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Flug mit dem Wind: Band VI der Kashmir-Saga
Flug mit dem Wind: Band VI der Kashmir-Saga
Flug mit dem Wind: Band VI der Kashmir-Saga
eBook761 Seiten10 Stunden

Flug mit dem Wind: Band VI der Kashmir-Saga

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Über dieses E-Book

Ex-Agent Vikram Sandeep muss um den Fortbestand seines Waisenhauses Dar-as-Salam in Kashmir bangen: Sein Erzfeind, der korrupte Polizeipräsident Narendra Nikam in Srinagar, setzt alles daran, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Während die ersten Pflegekinder im Haus des Friedens allmählich flügge werden und in die Welt hinausziehen, setzen Vikram, seine Frau Sameera und sein bester Freund Raja Sharma sich mit vereinten Kräften gegen Nikams Intrigen zur Wehr, um die drohende Schließung des Dar-as-Salam zu verhindern…

In der Kashmir-Saga erzählen Simone Dorra und Ingrid Zellner in sieben Bänden die Geschichte zweier in Freundschaft eng verbundener Familien in Indien und Kashmir. Sie erstreckt sich über vier Jahrzehnte und berichtet von großen Gefühlen, von spannenden Abenteuern, von Terror und Liebe in einem durch anhaltende Konflikte geschundenen Land.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Aug. 2021
ISBN9783347382831
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    Buchvorschau

    Flug mit dem Wind - Ingrid Zellner

    Vorwort

    In seinem Roman First Among Equals (Rivalen) schildert Jeffrey Archer einen britischen Politiker, der im Jahr 1991 nach einer Parlamentswahl eine königliche Einladung in den Buckingham Palace erhält… und zwar von König Charles III. Ein historischer Fauxpas, möchte man meinen – der jedoch verständlich wird, wenn man weiß, dass First Among Equals bereits 1984 erschien. Archer schrieb darin also Passagen, die aus seiner Sicht in der Zukunft spielten, und offenbar ging er davon aus oder hielt es zumindest für wahrscheinlich, dass bis 1991 der Prince of Wales seiner Mutter Königin Elizabeth II. auf den Thron gefolgt sein würde. Selbstverständlich mit Königin Diana an seiner Seite.

    So etwas kann nun auch uns in den letzten beiden Bänden unserer Kashmir-Saga passieren. Am Ende des fünften Bandes (Ein Lied in der Nacht) waren wir mit unserer Geschichte im Herbst 2017 angekommen, und im Kapitel 6 von Flug mit dem Wind erreichen wir das Jahr 2021. Das heißt: Ab dann schreiben wir in die Zukunft hinein.

    Nun ist unsere Kashmir-Saga in erster Linie einfach die fiktive Geschichte eines Waisenhauses bei Srinagar und zweier Familien aus verschiedenen Teilen Indiens – kein zeitgeschichtliches Sachbuch und auch kein politischer Doku-Thriller. Doch der Kashmir-Konflikt und die schwierige Realität in diesem so schönen wie geschundenen Tal waren, sind und bleiben stets der Hintergrund unserer Saga. Wir gehen davon aus, dass die einschneidenden politischen Ereignisse der vergangenen Jahre in Kashmir sowie die Corona-Pandemie auch noch eine ganze Weile über 2021 hinaus nachwirken werden, und konnten zumindest das entsprechend im Auge behalten. Aber Flug mit dem Wind führt uns bis in das Jahr 2029 – und da wir keine Kristallkugel haben, kann es ohne weiteres passieren, dass Realität und Fiktion von nun an stellenweise nicht mehr übereinstimmen werden.

    Deshalb bitten wir um Nachsicht, sollte sich irgendwann in künftigen Jahren erweisen, dass sich nun auch unsere Kashmir-Saga den einen oder anderen »König Charles III.« eingefangen hat.

    Welzheim/ Gomadingen, August 2021

    Simone Dorra & Ingrid Zellner

    Vorspiel

    Neubeginn

    Mit einem leisen Zischen flammte das Streichholz auf. Routiniert hielt Sameera Sandeep es an das zerknüllte Zeitungspapier, das sie zwischen die sorgfältig gestapelten Kiefernholzscheite geschoben hatte, und schnell züngelten erste kleine Flämmchen empor. Sameera sah zu, wie sie auf die Scheite übergriffen und zu einem warmen, flackernden Feuer heranwuchsen, und sie spürte, wie sich ihr Gesicht zu einem Lächeln entspannte. Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie wieder das Gefühl, dass ihre Welt rundum in Ordnung war.

    Dabei sprach genau genommen einiges gegen diese Ansicht. Zum Beispiel der Anblick ihres Mannes Vikram, der neben ihr in einem Lehnsessel saß und stumm in die Flammen schaute – jedenfalls mit dem rechten Auge; das linke war halb zugeschwollen und von einem prächtig schillernden Veilchen verfärbt. Der lädierte Gesamteindruck wurde noch verstärkt durch die dicke Bandage um seine linke Schulter und die Schlinge, in der sein Unterarm ruhte. Als Sameera sich an diesem Morgen vor ihrer Fahrt nach Baramulla von ihm verabschiedet hatte, war er heil und gesund gewesen – jetzt sah er aus, als wäre er unter die Räuber gefallen, und der Verband verdeckte gnädig die Ein- und die Austrittswunde, die eine Pistolenkugel hinterlassen hatte. Zum Glück war es ein glatter Durchschuss gewesen; dennoch würde Vikram dadurch noch eine ganze Weile gehandicapt sein.

    Langsam ließ Sameera sich auf einem der buntbestickten Bodenpolster vor der Feuerstelle nieder. Diese Schusswunde war ein weiterer Grund, warum von einem Idealzustand derzeit eigentlich keine Rede sein konnte. Denn der Mann, der auf Vikram gefeuert hatte, war Rizwan Padar gewesen – der Ex-Soldat, den sie ein knappes Jahr zuvor als Leibwächter engagiert hatten, für sich und vor allem für das Waisenhaus, das sie und Vikram hier in einem Seitental nahe Srinagar leiteten. Vikram hatte mit fünfzig vorzeitig seinen Dienst bei der indischen Abwehr quittiert und vor acht Jahren das Dar-as-Salam, das Haus des Friedens, ins Leben gerufen; seitdem widmete er seine ganze Energie Kindern, die durch den anhaltenden Kashmirkonflikt ihre Angehörigen verloren hatten und oft zudem schwer traumatisiert waren.

    Aber er hatte während seiner fünfundzwanzig Jahre als Agent und Elitesoldat nicht nur unendlich viel Leid und Elend gesehen, sondern sich auch zahlreiche Feinde gemacht, die seitdem keine Gelegenheit ausließen, ihm zu schaden. Deshalb hatte an der Einstellung eines professionellen Wachmanns für das Waisenhaus irgendwann kein Weg mehr vorbeigeführt, und Rizwan Padar war scheinbar der perfekte Mann dafür gewesen: zuverlässig, freundlich und vor allem auch bei den Kindern sehr beliebt. Dass er nun an diesem Tag plötzlich aus heiterem Himmel auf Vikram geschossen hatte, war unbegreiflich. Und ob sie den Grund dafür jemals herausfinden würden, war fraglich – Padar jedenfalls konnte es ihnen nicht mehr verraten; Vikram war es trotz seiner Schulterverletzung gelungen, das Feuer zu erwidern, und er hatte den Leibwächter schon mit dem ersten Schuss tödlich getroffen.

    Sameera seufzte innerlich. Zum Glück hatte es bei dem Vorfall Zeugen gegeben – allen voran den angesehenen Major Veer Shinde –, die allesamt bereit waren, vor der Polizei und der Staatsanwaltschaft zu beschwören, dass Vikram in Notwehr gehandelt hatte. Somit bestand zumindest keine Gefahr, dass Padars Tod für Vikram ein ernstes juristisches Nachspiel haben könnte. Was eine doppelte Erleichterung war angesichts der Tatsache, dass auf dem Chefsessel der Polizei in Srinagar Narendra Nikam saß, der nur auf eine Gelegenheit wartete, Vikram aus dem Verkehr zu ziehen und ihn im Knast verrotten zu lassen. Noch so ein Grund, warum Sameeras Leben eigentlich alles andere als in Ordnung war.

    Aber all das war für sie im Moment zweitrangig. Wichtig war – außer der Tatsache, dass ihr Mann Padars Anschlag überlebt hatte – nur eines: Raja war wieder da.

    Ihr Blick glitt zu dem hochgewachsenen, schlanken Mann, der ebenfalls auf einem Bodenpolster saß und mit ruhiger Gelassenheit das Feuer betrachtete. Raja Sharma aus Shivapur in Maharashtra war seit knapp dreieinhalb Jahren ihr bester Freund; Vikram betrachtete ihn sogar als seinen Bruder. Die beiden hatten sich bereits mehrfach gegenseitig das Leben gerettet und einander auch in schwersten Krisensituationen stets bedingungslos beigestanden. Das Band der Freundschaft zwischen ihnen schien unzerstörbar gewesen zu sein.

    Und doch war es vor drei Monaten gerissen, und Raja war von einer Sekunde zur nächsten aus ihrem Leben verschwunden.

    In gewisser Weise hatte Sameera ihn sogar verstehen können. Durch einen Zufall war Raja dahintergekommen, dass Vikram bei einem der zahlreichen »harten Verhöre«, die er in seinen Geheimdienstjahren hatte führen müssen, die Beherrschung verloren und einen unschuldigen Mann halb totgeprügelt hatte. Und man musste keine Traumatherapeutin sein wie Sameera, um nachvollziehen zu können, dass das für jemanden wie Raja, der fünfundzwanzig Jahre lang unschuldig im Gefängnis gesessen und solche »harten Verhöre« und Folterungen mehr als einmal am eigenen Leib erlebt hatte, ein Schlag ins Gesicht war, den er nicht so ohne Weiteres wegstecken konnte. Er hatte jeden Kontakt zu Vikram abgebrochen, und auch wenn Sameera ihrem niedergeschlagenen Mann immer wieder tröstend versichert hatte, dass Raja einfach nur Zeit brauchte und ganz bestimmt zu ihnen zurückfinden würde, so hatte sie sich doch mehr als einmal dabei ertappt, dass selbst sie, je länger Rajas hartnäckiges Schweigen währte, an einem glücklichen Ausgang dieser Krise zu zweifeln begann.

    Heute jedoch war der Knoten geplatzt. Sameera lächelte unwillkürlich bei der Erinnerung daran, wie ihr kleiner Sohn Mohan vor Freude gequietscht hatte, als sein »Aja« aus dem Jeep stieg, und wie ihre Pflegekinder in wahre Jubelstürme ausgebrochen waren, als sie spätnachmittags aus der Schule kamen und den inoffiziellen zweiten Patriarchen des Hauses endlich wieder leibhaftig auf der Veranda des Dar-as-Salam vorfanden. Es hatte ihr leidgetan, diese allgemeine Euphorie wieder dämpfen zu müssen – aber irgendwie musste sie den Kindern ja erklären, warum ihr Vikram baba so ramponiert aussah und warum der allseits beliebte Rizwan Padar nie mehr wiederkommen würde.

    In diesem Moment war Raja einmal mehr seinem Ruf als dil phek aashik gerecht geworden, als er unbekümmert zugab, dass er es gewesen war, der Vikram das Veilchen verpasst hatte. »Wir haben uns gestritten«, hatte er den Kindern erklärt. »So was kommt in den besten Familien vor und auch unter Freunden; das wisst ihr mit Sicherheit genauso gut wie ich. Natürlich sollte das Ganze nicht gleich mit dieser Art von ›Schlagabtausch‹ enden – Gewalt ist nie eine Lösung, und ich geb zu, ich schäme mich wie ein Hund, dass ich derart die Beherrschung verloren habe. Zum Glück hat euer Vikram baba mir verziehen… hast du doch, oder?«, hatte er zu Vikram gewandt hinzugefügt. Vikram hatte ihm die Hand gedrückt und stumm genickt; genau wie Sameera wusste er nur zu gut, dass vor allem ihm an diesem Tag vergeben worden war.

    Nun, ein ausgiebiges Abendessen und eine Debattierrunde über denkbare Gründe für Rizwan Padars Verrat später, hatten die Kinder sich in ihre Zimmer zurückgezogen – noch immer mehr oder weniger verstört angesichts der unerwarteten Enthüllungen des Tages, aber auch getröstet durch die Gewissheit, dass Vikram und Raja sich wieder vertrugen. Und Sameera hatte ganz bewusst vorgeschlagen, dass sie, die drei Erwachsenen, den Rest des Abends in dem großen Gästezimmer im Anbau verbrachten. Nicht nur wegen der gemütlichen Feuerstelle, in der die Flammen nun warm und lustig prasselten, sondern vor allem auch deshalb, weil es allgemein als »Rajas Zimmer« galt und ihr daran gelegen war, dass Raja sich im Dar-as-Salam möglichst rasch wieder so zuhause fühlte wie vor dem unseligen Bruch mit Vikram.

    Sie trank den letzten Rest Kaffee aus ihrem Becher und gab einen wohligen Seufzer von sich.

    »Wie schaut’s aus, ihr zwei? Braucht ihr noch irgendwas?«

    »Ich bin versorgt.« Raja hob die Thermoskanne mit Chai hoch, die neben ihm stand, und schüttelte sie leicht. »Das reicht locker noch für zwei Gläser. Was ist mit dir, Vikram?«

    Vikram verzog das Gesicht. »Am liebsten wär mir ja gerade ein ordentlicher Whiskey. Aber ich fürchte, dann rechnet meine Frau mir vor, welche Schmerzmittel ich heute bereits intus habe beziehungsweise noch einnehmen muss, und steigt mir aufs Dach.«

    »Da fürchtest du richtig, mera jaan«, schmunzelte Sameera. »Allerdings wäre ich angesichts der besonderen Umstände dieses Tages möglicherweise bereit, dir ein kleines Glas Wein zu genehmigen, wenn du dich damit begnügen könntest. Eines, wohlgemerkt.«

    »Man muss den Göttern auch für die geringsten Gaben danken.« In Vikrams graumeliertem Vollbart blitzte ein ironisches Lächeln auf. »Gerne, meri jaan

    »Da würde ich mich sogar anschließen«, warf Raja ein. »Das heißt, sofern ihr für mich auch noch ein Gläschen übrighabt.«

    »Aber sicher.« Sameera erhob sich. »Ich bin gleich wieder da.«

    Sie verließ das Zimmer. Vikram verfolgte ihre schlanke Gestalt mit den Blicken, bis sie die Tür hinter sich zuzog. Nach mittlerweile vier Jahren Ehe liebte er seine Frau noch immer wie am ersten Tag. Und er liebte seinen Freund und Bruder, der ihm heute wiedergeschenkt worden war. Wenn auch zu einem ziemlich schmerzhaften Preis.

    Er wandte den Kopf zu Raja; ihre Blicke trafen sich, und Raja lächelte. Aber es war ein ungewohnt vorsichtiges Lächeln, und Vikram spürte die Verlegenheit, die nach wie vor zwischen ihnen stand, ebenso deutlich wie die Schmerzen in seiner Schulter. Er räusperte sich.

    »Und du fliegst tatsächlich morgen schon wieder nach Hause?«, fragte er. »Willst du nicht noch ein, zwei Tage bleiben? Die Kinder würden sich so freuen!«

    Raja schüttelte den Kopf. »Ich würde ja gern, aber gerade diesmal geht es nicht. Rani tritt übermorgen bei einer Aufführung in ihrer Schule auf.«

    »Ja klar, da musst du selbstverständlich dabei sein.« Vikram lächelte unwillkürlich, als er an Rajas lebhafte kleine Tochter dachte. »Was für eine Aufführung ist das denn?«

    »Filmsongs«, erläuterte Raja. »Die haben da eine Extraklasse für Musik und Tanz eingerichtet; die Kinder singen, studieren Tanznummern aus Hindi-Filmen ein, sie können sogar traditionelle Musikinstrumente lernen. Und da war meine Kleine natürlich sofort Feuer und Flamme.«

    »Das kann ich mir denken«, nickte Vikram. »Sag ihr, ich wünsche ihr viel Glück für die Aufführung, und sie darf mir bei nächstbester Gelegenheit gerne mal eine Kostprobe daraus präsentieren.«

    Raja lächelte. »So wie ich meine Tochter kenne, wird sie dir das komplette Programm vorführen. Samt Zugaben.«

    »Kein Problem.« Vikram lächelte zurück. »Deine Kleine hat mir doch ebenso gefehlt wie du!«

    Rajas Gesicht wurde jäh ernst, und er senkte den Blick.

    »Es tut mir leid«, sagte er leise. »Jetzt im Nachhinein kann ich gar nicht mehr begreifen, warum ich so lange so vernagelt gewesen bin. Ich hätte schon viel früher wieder auf dich zukommen müssen.«

    »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Vikram nüchtern. »Schließlich bin ich es, der Mist gebaut hat.«

    Raja hob den Kopf und verzog den Mund zu einem ausgesprochen schrägen Grinsen.

    »Möchte man gar nicht meinen, so wie du mich heute in der Baracke zusammengestaucht hast«, versetzte er trocken. »Ich dachte wirklich, mich trifft der Schlag.«

    »Irrtum – mich hat er getroffen, nicht dich«, entgegnete Vikram ironisch, betastete sein geschwollenes Auge und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz ihn durchfuhr. »Gut, wenn ich meine diversen Aussetzer dir gegenüber in den vergangenen Monaten zusammenrechne, dann hab ich den Haken mehr als verdient. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich in dem Moment einfach stocksauer auf dich war. Da warte und hoffe ich monatelang darauf, dass du dich endlich wieder bei mir meldest – und dann erfahre ich, dass du dich in Kashmir rumtreibst, noch dazu in diesem gottverfluchten Lager, ohne mir auch nur ein Sterbenswort davon zu sagen!«

    »Ich wusste schon, warum ich Nanda gebeten hatte, die Klappe zu halten.« Raja schnitt eine Grimasse, langte nach einem neuen Holzscheit und schob es in die Flammen. »Ich war mir sicher, dass ich nur noch diesen einen Abstecher brauchte, um wieder völlig klar im Kopf zu werden; danach hätte ich Major Shinde gebeten, mich hierher zu fahren, und dann hätten wir uns in aller Ruhe aussprechen können. Dass du auf einmal wie ein wutschäumender Flaschengeist in der verdammten Folterbaracke auftauchst, war in meinem Plan nicht vorgesehen… und noch weniger, dass dieser Padar plötzlich durchdreht und auf dich feuert. Du hast wirklich keine Ahnung, warum?«

    »Keine Spur.« Vikram hinderte sich gerade noch rechtzeitig selbst daran, mit den Schultern zu zucken. »Shinde hat gesagt, er wird sich der Sache annehmen und Ermittlungen einleiten; er meldet sich, sobald er etwas herausfindet. Bis dahin können wir nur spekulieren.«

    Raja schwieg eine Weile, dann prustete er plötzlich leise. »Der Witz an der Sache ist ja, dass es ausgerechnet Kamils Schädel war, der dir in dem Moment das Leben gerettet hat. Wieso hast du das gute Stück eigentlich nicht mitgenommen, um es zu vergolden und in Ehren zu halten?«

    Vikram gab ein sarkastisches Schnauben von sich. Djamal Kamil war der Anführer der sadistischen Paramilitär-Bande gewesen, die Raja vor anderthalb Jahren eine Woche lang gefangen gehalten und beinahe zu Tode gefoltert hatte. Vikram hatte damals zusammen mit drei Helfern Raja in einer waghalsigen Aktion befreit und dabei Kamil mit einem Kopfschuss getötet. Als nun an diesem Nachmittag Rizwan Padar auf dem ehemaligen Lagergelände das Feuer eröffnet und Vikram in die Schulter getroffen hatte, war er über Kamils verdeckt im Gras liegenden Schädel gestolpert, bevor er ein zweites Mal schießen konnte. Das hatte Vikram die entscheidenden Sekundenbruchteile verschafft, um Padar zu erledigen.

    »Wenn das der alte Schurke gewusst hätte – dass er nach seinem Tod tatsächlich mal was Gutes tut, und dann auch noch mir!« Vikram grinste schief. »Hätte ihm jemand seinerzeit ein Grab spendiert, er würde sich jetzt mit Sicherheit darin umdrehen.«

    Er wechselte einen vielsagenden Blick mit Raja, und mit einem Mal brachen beide in schallendes Gelächter aus. Es fühlte sich für Vikram unendlich befreiend an – und er zweifelte keine Sekunde, dass Raja das Gleiche empfand.

    »Meine Güte!« Raja wischte sich die Tränen aus den Augen. »Wer hätte gedacht, dass dieser Drecksack von Kamil uns mal ernsthaft zum Lachen bringt!«

    »Schon die zweite gute Tat«, gluckste Vikram. »Allmählich wird’s unheimlich.«

    Erneut lachten beide laut los. In diesem Moment kam Sameera zurück, mit einer Weinflasche und drei Gläsern.

    »Na, hier geht’s ja lustig zu«, stellte sie fest. »Habt ihr euch etwa heimlich hinter meinem Rücken doch schon einen Whiskey genehmigt?«

    »Ohne deine Erlaubnis? Würden wir nie wagen!«, antwortete Vikram mit Unschuldsmiene. »Wieso hat es denn so lange gedauert, den Wein zu organisieren? War was mit Mohan?«

    »Nein, ich geh davon aus, dass der schläft; Zooni passt auf ihn auf, und sie würde sich sicher sofort melden, wenn etwas nicht in Ordnung wäre.« Sameera stellte Flasche und Gläser auf dem Tisch ab. »Aber ich hab einen Anruf bekommen, und da hab ich mich ein bisschen verplaudert.«

    »Was Wichtiges?«, fragte Vikram.

    »Könnte man so sagen.« Sameera lächelte, goss ein Glas voll und reichte es ihm. »Ich gratuliere dir, Liebster – du bist Großvater geworden!«

    »Nein!« Ein Teil des Rotweins schwappte auf Vikrams blütenweiße Armschlinge. »Aber… das Kind sollte doch erst im Oktober kommen!«

    »Das Kleine hat es sich eben anders überlegt«, entgegnete Sameera vergnügt. »Und es ist kerngesund. Zeenath lässt dich grüßen, es geht ihr gut, und sie und Nadim sind überglücklich.«

    Vikram stellte fest, dass seine Finger, die das Rotweinglas hielten, immer noch zitterten. Zeenath, das Älteste seiner Pflegekinder, war seit einem Jahr verheiratet; ihr Mann Nadim stammte aus einer wohlhabenden Hotelierfamilie in Gulmarg, die den Sandeeps mittlerweile in Freundschaft verbunden war. Und nun hatte sie ihr erstes Kind geboren. Sein erstes Enkelkind.

    »Na dann: Mubarak ho, naanaji«, sagte Raja lächelnd und erhob sein Glas. »Und dir auch, Sameera naani. Was ist es denn – Mädchen oder Junge?«

    »Ein Mädchen«, antwortete Sameera. »Und Zeenath sagt, dass sie Sita Sameera heißen soll.«

    Vikram sah, wie Raja der Mund offen stehen blieb; aber das wunderte ihn überhaupt nicht, schließlich war er selbst mindestens ebenso überrascht wie sein Freund. Dass Zeenath Rajas verstorbene Frau sehr liebgehabt hatte – so wie alle anderen Kinder im Dar-as-Salam auch –, war kein Geheimnis, aber dennoch hätte er nicht damit gerechnet, dass sie und Nadim ihre erste Tochter nach ihr benennen würden.

    »Das… ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, kam es schließlich mit belegter Stimme von Raja.

    »Wie wär’s mit Sláinte?«, schlug Sameera liebevoll vor und hob ihr Glas zu einem Toast. »Auf die Wiedervereinigung unserer Familien – wir gehören zusammen, Zeenath hat uns das auch noch mal gezeigt, und vor allem bist du wieder bei uns, mera chenaar. Es ist doch jetzt alles wieder in Ordnung zwischen euch, oder?«

    »Ich denke schon.« Raja sah zu Vikram hinüber. »Oder was sagst du?«

    »Ich seh’s genauso«, erwiderte Vikram. »Danke, mere bhai.«

    »Na dann.« Sameera lächelte erleichtert. »Sláinte – auf uns!«

    Kapitel 1

    Freund und Feind

    Ruhig strömte der Fluss dahin. Die Wellen glitzerten im Licht der Sonne, die an diesem Tag endlich wieder den Weg durch die dichten Monsunwolken über Maharashtra fand. Am Ufer spielten ein paar Kinder; hinter ihnen schritten zwei schöne Frauen, in bunte Saris gekleidet und mit großen Bündeln auf dem Kopf, den Flussweg entlang. Ein Teppich aus orangefarbenen und weißen Blüten, der auf der Wasseroberfläche trieb, ließ vermuten, dass irgendwo weiter oben einige Zeit zuvor jemand die Asche eines Verstorbenen dem Fluss übergeben hatte.

    Raja Sharma saß am Ufer und sah zu, wie der Blumenteppich an ihm vorüberzog und hinter der Flussbiegung verschwand. Erinnerungen an einen hellen, sonnigen Februartag vor sieben Monaten wurden in ihm wach… als sich hier seine komplette Familie versammelt hatte, einschließlich seiner beiden besten Freunde Vikram und Sameera, die gerade mit ihrem kleinen Sohn zu Besuch bei ihm gewesen waren. Mit einem Familienpicknick hatten sie damals Abschied genommen von Sita, Rajas über alles geliebter Frau, die wenige Tage zuvor durch einen furchtbaren Autounfall in Pune aus ihrer Mitte gerissen worden war. Nicht nur Unmengen von Blüten hatten Sitas Asche das Geleit gegeben, sondern auch zahlreiche kleine Papierschiffchen, gefaltet aus Abschiedsbriefen, die Sitas Angehörige und Freunde an sie verfasst hatten – ein Ritual, das Raja erdacht hatte und das ihnen dabei half, Sita mit einem Lächeln gehen zu lassen.

    Er war später oft gefragt worden, wie er es an diesem Tag geschafft hatte, so stark und ruhig zu bleiben. Ganz erklären konnte er es sich nie, aber zumindest wusste er genau, wem er es zu verdanken hatte, dass er die ersten furchtbaren Tage nach Sitas Tod halbwegs gut überstanden hatte: Es war Vikram, sein Freund und Bruder, der ihm geholfen hatte, Mut zu fassen und die innere Stärke wiederzufinden, die er in vierundfünfzig Lebensjahren voller harter Schicksalsschläge entwickelt hatte und dank der er bislang nach jedem Fall immer wieder aufgestanden war. Auch dieses Mal.

    Rajas Lächeln wurde allmählich gelöster und freier. Auch wenn Sita ihm noch immer unsagbar fehlte – er hatte seinen Frieden mit jenem fatalen Valentinstag gemacht und ins Leben zurückgefunden. Allem voran für seine kleine Tochter Rani, die in wenigen Wochen sieben Jahre alt werden würde und die er nun allein großzog.

    Was ihm bislang erstaunlich gut gelang. Der Haushalt funktionierte, Rani liebte ihren Papa sehr und war mit ihm in den Monaten nach Mamas Tod zu einem verschworenen Team zusammengewachsen. In vielerlei Hinsicht erinnerte sie Raja an seine verstorbene Frau; sie hatte von ihr nicht nur die braunen Augen, das strahlende Lächeln und das üppige dunkle Haar geerbt, sondern auch ihre Heiterkeit und Musikalität. Ständig hatte sie ein Lied auf den Lippen oder tanzte durch die Wohnung. Raja dankte den Göttern jeden Tag aufs Neue für diesen kleinen Schatz, der für ihn der wichtigste Grund zum Weiterleben geworden war – zusammen mit dem Rest seiner Familie, die auf zwei Häuser verteilt mit ihm in dem kleinen Ort Shivapur südlich von Pune lebte. Drei erwachsene Söhne (von denen nur einer, Surya, sein leiblicher Sohn war; aber die anderen beiden, Sumair und Soham, liebte er genauso), drei Schwiegertöchter (Soham und dessen schwedische Verlobte Ylva planten ihre Hochzeit für das kommende Frühjahr), insgesamt acht Enkelkinder (die ihren daadaji heiß und innig liebten) und dazu sein brüderlicher Freund Vishal mit Frau und Tochter – das ergab jedes Mal eine ansehnliche Runde, wenn man sich zum Essen oder zu einem Familienfest traf.

    Er holte sein iPhone hervor und warf einen kontrollierenden Blick auf das Display, das ihm die Uhrzeit anzeigte. Beruhigt steckte er das Telefon wieder ein; er hatte noch eine gute halbe Stunde Zeit, bevor er sich auf den Weg machen musste, um Rani von der Schule abzuholen. Er hatte seiner beti versprochen, sie an diesem Tag zur Belohnung für ein paar außerordentlich gute Schulzensuren in das Sweet-Café in Pune einzuladen, das seinen beiden Freunden Karan und Rehan gehörte. Dort gab es stets eine reiche Auswahl an köstlichen Kuchen und Süßigkeiten aller Art, und Ameera, die derzeit dort als Praktikantin arbeitete, hatte ihm versprochen, extra für seine kleine Prinzessin ihr legendäres Pistazien-Kulfi zu machen.

    Beim Gedanken an Ameera wurde es Raja warm ums Herz. Die derzeit Älteste von Vikrams und Sameeras Schützlingen hatte sich an ihrem achtzehnten Geburtstag mit Janveer verlobt, dem Leibwächter der hochrangigen und im gesamten Dar-as-Salam sehr beliebten Politikerin Najiha Kamaal. Das zuvor vereinbarte Praktikum wollte sie jedoch vor ihrer Hochzeit unbedingt noch absolvieren, da sie schon immer leidenschaftlich gerne Süßigkeiten zubereitet hatte. Dass weder ihre Pflegeeltern noch ihr Verlobter Bedenken hatten, sie in die Obhut zweier Männer zu geben und sogar bei ihnen wohnen zu lassen, mochte natürlich auch daran liegen, dass Raja sich für die Vertrauenswürdigkeit seiner beiden Freunde verbürgte; vor allem aber hatten Karan und Rehan ihnen gegenüber offen zugegeben, was sie sonst meist wohlweislich geheim hielten – nämlich dass sie ein Paar waren. Bei ihnen würde Ameera so sicher sein wie in Abrahams Schoß. Und so genoss sie nun ihr Praktikum in vollen Zügen und erzählte sowohl Raja als auch ihrer Familie in Srinagar bei jeder Gelegenheit, wie fürsorglich die beiden »Onkels« sich um sie kümmerten und wie wunderbar beschützt sie sich fühlte, wenn sie gemeinsam mit ihnen in der Stadt unterwegs war.

    Noch eine Woche sollte das Praktikum dauern, dann würde Raja Ameera zusammen mit Rani nach Srinagar zurückbringen und dort ihre Hochzeit mit Janveer mitfeiern, der das ganze Dar-as-Salam bereits entgegenfieberte. Er freute sich darauf; jetzt, nach seiner Aussöhnung mit Vikram, war ihm doppelt bewusst, wie sehr Kashmir ihm gefehlt hatte. Seit er im Mai 2014 zum ersten Mal dorthin gereist war, war das Tal ihm eine zweite Heimat geworden; trotz Militärgewalt, Stacheldraht und Terror, die aufgrund des Kashmirkonflikts seit Jahrzehnten in dieser Region allgegenwärtig waren, hatte er in Kashmir sein persönliches Paradies gefunden – in der grandiosen Schönheit der Landschaft und der Bergwelt des Himalaya ebenso wie in den Herzen zahlreicher Menschen, mit denen er enge Freundschaft geschlossen hatte. Besonders die Kinder im Dar-as-Salam liebte er, als wären es seine eigenen, und sie ihn ebenso – auch wenn nur eines von ihnen, Moussa, ihn mittlerweile tatsächlich abba nannte.

    Plötzlich spürte Raja, wie er trotz der wärmenden Sonne fror. Moussa. Der Junge war vor sechseinhalb Jahren nach seiner Flucht aus einem Kindersoldatencamp in die Gewalt eines Mannes geraten, der ihn brutal missbrauchte. Vor einigen Monaten nun hatte Moussa seinen Peiniger auf einem Zeitungsbild wiedererkannt und damit Vikram, Sameera und Raja auf die Spur eines in ganz Indien aktiven Kinderschänderrings geführt, den sie schließlich in Delhi gemeinsam mit ihrem Freund Colonel Nanda Singh unter Einsatz ihres Lebens zerschlagen konnten. Bei dieser Gelegenheit hatten sie auch zwanzig entführte Kinder befreit – und genau dadurch war es danach zu Rajas Bruch mit Vikram gekommen.

    Der Vater eines dieser Kinder war nämlich ein gewisser Tahir Thakur aus Manali, und als dieser seinen Sohn in einem Gästehaus der Abwehr abholen wollte, hatte er in Vikram den Mann wiedererkannt, der ihn zehn Jahre zuvor bei einem Verhör zum Krüppel geprügelt hatte. Die Details, die Raja dabei erfuhr, hatten in ihm schmerzhafte Erinnerungen wachgerufen – an seine Gefängnisjahre und vor allem an das Paramilitär-Camp, in dem Djamal Kamil ihn auf ganz ähnliche Weise gefoltert, ausgepeitscht und ihm zuletzt noch den kleinen Finger der linken Hand abgeschnitten hatte. Der Anblick Vikrams war ihm in diesem Moment unerträglich geworden.

    Aber Vikram war eben nicht nur der ehemalige staatlich sanktionierte Folterknecht und Henker. Er war auch der Mann, der sein Leben völlig umgekrempelt hatte und es seitdem dem Einsatz für muslimische Waisenkinder widmete – »um etwas wiedergutzumachen«, hatte er geantwortet, als Raja ihn seinerzeit gefragt hatte, warum er seinen Militärdienst bei der Abwehr vorzeitig quittiert hatte. Und auch wenn er das auf ein ganz bestimmtes Ereignis bezogen hatte (er hatte einen kleinen Jungen erschießen müssen, den Lashkar-Terroristen als lebende Bombe in eine Menschenmenge geschickt hatten), so war Raja sich sicher, dass das längst nicht alles war, was Vikram mit dem Dar-as-Salam wiedergutmachen wollte.

    Er griff nach dem Buch, das er vorhin zu Ende gelesen hatte, und suchte noch einmal nach einer ganz bestimmten Stelle am Schluss, die ihn besonders bewegt hatte. Es war ein Brief eines väterlichen Freundes an seinen Schützling, und von den Worten »es liegt mir sehr daran, dir klar zu machen, dass Güte, wahre Güte, aus Reue erwächst« hatte Raja sich persönlich angesprochen gefühlt. Sie hatten ihn an seine ersten Gefängnisjahre erinnert, in denen viel geschehen war, was er noch immer bitter bereute und das ihn letzten Endes auf den Weg geführt hatte, den er bis heute ging. Insofern galt das Fazit des Briefschreibers in gewisser Weise für ihn ebenso wie für Vikram: »Das ist, glaube ich, wahre Wiedergutmachung: Wenn Schuldgefühle Gutes hervorbringen.«

    Er schloss das Buch und schüttelte mit einem leichten Lächeln den Kopf. Die Gemeinsamkeiten zwischen Vikram und ihm verblüfften ihn immer wieder. Obwohl ihre Lebenswege, bevor sie einander begegnet waren, nicht unterschiedlicher hätten sein können – der eine fünfundzwanzig Jahre lang als Elitesoldat und Agent unterwegs, der andere im gleichen Zeitraum unschuldig wegen Vergewaltigung und Mord im Gefängnis eingesperrt –, so waren sie sich in vielerlei Hinsicht erstaunlich ähnlich. Und er war dem Schicksal unendlich dankbar, dass es ihm in Vikram einen solchen Freund beschert hatte. Auch wenn die Sache mit Tahir Thakur noch immer an ihm nagte und Vikram nach wie vor gelegentlich als prügelndes Monster durch seine Albträume geisterte – er wusste es besser, verdammt noch mal. Er kannte einen anderen Vikram. Und auf den würde er jetzt nie wieder etwas kommen lassen, egal, wie viele frühere Opfer womöglich noch ankamen und ihm ähnliche Horrorgeschichten über Vikram erzählten wie der unversöhnliche Mann aus Manali.

    Erneut kontrollierte er die Uhrzeit und entschied sich, aufzubrechen. Rani fieberte bestimmt schon sehnsüchtig dem Schulschluss entgegen. Raja lächelte in sich hinein, als er sich erhob und zu dem Platz wanderte, an dem er seinen Wagen abgestellt hatte. Dabei nahm er sich vor, bei nächstbester Gelegenheit noch ein zweites Exemplar von Khaled Hosseinis Roman Drachenläufer zu kaufen und es Vikram zu schenken.

    ***

    Während Raja sich auf den Weg zu Ranis Schule in Pune machte, ließ sich in Srinagar Staatsanwalt Prakash Dharam Kode in seinen Bürostuhl sinken. Er war müde, und sein Hals kratzte unangenehm; er hatte ein langes Plädoyer im Gerichtssaal hinter sich, bei dem er ungewohnt laut geworden war. Normalerweise konnte er seine Emotionen relativ gut im Zaum halten und dann bei Bedarf sogar ganz gezielt und kontrolliert einsetzen. Aber das Verhalten des Angeklagten, für den er gerade vehement die Todesstrafe gefordert hatte, war ihm schlichtweg über die Hutschnur gegangen: Frech und unverschämt war der junge Mann allen Anwesenden immer wieder ins Wort gefallen, die Aufforderungen des Vorsitzenden, sich zu mäßigen, hatte er mit abfälligen Kommentaren und obszönen Gesten quittiert, und schließlich war er nach wiederholten lauten »Azadi Kashmir!«-Rufen des Gerichtssaales verwiesen und abgeführt worden.

    Kode stöhnte leise, stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und presste die Fäuste gegen die Stirn, hinter der es unangenehm zu pochen begann. Er konnte nur hoffen, dass der Richter seinem Antrag folgte. Er forderte nicht oft und erst recht nicht gern die Todesstrafe, aber einem Verbrecher, der dem Widerstand angehörte, auf offener Straße drei Polizisten erschoss und darauf auch noch stolz war, gebührte seiner Ansicht nach nichts anderes als der Galgen.

    Es klopfte kurz und hart an seiner Bürotür, und noch ehe er »Herein!« sagen konnte, wurde sie mit Schwung aufgestoßen. Er brauchte seinen Besucher gar nicht zu sehen, um zu wissen, wer da kam.

    »Gratuliere, Dharam!«, sagte Narendra Nikam und ballte triumphierend die Faust. »Großartiges Plädoyer. Der Kerl wird baumeln, da kann er Gift drauf nehmen – egal mit wie vielen Einsprüchen oder Gnadengesuchen sein Anwalt jetzt noch aus der Hüfte kommt.«

    »Noch ist das Urteil nicht gesprochen«, gab Kode zu bedenken.

    »Ja, aber wenn der Richter nach dem Plädoyer nicht auf Todesstrafe entscheidet, dann sollte er sich untersuchen lassen«, erwiderte Nikam. »Beziehungsweise ich erledige das dann für ihn.«

    Er nahm ohne weitere Umstände den Besuchersessel in Beschlag. Kode seufzte innerlich und überlegte, wie er den Polizeichef möglichst höflich wieder hinauskomplimentieren konnte. Im Moment wollte er einfach niemanden sehen, und schon gar nicht diesen Giftzwerg mit der fleckigen Haut und den boshaft glitzernden Augen.

    »Hast du eigentlich meine Eingabe wegen Sandeep endlich gelesen?«, fragte Nikam plötzlich aus heiterem Himmel.

    Kode seufzte erneut – diesmal laut und demonstrativ.

    »Ja, habe ich«, antwortete er. »Und auch wenn’s dir mit Sicherheit nicht passt, aber ich werde keine Anklage erheben.«

    »Und warum nicht?«, begehrte Nikam auf. »Der Kerl hat einen Mann erschossen – einen Ex-Soldaten mit tadellosem Leumund!«

    »Der ohne Vorwarnung auf Sandeep gefeuert und ihn schwer verletzt hat«, entgegnete Kode mit mildem Sarkasmus. »Sehr tadellos, in der Tat.«

    »Wer sagt, dass es ohne Vorwarnung war?«, fragte Nikam inquisitorisch.

    »Das sagen alle, die dabei waren«, versetzte Kode müde. »Vor allem Major Shinde hat zu Protokoll gegeben, dass dieser… wie hieß der Tote gleich wieder?«

    »Rizwan Padar.«

    »Ja, also dass dieser Padar nach dem ersten Schuss aus einem Versteck hervorgestürmt ist. Das heißt: Er hat aus dem Hinterhalt geschossen. Für mich war das ein reinrassiger Anschlag.«

    »Ah ja. Toll.« Jetzt war es Nikams Tonfall, in dem Sarkasmus mitschwang. »Und das weißt du ganz genau, ohne dabei gewesen zu sein? Was, wenn Sandeep Padar bedroht hat und der sich in Notwehr verteidigen musste? Die Möglichkeit hast du wohl gar nicht erst in Betracht gezogen, was?«

    »Sie widerspricht sämtlichen Zeugenaussagen, die mir vorliegen.« Kode rieb sich die Stirn; die Kopfschmerzen wurden immer heftiger. »Und halten zu Gnaden, Narendra, aber du warst bei dem Vorfall auch nicht dabei und kannst daher nicht besser Bescheid wissen als ich. Es sei denn, du verfügst über verlässliche Quellen, die du bislang geheim gehalten hast – und in dem Fall hast du hoffentlich eine verdammt gute Erklärung für mich parat.«

    Nikam schnaubte. »Es wäre doch nicht das erste Mal, dass dieser Sandeep in eine Schießerei verwickelt ist. Wieso läuft der Mann überhaupt bewaffnet durch die Gegend? In der Armee ist er doch schon seit Jahren nicht mehr.«

    »Er hat eine Sondergenehmigung der Regierung, auch weiterhin seine Waffe bei sich zu tragen – in Anerkennung seiner Verdienste«, betonte Kode. »Das solltest du eigentlich wissen, so ausführlich, wie du dich schon mit ihm befasst hast. Was hast du eigentlich gegen Vikram Sandeep?«

    Nikam biss sich auf die Lippen. »Er ist mir nun mal suspekt. Ein Hindu, der sich ausgerechnet um muslimische Waisenkinder kümmert – kein Mensch kann mir weismachen, dass da nicht irgendein schmutziges Motiv dahintersteckt, das man dringend aufdecken sollte. Am Ende ist der Mann antinational und längst heimlich im Widerstand. Und ich bin auch immer noch nicht davon überzeugt, dass er tatsächlich nichts mit dem Tod von Avan zu tun hat. Egal, wie viele heilige Eide seine Freunde schwören.«

    »Jetzt hör aber auf!«, fuhr Kode ihn scharf an. »Es gibt nichts, nicht mal das kleinste Indiz, das bei der Tötung von Gupta auf eine Täterschaft von Sandeep hinweist, und er hat ein Alibi, an dem meines Erachtens nicht der geringste Zweifel besteht. Abgesehen davon: Du hast doch eben selbst betont, dass er ›bewaffnet durch die Gegend läuft‹. Warum hätte er da Gupta mühsam den Schädel zertrümmern sollen, wenn er ihn auch sehr viel einfacher mit einer Kugel hätte erledigen können?«

    »Weiß ich, wie so ein Agent tickt?«, murrte Nikam missmutig. »Vielleicht war sein Adrenalinspiegel nach der Aktion in Kamils Lager noch so hoch, dass er sich auf diese Weise abreagiert hat.«

    »Bas!« Kode schlug mit beiden Handflächen auf den Schreibtisch und verzog das Gesicht, als seine Kopfschmerzen sich ungnädig bemerkbar machten. »Sandeep ist aus der Sache Gupta raus, und du kommst dem wahren Täter kein Stück näher, wenn du dich weiterhin so auf ihn einschießt. Also lass das und konzentrier dich lieber auf deine aktuellen Fälle!«

    »Guptas Tod ist ein aktueller Fall«, erklärte Nikam mit Nachdruck. »Schließlich ist er immer noch nicht aufgeklärt!«

    »Dann klär ihn auf!«, konterte Kode. »Und halt mich über die Ermittlungen im Fall Padar auf dem Laufenden. Irgendein Motiv muss der Mann ja gehabt haben, um die Waffe gegen Sandeep zu erheben.«

    »Wenn’s nicht umgekehrt war«, beharrte Nikam. »Ich halte das nach wie vor nicht für ausgeschlossen.«

    Kode seufzte. »Ich kann dich nicht davon abhalten, auch in diese Richtung zu ermitteln. Aber du verschwendest deine Zeit. Die Aussagen von Major Shinde und seinen Männern sind eindeutig, ebenso wie die von Raja Sharma.«

    »Der!«, explodierte Nikam wütend. »Also bitte – das ist doch klar, dass der seinen Freund sofort wieder zum Unschuldsengel erklärt! Genau wie damals bei den Gupta-Ermittlungen! Langsam krieg ich das Gefühl, Sandeep hält sich diesen Sharma als eine Art Allzweckversicherung für seine Untaten in der Hinterhand.«

    Trotz seiner Kopfschmerzen konnte Kode nicht anders, als zu grinsen. »Eine Allzweckversicherung, die ihm erst mal ein ordentliches Veilchen verpasst, bevor sie hilfreich in Kraft tritt? Also wirklich, Narendra… dass dir das nicht selbst lächerlich vorkommt!«

    »Wie meinst du das?«, schnappte Nikam giftig.

    »Na, dieses Veilchen ist doch der beste Beweis, dass Sharma keineswegs immer nur bedingungslos auf Sandeeps Seite steht und blind zu allem Ja und Amen sagt, was er macht«, erläuterte Kode. »Gut, er hat jetzt zweimal hintereinander zu seinen Gunsten ausgesagt, aber das macht ihn noch lange nicht zu einem grundsätzlich unglaubwürdigen Erfüllungsgehilfen von Sandeep.«

    »Das einzig Interessante an diesem Veilchen ist für mich, dass es meine Theorie untermauert«, versetzte Nikam. »Sandeep war an diesem Tag eine Bedrohung für seine Umwelt, aus welchem speziellen Anlass auch immer. Selbst sein bester Freund hat sich gegen ihn zur Wehr setzen müssen – und Padar hat eben zur Waffe gegriffen, als Sandeep auch auf ihn losgegangen ist. Warum sämtliche Anwesenden einschließlich Sharma uns eine andere Geschichte erzählen und Sandeep in den Hintern kriechen, weiß ich nicht – aber das krieg ich raus, verlass dich drauf.«

    »Ohne jeden Zweifel«, erwiderte Kode mit leiser Ironie. »Und jetzt sei bitte so gut und geh; ich habe einen langen Arbeitstag hinter mir und würde gern endlich Feierabend machen. Wenn du gestattest, natürlich.«

    Nikam warf ihm einen bitterbösen Blick zu und erhob sich aus dem Besuchersessel.

    »Du wirst schon sehen«, sagte er. »Eines Tages wird Sandeep seine Maske fallen lassen. Und dann wird sich erweisen, dass ich die ganze Zeit recht hatte mit meinem Verdacht gegen ihn. Er kann noch so sehr den Saubermann spielen – mich täuscht er nicht. Und irgendwann krieg ich ihn!«

    Damit wandte er sich ab und verließ ohne einen Abschiedsgruß das Büro. Kode ließ erschöpft seinen Oberkörper nach vorne sacken und massierte mit beiden Handballen die schmerzende Stirn. Was hatte er nur verbrochen, dass das Schicksal ihn erst mit einem Gupta und dann mit einem Nikam gestraft hatte?

    Er öffnete die Schublade, in der er stets einen kleinen Vorrat an Kopfschmerztabletten verwahrte. Ein Blisterstreifen war noch komplett gefüllt; er drückte eine Tablette heraus und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Während er darauf wartete, dass die Wirkung einsetzte, suchte er in den Aktenstapeln auf seinem Schreibtisch, bis er den Vorgang Rizwan Padar gefunden hatte. Ganz zuoberst lag Nikams Antrag auf Anklage gegen Vikram Sandeep wegen der Tötung des Ex-Soldaten; mit einem resignierenden Seufzer legte Kode ihn beiseite und überflog noch einmal die Aussagen sämtlicher Zeugen, um sicherzugehen, dass er sie auch wirklich korrekt im Kopf hatte. Ja, kein Zweifel, in dem Punkt waren alle sich einig: Padar hatte zuerst geschossen. Nicht Sandeep.

    Er schloss die Akte und lehnte sich nachdenklich zurück. Von den vielen Tiraden, die Nikam vorhin abgefeuert hatte, kehrte eine plötzlich unerwartet deutlich in seine Erinnerung zurück: Ein Hindu, der sich ausgerechnet um muslimische Waisenkinder kümmert – kein Mensch kann mir weismachen, dass da nicht irgendein schmutziges Motiv dahintersteckt, das man dringend aufdecken sollte. Am Ende ist der Mann antinational und längst heimlich im Widerstand.

    Kode schloss die Augen. Er gab es ungern zu, aber natürlich war das denkbar. Sandeep hatte der Armee Indiens den Rücken gekehrt, um sich in Kashmir für Muslime zu engagieren. Gut, für muslimische Kinder… aber andererseits waren ja gerade Kinder besonders anfällig für jede Art von Ideologie, die man ihnen einimpfte. Und für einen Hindu und ehemaligen Elitesoldaten der indischen Abwehr hatte Sandeep erstaunlich viele Freunde bei den Muslimen im Tal, darunter so prominente wie die Politikerin Najiha Kamaal und so angesehene wie die wohlhabenden Qasibs in Gulmarg und den weisen alten Zimmermann Hassan Harabi, dessen erwachsene Söhne derzeit freiwillig das Dar-as-Salam bewachten, solange man dort noch keinen Ersatz für Rizwan Padar gefunden hatte. Würden alle diese Anhänger des »wahren Glaubens« einen kafir derart unterstützen, wenn sie nicht überzeugt waren, dass er auf ihrer Seite stand? Dass er einer von ihnen war?

    Er hätte nicht sagen können, welche Vorstellung ihm in diesem Moment mehr zuwider war: dass Vikram Sandeep sich als Verräter entpuppen könnte – oder das triumphierende Gesicht von Narendra Nikam, wenn sich erwies, dass er tatsächlich von Anfang an recht gehabt hatte.

    Kapitel 2

    Hochzeit im Dar-as-Salam

    Während Sameera Sandeep an einem sonnigen, wenn auch herbstkühlen Oktobertag auf der Veranda stand und darauf wartete, dass Hamid vom Flughafen zurückkam, dachte sie nicht zum ersten Mal, dass sie den Gang der Jahreszeiten erst wirklich bewusst erlebte, seit sie vor fünf Jahren nach Kashmir gekommen war.

    Den Winter, wenn die Welt entweder in kaltem Morast versank oder unter einem dicken weißen Tuch verschwand, wenn die Schneestürme in den Kaminen heulten und die Luft über den Berggipfeln so klar war, dass man Hunderte von Kilometern weit sehen konnte. Den Frühling, wenn sich die Hochweiden im Gebirge mit dem ersten frischen Grün überzogen, wenn die Bäume in den Obstgärten von Alef Ali Zoraq in voller Blüte standen und die warmen Tage alle Nässe und Kälte vergessen ließen. Den Sommer, wenn die Shikaras über den Dal-See schaukelten und die Mogulgärten sich in duftende Märchenreiche verwandelten, in denen das Wasser kühl und erfrischend in die zahllosen Bassins sprudelte. Und den Herbst, wenn der Morgennebel über die Seen und Täler trieb und die Chenarbäume die Gebirgshänge in strahlendes Gold tauchten.

    Jetzt war es Herbst, und an diesem Wochenende würde die erste Hochzeit im Dar-as-Salam gefeiert werden. Ameera kehrte von ihrem Praktikum in Pune heim, um Janveer zu heiraten – und sie würde Raja und Rani mitbringen. Sameera konnte unmöglich sagen, ob sie sich mehr darauf freute, ihre Pflegetochter wiederzusehen oder die beiden.

    »Sind sie schon da, Sameera aunty?«, fragte eine Stimme hinter ihr.

    Sameera drehte sich um und entdeckte ihre Pflegetochter Salma.

    »Nein, Schätzchen, noch nicht ganz«, antwortete sie. »Aber lange dauern kann es nicht mehr; sie sind gut gelandet, und Hamid ist vor einer Viertelstunde in Srinagar losgefahren.«

    »Ich freu mich«, sagte Salma ernsthaft. »Ameera hat mir gefehlt… obwohl, wenn sie jetzt Janveer heiratet, dann ist sie ja schon wieder weg.«

    »Aber doch nicht wirklich.« Sameera strich über die runde Kinderwange. »Die beiden werden ganz in der Nähe der Kamaal sahiba wohnen, damit Janveer sie weiterhin beschützen kann. Und dorthin brauchen wir mit dem Auto noch nicht einmal eine Stunde.«

    »Es ist trotzdem nicht dasselbe«, beharrte Salma.

    »Da hast du recht«, erwiderte Sameera. »Das ist es nie. Menschen kommen und gehen nun einmal in unserem Leben. Wenn wir nicht wollten, dass sich jemals etwas ändert, müssten wir die Zeit anhalten. Und ich denke, es ist ganz gut, dass wir das nicht können.«

    Eine kräftige Brise ließ die leeren Bohnenstangen im Beet vor dem Haus erzittern, und Sameera fuhr leicht zusammen. Salma betrachtete sie stirnrunzelnd.

    »Ist dir kalt, aunty? Ich hol dir mal schnell deine Strickjacke, ja?«

    Damit verschwand sie im Haus. Sameera blieb am Geländer stehen. Erinnerungen sind wie Strudel im Meer der Zeit, hörte sie plötzlich die ruhige Stimme von Prem Ghanand in ihrem Hinterkopf. Und die schlimmsten Erinnerungen sind wie gefährliche Unterströmungen…

    *

    »… die dich unaufhaltsam in die Tiefe ziehen.«

    Prem saß in einem der beiden bequemen Sessel in der Sitzecke seines Sprechzimmers. Seit drei Monaten besuchte Sameera ihn wöchentlich in Baramulla, um mit der Hilfe des erfahrenen Psychotherapeuten den Weg hinaus aus zu vielen Erinnerungen und Albträumen zu finden, als gut für sie war.

    »Weißt du«, fragte er, »wieso auch gute Schwimmer manchmal im Meer oder in einem Fluss ertrinken?«

    »Weil sie die Strömung unterschätzen?«

    »Ganz genau. Und vor allem deswegen, weil sie ihre ganze Kraft damit vergeuden, dagegen anzukämpfen. Wenn jemand in einen tiefen Fluss stürzt, ist es besser, er lässt sich treiben, bis das Wasser ihn von allein ans Ufer trägt.«

    »Und was soll das jetzt bedeuten?«, fragte Sameera ein wenig scharf. »Rätst du mir zu einer Konfrontationstherapie? In sensu, weil ich mir die Schrecken, die mir auf der Seele liegen, eine nach der anderen innerlich noch einmal vor Augen führen soll? Dann sollte ich dir vielleicht sagen, dass die Wunde, die die Kugel von Delhi in meiner Hüfte hinterlassen hat, zwar inzwischen verheilt ist – aber ich spüre sie absolut in vivo, das kann ich dir versichern. Die Narbe schmerzt jedes Mal, wenn sich das Wetter ändert… oder wenn ich mich überanstrenge.«

    »Das glaube ich dir«, sagte Prem, der sie sehr genau beobachtete. »Natürlich kennst du die Methode, und du hast sie selbst schon bei einigen deiner Patienten angewendet. Wir müssen sie ja auch nicht bei allen deinen Traumata einsetzen. Wir können es erst einmal gezielt mit einem davon versuchen und schauen, ob es anschlägt. Du hast genügend Baustellen, um die man sich kümmern muss, meri dost.«

    »Danke, dass du mich daran erinnerst.« Sameera zog instinktiv die Schultern hoch. Sie verfluchte die Kälte, die in ihr aufstieg, und stellte mit einer gewissen Bestürzung fest, dass sie sich über Prem ärgerte. Obwohl er recht hatte. Obwohl sie wusste, wie nötig es war, sich um die von ihm angesprochenen Baustellen zu kümmern. Um jede einzelne davon.

    »Du bist sauer auf mich, oder?«

    Sie hob ruckartig den Kopf, starrte ihn an und merkte, dass er lächelte.

    »Klar bist du sauer auf mich«, fuhr er beinahe heiter fort. »Aber das ist sehr gut so. Wir werden versuchen, diesen Zorn wie eine Energiequelle zu nutzen – Energie, die du zur Abwechslung nicht nur für Vikram, deine Kinder und deine Freunde einsetzt, sondern tatsächlich einmal für dich selbst.«

    »Ich leide nicht unter einem Helfersyndrom«, sagte Sameera leise und ohne jede Ironie. »Das habe ich dir schon gesagt, als ich das erste Mal zur Behandlung in deine Praxis gekommen bin.«

    »Ich weiß«, sagte Prem. »Aber die meisten Menschen haben einen natürlichen Schutzmechanismus, der sie daran hindert, sich selbst zu überfordern oder in Gefahr zu bringen. Und der fehlt dir. Du und Raja, ihr seid euch darin erstaunlich ähnlich.«

    »Wie kommst du denn darauf?«

    »Das ist doch nun wirklich nicht schwer«, erwiderte der Psychologe, »obwohl es mich nicht im Geringsten wundert, dass du es nicht sehen kannst. Ich nenn dir mal ein Beispiel: Als Raja im vorigen Jahr erfahren hat, dass du verschwunden warst, hat er sich sofort auf die Suche nach dir gemacht. Er hat Kopf und Kragen riskiert und sich mit Avan Gupta angelegt, weil er dich retten wollte. Und du – du warst Gupta zu Willen, damit er Raja nicht tötet. Ihr tut beide ganz selbstverständlich aus Freundschaft Dinge, die andere nicht einmal aus Liebe tun würden. Und Vikram…«

    Er hielt inne und lachte leise.

    »… Vikram liebt und beschützt euch beide. Und er braucht euch beide, wie eine Art Heilmittel gegen seine inneren Dämonen. Es gibt Momente, da würde ich über eure einzigartige Therapiegruppe liebend gerne eine Forschungsarbeit schreiben. Nur zu meinem privaten Vergnügen.«

    »Wie schön, dass wir so unterhaltsam sind.« Sameeras Stimme war schroff.

    »Entschuldige bitte. Das war nicht, was ich gemeint habe.«

    Prem beugte sich vor und berührte sanft ihre Hand.

    »Ihr seid weder unterhaltsam noch merkwürdig – ihr seid außergewöhnlich, alle drei. Und ganz wunderbar. Wenn ich euch mit den Augen eines Therapeuten betrachte, dann staune ich darüber, wie sehr ihr einander helft. Ohne Vikram und Raja wärst du vielleicht längst in einer Nervenklinik gelandet. Ohne dich und Vikram hätte Raja erst die Tortur in diesem Foltercamp und dann den Verlust seiner Frau mit Sicherheit nicht halb so gut verkraftet. Ohne dich und Raja wäre Vikram wahrscheinlich schon vor Jahren abgestürzt. Aber das ist dir klar, oder?«

    »Ja«, sagte Sameera leise. »Ja, natürlich.«

    »Ihr stützt und tragt euch gegenseitig. Und so werdet ihr zu einem Quell der Kraft und der Hoffnung für andere. Meine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass dein Anteil an dieser Quelle nicht austrocknet, meine liebe Freundin. Und wenn ich dich dabei ein Stück Weges durch die Finsternis führen muss, dann nicht, weil ich dich quälen will. Sondern damit du am anderen Ende des Tunnels gestärkt wieder ins Licht hinaustreten kannst. Glaubst du mir das?«

    Sie betrachtete ihn, dann entspannte sie sich langsam, und ihre Finger verschränkten sich mit den seinen.

    »Ich glaub’s dir«, sagte sie. »Solange du am Ausgang auf mich wartest.«

    »Versprochen«, antwortete Prem ernst. »Und ich verspreche dir noch etwas: Ich werde nicht der Einzige sein, der dort wartet.«

    *

    Es war die dröhnende Hupe des Jeeps, die Sameera aus ihrer Erinnerung hochschrecken ließ. Der Wagen fuhr schaukelnd den Weg von der Hauptstraße entlang; Vikram hatte die Rüttelpiste in den vergangenen Jahren schon mehrmals aufgeschüttet und eingeebnet, aber Winterfrost und Sommerhitze sorgten für immer neue Schlaglöcher.

    Sie straffte sich und schüttelte die Gedanken an die Stunde in Prems Sprechzimmer ab; dann beugte sie sich über das Geländer und winkte.

    Der Jeep kam zum Stehen, und als Erste sprang Rani heraus. In einem Wirbel aus Jeans, buntem Flattershirt und wehenden dunklen Locken rannte sie das letzte Stückchen Weges und die Verandastufen hinauf und fiel Sameera mit einem Jubelruf um den Hals.

    »Sameera! Ich hab dich soooo vermisst!«

    »Ich dich auch, farishta.« Sameera küsste das kleine Mädchen auf die Stirn. »Es ist wunderbar, dich wiederzusehen. Geht’s dir gut?«

    »Mir geht’s prima! Ist Moussa da? Und wo sind Mohan und Vikramji?«

    »Moussa kommt sofort, er muss noch schnell was für die Schule fertigmachen. Und Mohan und Vikram sind oben in unserer Wohnung.«

    »Bis später!« Damit war Rani hinter der blauen Tür des alten, langgestreckten Holzhauses verschwunden, und Sameera konnte hören, wie sie Richtung Treppe flitzte. Sie drehte sich wieder um – und sah Raja vor sich stehen, der lächelnd die Arme ausbreitete.

    »Hallo, meri sakhi

    »Hast du gesehen, wie schnell ich abgemeldet war?«, beklagte Sameera sich augenzwinkernd. »Gegen Moussa, Mohan und meinen Mann habe ich nicht den Hauch einer Chance.«

    »Eine so vielgeliebte Frau wie du? Mach dir keinen Kopf – am Ende landen wir alle immer wieder bei dir, Sameeraji. Weil wir dich nämlich brauchen.«

    Raja zog sie an sich, und sie erwiderte die Umarmung, von dem wohltuenden Gefühl erfüllt, dass mit seiner Ankunft die Welt des Dar-as-Salam wieder »vollständig« war. Prem hat etwas ganz Ähnliches gesagt wie du, dachte sie – aber davon würde sie ihm später erzählen müssen, denn jetzt war Ameera ebenfalls auf der Veranda angekommen.

    »Ammi!«

    Sameera drückte die hübsche, junge Frau, die einst ein kleines, stotterndes Mädchen mit scheuen Rehaugen gewesen war, an ihre Brust und verspürte eine merkwürdige Mischung aus Glück und Trauer. Die Zeit verging viel zu schnell – und in wenigen Tagen würde sie ihre Pflegetochter gehen lassen müssen. Dass der junge Mann, zu dem sie in Zukunft gehören würde, ein wunderbarer Mensch war und sich zweifellos bemühen würde, sie so glücklich wie möglich zu machen, half zwar ein wenig, aber nicht viel.

    »Hast du wirklich mich vermisst, laadla?«, fragte sie neckend. »Oder vielleicht doch eher diesen attraktiven Leibwächter von Najiha Kamaal, der dir schon seit Monaten hinterherschmachtet?«

    Ameera lachte. »Ab sofort werde ich Janveer immer sehen, wenn er abends nach Hause kommt – oder eigentlich noch öfter, schließlich arbeitet er direkt nebenan!«, entgegnete sie fröhlich. »Aber ich wollte zu dir nach Hause kommen, und zu Vikram baba. Jedenfalls dieses Mal noch.«

    »Wie schön, dass du das sagst«, sagte Sameera und küsste das Mädchen zärtlich auf beide Wangen.

    »Wo ist Vikram baba denn?«, erkundigte sich Ameera. »Geht es seiner Schulter schon besser?«

    »Zum Autofahren reicht’s noch nicht«, ertönte eine basstiefe Stimme hinter ihnen. »Deshalb hab ich heute auch Hamid für euch zum Chauffeurdienst verdonnert. Aber anständig begrüßen kann ich dich trotzdem. Willkommen zuhause, Liebes!«

    Es war Vikram, der im Türrahmen erschienen war und nun lächelnd den rechten Arm ausstreckte. Ameera fiel ihm um den Hals, wobei sie bei aller Wiedersehensfreude sehr darauf achtete, seine linke Schulter nicht zu berühren, die immer noch sorgfältig bandagiert war. Sameera betrachtete die beiden liebevoll, dann sah sie aus den Augenwinkeln, wie Hamid und Raja das Gepäck aus dem Jeep luden und in Richtung Haus trugen.

    »So, und jetzt rein mit euch«, sagte sie energisch. »Ahmad hat extra für deine Heimkehr ein neues Korma mit Kartoffeln und Cashewkernen kreiert, Ameera – und er wartet schon den ganzen Tag gespannt darauf, ob es dir schmeckt.«

    Die Sonne war untergegangen, das köstliche Willkommensmahl war verzehrt, und Sameera arrangierte in der Küche einen Teller mit kleinen Häppchen für Vikram und Raja, die ihr Wiedersehen mit einem Schachturnier in Rajas Zimmer feierten.

    Die Tür öffnete sich und Ameera kam herein.

    »Hallo, ammi! Hast du ein bisschen Zeit für mich?«

    Sameera lächelte.

    »Wenn du das hier hinüber in den Anbau trägst, setze ich mich solange an den Tisch und warte«, sagte sie. »Danach hab ich so viel Zeit für dich, wie du möchtest. Vikram baba und Raja spielen nämlich Schach gegeneinander, und das kann dauern. Ich tippe auf mindestens drei Niederlagen für Raja, bevor er eventuell ein Remis schafft.«

    »Da könntest du dich aber irren«, meinte Ameera und griff nach dem Teller. »Raja ist inzwischen viel, viel besser als früher. Letzte Woche hat er sogar zum ersten Mal Soham geschlagen, und der ist ja der Schach-Großmeister der Sharmas.«

    »Was denn, wirklich?« Sameera hob staunend die Augenbrauen. »Ich muss sagen, die Wunder nehmen dieser Tage kein Ende.«

    Sie setzte sich wie versprochen an den Tisch und sah zu, wie ihre Pflegetochter im Anbau verschwand. Sie hatte keine wirkliche Vorstellung davon, was Ameera mit ihr zu besprechen hatte; seit ihrer Ankunft hatte das Mädchen eigentlich fast ununterbrochen geredet, so erfüllt war sie von Geschichten über ihre Zeit in Pune. Rezepte, die sie im Sweet-Café kennengelernt und ausprobiert hatte; schöne und spannende Erlebnisse mit Rajas großer Familie und vor allem mit seinen Enkeln, die sie während ihres Praktikums so ins Herz geschlossen hatten, dass sie sich unweigerlich um sie scharten, sobald sie in Shivapur auftauchte. Und Rehan und Karan, bei denen sie gelernt und gearbeitet hatte, waren in den Rang liebevoller Ersatzväter erhoben worden, bei denen sie sich ausgesprochen wohlgefühlt hatte. Im Stillen gratulierte sich Sameera einmal mehr dazu, dass sie im Februar bei ihrem ersten Besuch im Sweet-Café die Idee gehabt hatte, Ameera für ein Praktikum nach Pune zu schicken.

    Bei diesem Besuch hatte Sita noch gelebt.

    Sameera schloss die Augen und sah das schöne, strahlende Gesicht von Rajas Frau vor sich.

    Du fehlst mir, meri pyaari behn, dachte sie. Ich vermisse dich unendlich, immer noch.

    In diesem Moment kam Ameera zurück und ließ sich ihr gegenüber auf einen Stuhl fallen.

    »Ein Sieg für Vikram baba, ein Remis und ein Sieg für Raja«, verkündete sie triumphierend. »Ich hab’s doch gesagt! Vikram baba sitzt an der Feuerstelle, brummt in seinen Bart und hat Raja angedroht, er spielt demnächst nur noch Backgammon

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