie gerne ich dir dabei auch außerhalb des Rings behilflich bin.«

    »Die Zeiten sind vorbei.«

    »Oh ja, das habe ich bemerkt. Aber warum, hast du mir nie gesagt. Stattdessen bist du abgehauen und gehst mir seitdem aus dem Weg.«

    Das brachte es wohl auf den Punkt. »Hendrick, es tut mir leid. Ich … Das damals war …«

    »Hör zu, du bist ’ne klasse Frau. Und wie dir sicher nicht entgangen ist, habe ich noch immer sehr viel für dich übrig. Ich halte dir nicht vor, dass du mich hast stehenlassen.« Er zwinkerte ihr zu. »Also hör auf, mir aus dem Weg zu gehen.«

    Als Hendrick ging, sah sie ihm traurig hinterher. Warum setze ich so was eigentlich immer wieder in den Sand?

    Beth entledigte sich ihrer Boxhandschuhe, nahm frustriert den Schienbeinschutz und schließlich die Bandagen ab. Beziehungen waren nicht ihre Stärke, enge Bindungen raubten ihr die Luft. Ihre letzte Partnerschaft war aus demselben Grund nach wieder mal nur ein paar Monaten gescheitert. Die quälend hohe Anspannung, die sich selbst während ihrer kurzen Zeit mit Hendrick aufgebaut hatte, ließ sie aus jeglichen Beziehungen fliehen. Doch damit war jetzt Schluss! Statt sich und diesen armen Kerlen vorzumachen, dass tatsächlich etwas Festes aus der Sache würde, hatte sie sich nach der letzten Pleite vorgenommen, es künftig gleich bei einem Abenteuer zu belassen. So wusste jeder ganz genau, woran er war und wurde nicht verletzt.

    Unter der Dusche wandte Beth sich den Problemen bei der Arbeit zu: Pieter hatte einen guten Stand im Team. Sie dagegen konnte er nicht leiden. Nur das Warum erschloss sich ihr noch nicht, was sie zunehmend in den Wahnsinn trieb. Hatte sie ihm etwa einen Grund geliefert, ohne es selbst zu bemerken? Beth ging die wenigen Begegnungen mit Pieter noch mal durch, hinterfragte jedes ihrer Worte, jede der Bewegungen und Gesten, kam jedoch zu keinem Schluss.

    So ein verdammter Scheiß!

    Sie stieg fahrig aus der Dusche. Die ganze Woche hatte sie sich Pieters merkwürdigen Launen ausgesetzt und sich fast krummgelegt, um es dem Herrn recht zu machen. – Doch auch damit war jetzt Schluss! Beth hatte weder Lust noch Energie dazu, sich über den Idioten aufzuregen. Sollte Pieter sie ruhig weiter ignorieren! Sie müsste ja nur mit ihm arbeiten, doch ihm nicht auch sympathisch sein.

    8

    »Ich hätte damit früher zu dir kommen sollen«, gestand Pieter zerknirscht. Da das Essen längst im Ofen garte, saß er nunmehr untätig, doch umso aufgewühlter auf einem Barhocker im Penthouse seines besten Freundes. »Aber ich habe gedacht, es würde sich von selbst erledigen. Stattdessen kann ich mich inzwischen kaum mehr konzentrieren, wenn diese Frau in meiner Nähe ist. Es langt schon, von ihr zu reden, und mir wird gleich wieder schlecht.«

    Toms Behausung war modern und praktisch eingerichtet und bot neben der Terrasse einen imposanten Blick hinaus. Pieter starrte unzufrieden auf die Kieler Förde und hoffte verzweifelt auf Toms Reaktion, die jedoch weiter auf sich warten ließ. »Es tut mir leid. Ich weiß, ich bin nicht dein Patient.« – Tom war Psychiater und ein guter Therapeut. – »Doch das geht jetzt schon seit einer Woche so und …«

    »Jetzt quatsch doch keinen Scheiß!«, bemerkte Tom und goss ihnen beiden Rotwein nach. »Du weißt, dass du mit allem zu mir kommen kannst. Doch gehen wir bitte kurz noch mal zurück: Du sagst, dass diese Neue Linda ähnlich sieht?«

    »Herrgott, sie sieht ihr nicht nur ähnlich! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass sie es ist. Sie ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, Tom.«

    Der nickte lediglich und sah hinaus. »Seit wann sprichst du eigentlich wieder über sie?«, fragte er schließlich.

    »Seitdem es nötig ist. Ist das für meine Frage relevant?«

    »Und wie läuft es bei der Arbeit?« Toms Ton war beiläufig. »Abgesehen, von dieser Neuen?«

    »Grade ist es ziemlich viel.« Pieter wusste, dass sein Freund Jürgen nicht mochte. »Jürgen ist krank«, entschied er dennoch zu erzählen. »Krebs. Es sieht nicht gut aus, glaube ich. Sie werden nächste Woche operieren. Deshalb soll ich jetzt die Ermittlungsleitung übernehmen. Noch ist es allerdings nicht offiziell.«

    »Das erste Mal, dass du das machst?«

    »Das erste Mal im Rahmen einer Mordermittlung. Und Jürgen hat mir dabei bisher immer beigestanden.« Pieter hielt unzufrieden inne. Tom war das Missfallen deutlich anzusehen, was nur bedeuten konnte, dass er es absichtlich nicht vor ihm verbarg. Sein Pokerface war legendär und Toms Gemütszustand ein Rätsel für die Menschen, die ihn liebten. »Ich weiß, du magst ihn nicht. Was fragst du auch, wenn du es nicht hören willst?«

    »Meine Güte, sind wir heute überspannt. Natürlich will ich’s hören. Ist es dir lieber, wenn ich etwas Mitleid für den Mistkerl heuchle?«

    »Das Ganze ist jetzt Jahre her. Du nimmst das zu persönlich.«

    »Teufel, Mann, das sagt genau der Richtige.«

    Sie sahen einander schweigend an.

    Tom hatte zugenommen. Auch das Silbergrau hatte sich erst während des letzten Jahres in sein lichtes Haar verirrt. Der neue Leitungsjob tat ihm nicht gut, dennoch war er Toms Gelassenheit nicht abträglich. Auf Pieter wirkte seine in sich ruhende Präsenz selbst heute tröstlich.

    Tom atmete tief durch. »Du gehst dieser Kollegin also aus dem Weg, vermeidest es, mit ihr zu sprechen und sie anzusehen. Sag mal, wie kannst du so nur arbeiten?«

    »Natürlich gar nicht!«

    »Schon gut.« Tom grinste schief. »Wärst du mein Patient, dann müsste ich dir jetzt erst langatmig erklären, warum es eine Schnapsidee ist, den Kontakt zu ihr so meisterhaft zu meiden. Da du mein Freund bist, komme ich aber gleich zum Punkt: Hör auf damit, deiner Kollegin aus dem Weg zu gehen, und befasse dich stattdessen endlich mal mit dem Problem, um das es hier tatsächlich geht.«

    »Glaubst du denn, ich wüsste nicht, dass das kein guter Einfall war? Es ist mir ohnehin ein Rätsel, wie es ihr gelingt, das immer noch zu ignorieren. Sie denkt bestimmt, ich bin ein Riesenarsch.«

    Tom stimmte unbefangen zu.

    Pieter seufzte. »Der Punkt ist der: Mir fällt nichts Besseres ein. Tom, ich ertrage es nicht, sie anzusehen. Hab’s ausprobiert. Sobald ich es tue, sehe ich Linda. Und das ist … als würde es mich innerlich zerreißen.«

    »Geh dem Thema Linda nicht noch länger aus dem Weg«, fuhr Tom mit diesem angenehm besänftigenden Brummen in der Stimme fort. »Woher willst du wissen, dass du es nicht erträgst, sie anzusehen? Mit ihr zu reden, sie womöglich besser kennenzulernen und dabei rauszufinden, dass sie eine eigene Persönlichkeit besitzt?«

    Er sah Tom skeptisch an. Währenddessen trieb ein Luftzug frischen Wind durch die geöffnete Terrassentür.

    »Wie heißt die Gute überhaupt?«

    »Elisabeth Wagner. Sie bevorzugt Beth.«

    »Also Beth. Sicher ist sie Linda nicht so ähnlich, wie du denkst.« Tom ließ sich Zeit. »Du weißt nicht, dass es dich zerreißt. Du glaubst es nur zu wissen.«

    Es dauerte einen Moment, bis Pieter das verstand. »Ich hatte angenommen, ich sei darüber längst hinweg.«

    Auf Toms schmalem Lippen lag der Ansatz eines Schmunzelns. »Piet, ich will dir nicht zu nahe treten«, meinte er und seine Miene wurde wieder ernst. »Ich weiß, was du damals durchgemacht hast. Besser als jeder andere. Trotzdem muss ich dir jetzt sagen, dass so etwas zu verarbeiten nun wirklich anders aussieht.«

    Pieter starrte aus dem Fenster. Heute fiel es ihm besonders schwer, Toms gnadenlose Offenheit zu honorieren. Trotzdem schätzte er ihn eben dafür sehr.

    »Ich verwette meinen viel zu breit gewordenen Arsch darauf, dass Lindas Bilder, ihre Staffelei und ihre Pinsel immer noch an ihrem alten Platz bei dir im Gästezimmer stehen.«

    Pieter wollte, doch konnte es nicht leugnen, denn Tom würde jede Lüge mühelos durchschauen.

    »Wie lange ist es her, dass du Interesse an einer Frau gezeigt hast? Teufel, Piet, wie lange ist es her, dass du mit irgendeiner Frau im Bett gewesen bist?«

    »Du weißt, ich hab’s versucht!«

    »Ja, ich weiß. Anna, oder nicht?«

    Er nickte unwillig.

    Anna war wundervoll gewesen. Sie hatten sich vor knapp fünf Jahren in einer Bar getroffen und waren zwanglos ins Gespräch gekommen. Noch heute frage Pieter sich, ob Tom das Treffen eingefädelt hatte. Zuzutrauen war es dem Halunken allemal. Pieter hatte Anna gleich

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