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Treibholz: Man kann ein Leben auch dadurch beenden, indem man ein neues beginnt
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Treibholz: Man kann ein Leben auch dadurch beenden, indem man ein neues beginnt
eBook396 Seiten5 Stunden

Treibholz: Man kann ein Leben auch dadurch beenden, indem man ein neues beginnt

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Über dieses E-Book

Januar 1987. Frank, einen jungen Deutschen, zieht es hinaus in die Welt. Zwei junge Engländer, Jack und John ebenso. Was als Reise beginnt, wird zur Lebensart.
Trotz vieler Hindernisse und permanenten Geldproblemen taumeln sie - mal mit mehr, mal mit weniger Alkohol und Drogen - um die Welt. Eine Welt, die krank ist, aber auch zutiefst menschlich. Eine Hommage an das freie Leben, das auch dann noch gut ist, wenn die Dinge mal schlecht und nicht wie geplant laufen …
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Mai 2017
ISBN9783734591914
Treibholz: Man kann ein Leben auch dadurch beenden, indem man ein neues beginnt

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    Buchvorschau

    Treibholz - Peter Fuhl

    1. Flüchtige Bekanntschaften

    Eine schwül-faulige Hitze verschluckte Frank, sobald er das Flugzeug verlassen hatte, und langsam die Treppe zum Rollfeld hinunterlief. Unten wartete ein Bus, der die Passagiere zum Ankunftsbereich des Flughafengebäudes brachte, wo es dank der Klimaanlagen angenehm kühl war. Changi, Singapurs Flughafen, war blitzsauber. Alles schien zu funktionieren. Die Einreiseformalitäten waren schnell erledigt, sein Gepäck kam ihm auf einem Laufband wie bestellt entgegen. Er nahm es und ging, ohne sich umzusehen, durch die Ankunftshalle zum Ausgang. Niemand würde ihn abholen. Nur draußen wartete wieder diese schwüle Hitze auf ihn.

    Er legte sein Gepäck ab, setzte sich auf die unterste Stufe einer Treppe und zündete sich eine Zigarette an. Sobald sie brannte, begann er wieder klarer zu denken. Bruchstückhaft erinnerte er sich an den Verlauf des Fluges.

    Der Flug ging über Dahran, Bombay und Malé nach Singapur. Überall hätte er aussteigen und sich umsehen können. Sein Ticket erlaubte das. Sogar gebührenfrei. Aber er wollte nicht. Was vor Singapur war, interessierte ihn nicht. Es war ihm noch zu nah. Frank wollte weit weg. Ganz weit weg.

    In Dahran hatte die Startbahn so stark geflimmert, dass es in den Augen schmerzte. Es war, als würde man direkt in die Sonne sehen. In der Transithalle in Bombay hatte er eine große braune Kakerlake mit Flügeln beobachtet, während er einen viel zu süßen Tee trank. Sie krabbelte am Gewehr eines wachestehenden Soldaten auf und ab und es schien, dass sie dabei seine Finger berührte. Ganz genau konnte man es nicht erkennen. Entweder bemerkte der Soldat sie nicht oder er ließ sie einfach gewähren.

    In Malé durfte man das Flugzeug nicht verlassen. Lange stand die Maschine in der glühenden Sonne auf der Landebahn und wartete, bis ein Bus mit neuen Passagieren kam. Durch die kleinen ovalen Fenster sah man das Meer. Und Palmen. Es konnte nicht mehr weit bis nach Singapur sein.

    Er erinnerte sich an seinen Abflug in Zürich-Kloten bei minus zehn Grad. Seine Schwester hatte ihn zum Flughafen gefahren. Zwei Freunde waren auch dabei gewesen, um ihn zu verabschieden. Das Gepäck war schon aufgegeben. Er hatte etwas nervös mit seiner Bordkarte und dem Reisepass herumgespielt und ein paar Witze gerissen. Er mochte keine Abschiede. Gottlob ging es sehr schnell. Eine letzte Zigarette, Umarmungen, Glückwünsche. Seine Schwester winkte ihm hinterher, bis er die Sicherheitsschleuse passiert hatte und nicht mehr zu sehen war.

    Erst jetzt, im Flugzeug, fragte er sich erstmals, warum er das Ganze eigentlich machte. Es kamen ihm verschiedene Gründe in den Sinn, die Menschen dazu veranlassen, in die Ferne zu ziehen. Kriege, Armut, Langeweile, gescheiterte Beziehungen, Arbeit, Ärger mit der Polizei. Viele. Die Triebwerke des Flugzeugs wurden immer lauter. Gerade in dem Moment, als er feststellte, dass eigentlich kein bestimmter Grund auf ihn zutraf, dass er einfach nur weg wollte, schob der Pilot Vollgas hinein und Frank wurde sanft gegen die Rückenlehne seines Sitzes gedrückt. Und jetzt war er da. In Singapur. Er lächelte und blies dabei den Rauch durch die Nase aus.

    Singapur stand einmal für Exotik und Abenteuer. Ein europäischer Außenposten auf einer tropischen Insel in Südostasien. Einer Perle mit allem Drum und Dran. Mit Matrosen, Ganoven, Prostituierten und Opiumhöhlen. Die Straßen voller Garküchen und Rikschas. Und so hatte es sich Frank auch vorgestellt. Erhofft. Doch dieses Singapur gab es nicht mehr. Die Reste dieser Zeit waren am Absterben. Die Stadt war jetzt effizient, sauber und wohlhabend. Die alten Häuser fast alle verschwunden. Bis auf ein paar Straßenzüge, die als China Town vermarktet wurden und mit einer Art Zuckerguss renoviert worden waren. Sie leuchteten und glänzten schon von weitem wie ein Weihnachtsmarkt. Überall waren rote Laternen, Restaurants und Geschäfte, die billigen Nippes und Souvenirs anboten. Ausländische Reisegruppen fuhren im Konvoi von bis zu zwanzig Rikschas vorbei. Ansonsten fuhr man in Singapur jetzt Auto oder S-Bahn. Hochhäuser wurden hochgezogen. Singapur bekam eine Skyline.

    Für die Sauberkeit der Stadt sorgten zahlreiche Verbote. Spucken verboten, Kaugummikauen verboten, Toilette-nicht-spülen verboten, urinieren verboten. Wie eine Käseglocke stülpte sich der hygienische Mief über die Insel und verlieh der Stadt die Atmosphäre eines Krankenhauses. Dafür ging es seinen Bewohnern gut. Alles funktionierte, das Essen war lecker und Geld zu machen war nicht verboten.

    Im Gegenteil. Es war sogar erwünscht. Denn Geld schien für Chinesen sehr wichtig zu sein, wenn nicht das Wichtigste überhaupt. Vielleicht auch als Spaßersatz, weil dem Spaß hier so enge Grenzen gesetzt waren, philosophierte Frank vor sich hin. Aber er fühlte sich trotzdem wohl in Singapur. Man wurde in Ruhe gelassen, niemand bettelte oder versuchte einen übers Ohr zu hauen, jeder sprach Englisch. Als Einstieg in ein neues Leben, in eine neue Welt, war Singapur bestens geeignet.

    Nachdem er die Zigarette fertig geraucht hatte, nahm er einen Bus ins Zentrum und suchte in der Bencoolen Street nach einer Unterkunft. Schließlich nahm er ein Bett in einem Schlafsaal, da ein preiswertes Einzelzimmer nirgends mehr zu haben war. Wichtig war, dass er schlafen konnte. Und schlafen konnte er fast überall. Es bot sich daher an, bei den Übernachtungskosten zu sparen.

    Der Schlafsaal war sauber und geräumig. Je fünf Betten standen sich gegenüber und zwischen den Betten war reichlich Platz. Außer ihm war nur noch ein dünner Japaner da, ein Kettenraucher aus Tokyo. Da sie alleine waren und verbotene Sachen Spaß machen, kauten sie Kaugummi und rauchten.

    Der Japaner hieß Yasuyuki, hatte gelbe hervorstehende Zähne und sprach rudimentäres Schulenglisch. Er hatte schon einige Selbstmordversuche hinter sich und die letzten Jahre in einer psychiatrischen Anstalt verbracht. Seine skeletthaften Unterarme waren mit Schnittnarben übersät, die er sich selbst mit Rasierklingen zugefügt hatte. Ein trauriger kleiner Mann mit traurigen kleinen Augen. Frank dagegen strotzte vor Kraft und Lebenslust. Auf den ersten Blick hatten sie außer schlechten Englischkenntnissen nicht viel gemeinsam. Aber man hatte Zeit und Wörterbücher.

    Andere Gäste kamen und gingen. Alle hatten einen bestimmten Grund, um hier zu sein. Ein Visum, ein Flugticket, eine Reparatur, ein Einkauf. Hatte man seine Sachen erledigt, ging man. Niemand blieb länger als zwei Nächte. Niemand hatte Interesse an Singapur. Außer Frank und Yasuyuki, die jeden Nachmittag, wenn es nicht mehr ganz so heiß war, lange Spaziergänge unternahmen. Orchard Road, China Town, Arab Street, Hafen.

    Zu späterer Stunde zog es sie immer nach Little India. Hier war noch ein Hauch des alten Singapur zu spüren. Es lag ganz in der Nähe ihres Schlafsaals und hatte ein Rotlichtviertel, Straßencafés und Restaurants. Auch viele Transvestiten, die vor wenigen Jahren noch in der Bugis Street für Stimmung sorgten, hatten hier eine Nische gefunden. Fliegende Händler saßen am Boden und boten die verschiedensten Potenzmittel und Spielzeuge an. Von Gummis der Marke „Schornsteinfeger" mit nach außen abstehenden Pferdehaaren bis hin zu japanischen Liebeskugeln gab es alles. Stöhnende Feuerzeuge, die mit nackten Blondinen beklebt waren, penisförmige Kugelschreiber und allerhand Kraftnahrung. Der Gebrauch und die Wirkung der Produkte wurden von den Händlern mit Hilfe von handgezeichneten Bildern erklärt.

    Malaien, Chinesen, Inder, Araber sowie ein Deutscher und ein Japaner drängten sich durch enge lange Gassen und gafften in die offenen Hauseingänge, wo die Huren saßen. Es roch nach Urin, Schweiß, billigem Parfüm und Sperma. Das bunte Treiben schien auf den ersten Blick immer gleich zu sein, aber die Einzelteile, aus denen sich dieses scheinbar immer gleiche Treiben zusammensetzte, waren jedes Mal verschieden.

    Die Chinesinnen schienen am begehrtesten zu sein. Je heller die Haut, umso begehrter war man. Yasuyuki und Frank konnten in Ruhe ihre Beobachtungen machen. Niemand kümmerte sich um sie. Die Männer waren mit ihrer Geilheit beschäftigt und die Huren ließen es beim Augenzwinkern. Nach zehn Tagen wollte Frank weiter. Der Abschied fiel ihnen schwerer als erwartet. Ihre Spaziergänge hatte sie zusammengebracht. Frank wusste jetzt, wie es in einer psychiatrischen Anstalt in Japan zuging und Yasuyuki, dass das Leben auch seine lustigen Seiten hatte. Er sprach nicht mehr über Selbstmord, sondern wollte nach Tokyo zurück und sich eine Arbeit suchen. Er hatte plötzlich Pläne. Und keine traurigen Augen mehr.

    Als der Zug nach Kuala Lumpur endlich losfuhr, war es fast Mittag und brütend heiß. Frank saß außerhalb seines Abteils auf dem Gang, öffnete ein Fenster und lies sich den Fahrtwind ins Gesicht blasen. Draußen zog sattgrün die Landschaft vorbei, während der Zug durch die malaysische Halbinsel nach Norden zuckelte. Bewaldete Hügel, grüne Reisfelder und niedrige Holzhäuser, die von Bananenblättern fast verschluckt wurden. Dazwischen, irgendwo in dem Grün, immer wieder Moscheen, deren Minarette Wellblechzwiebeln in den Himmel streckten. Wahre Kolosse von Wasserbüffeln suchten Abkühlung in träge dahinfließenden Flüssen, während nackte braune Kinder auf ihren Rücken kletterten und dann ins Wasser sprangen. Für Frank war alles neu, und seine Augen saugten sich an jedem Bild, an jeder Szene fest.

    Was wohl auch der Grund war, dass er die Frau, welche zwei Fenster weiter stand, erst bemerkte, als sie ein lautes „Ach, wie ist das schön!" ausstieß und ihren Kopf etwas aus dem Fenster hielt. Ihr langes dunkles Haar, das ihr bis zu den Kniekehlen ging, begann sich zu bewegen. In Wellen. Dann drehte sie sich um und schenkte ihm ein Lächeln. Frank lächelte zurück. Es war eine hübsche Frau. Bis auf die Nase, die zu kurz geraten war. Man hatte das Gefühl, in eine geladene Schrotflinte zu blicken.

    Sie war Thailänderin, nannte sich Sara und wohnte mit ihrem Mann Marco in New York. Marco war ein dicker behaarter Amerikaner mit Brille. Ein Fotograf. Er saß in einem der Abteile nebenan. Sara stellte ihn kurz vor und ging dann mit Frank wieder zurück auf den Gang, wo sie ihm deutlich zu verstehen gab, dass Heirat und Monogamie nicht dasselbe ist. Offensichtlich handelte es sich um eine amerikanischthailändische Katalogehe und Sara würde jede Möglichkeit eines Seitensprunges nutzen. „Kein Wunder bei dem behaarten Fettsack", dachte Frank.

    Sara wurde nun sehr zutraulich. Sobald sie unbeobachtet waren, streichelte sie sanft die Innenseiten seiner Schenkel. Immer nur kurz, aber lange genug, um ihn bei Laune zu halten. Franks Vorschlag, sich die Toiletten des Zuges anzusehen, lehnte sie ab. Aber dafür wurden die Streicheleinheiten verlängert. Sie spielte Katz und Maus mit ihm.

    Als sie in Kuala Lumpur ankamen, war die Nacht schon hereingebrochen. In den Tropen geht das ruckzuck. Frank war es schon in Singapur aufgefallen. Die Sonne gibt einfach auf und geht unter. In Europa kämpft sie gegen die Dunkelheit an. Muss von ihr gewaltsam vertrieben werden. Und das dauert eben. Mit dem Taxi fuhren sie Richtung Hauptpostamt, in dessen Nähe es mehrere preiswerte Chinesen-Hotels gab. In einem der besseren stiegen sie ab. Sara schlug vor, ein Dreibettzimmer zu nehmen. Marco stimmte sofort zu und Frank, nach kurzem Zögern ebenso, obwohl dies seine Hoffnung zunichtemachte, irgendwo im Hotel mit Sara allein sein zu können. Aber es war ihm nicht so wichtig. Denn er war hungrig und von der langen Zugfahrt müde. Nach einem gemeinsamen Abendessen in einem muslimischen Restaurant um die Ecke unterhielten sich noch etwas auf dem Zimmer und duschten sich dann. Während Marco in der Dusche war, kam Sara kurz an Franks Bett, griff ihm gekonnt und fest zwischen die Beine, und ging dann kichernd zu Marco in die Dusche.

    „Die werden unter der Dusche ihren Spaß haben", dachte Frank, machte das Licht aus und schlief sofort ein.

    Aber er schlief nicht lange. Schon bald wurde er wieder wach, weil jemand an seinem Kasper knapperte. Sein Blick ging sofort nach links. Saras Bett neben ihm war leer. Im Bett dahinter schlief Marco mit dem Rücken zu ihm. Sein Rücken war bis zur Hüfte hinab behaart. Kein schöner Anblick. Aber ein beruhigender. Er hob die dünne Baumwollbettdecke an und sah, was Sara alles mit ihrem Mund machen konnte. Und er begriff, dass man bei einem solchen Mund keine hübsche Nase braucht. Er bemühte sich, so leise wie nur möglich zu atmen und vergaß dabei die Zeit, den Ort und Marco.

    Beim nächsten Kontrollblick war Saras Bett nicht mehr leer. Marco lag darauf. Er hatte seinen Kopf auf die rechte Hand gestützt und sah ihn ernst an. Alles, was an Franks Körper hart und angespannt gewesen war, wurde augenblicklich weich. In Sekundenschnelle. Sara schien das nicht weiter zu stören. Sie machte weiter. Sie kämpfte ohne zu wissen, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Sie hatte anscheinend unter der Decke nichts mitbekommen. Marco starrte Frank, dem seine eigene Anwesenheit mittlerweile sehr peinlich geworden war, eindringlich in die Augen und sagte „Hör nicht auf!"

    Dann stand er auf, ging zum Ende des Bettes, schob die Decke beiseite und nahm Sara von hinten. Frank sah ihren Mund, ihr Gesicht, ihre nach oben gestreckten Pobacken und dahinter den behaarten Oberkörper des schwitzenden Fettsacks. Marco murmelte laut vor sich hin und Sara quietschte vergnügt, während Frank ganz konzentriert den rotierenden Deckenventilator betrachtete.

    Nach ein paar Minuten starb mit einem markerschütternden Stöhnen ein Nilpferd im Zimmer. Marco legte sich wieder in sein Bett und begann sogleich laut zu schnarchen. Sara war damit noch nicht zufrieden und mühte sich weiterhin ab.

    Aber Frank wollte nur noch eine Zigarette rauchen. Oder zwei. Ansonsten war er bedient.

    Am nächsten Morgen verabschiedeten sich ein gutgelaunter Marco und eine sanft lächelnde Sara. Sie hatte ihre knielangen Haare zu einem einzigen gigantischen Zopf geflochten. Dazu trug sie eine kurze weiße Hose und eine ebenso weiße Bluse. Die personifizierte Unschuld. Beide standen sie reisefertig vor seinem Bett. Sie mussten sehr leise gewesen sein, denn Frank hatte von alledem nichts mitbekommen. Marco gab ihm seine Visitenkarte. Falls er einmal nach New York kommen sollte, müsse er sie unbedingt besuchen. Dann nahmen sie ihr Gepäck und gingen. Frank rauchte noch eine Zigarette, bevor auch er seine Sachen packte und mit einem Taxi zum Bahnhof fuhr, wo er den nächsten Zug nach Butterworth nahm, und von dort einen Bus nach Penang.

    Benjamin saß neben ihm im Bus. Er war groß, kräftig und schwarz. Sehr schwarz. Eigentlich schon blau. Er kam aus Ghana und suchte nach Arbeit. Sie verstanden sich gut und teilten sich in Georgetown ein Doppelzimmer mit zwei freistehenden Betten in einem der Chinesenhotels. Bei den Chinesenhotels konnte man nicht viel falsch machen. Sie ähnelten sich alle und waren einfach und preiswert. Ein Ventilator, der meist an der Decke hing, ein durch eine Mauer abgetrenntes Badezimmer mit Toilette und ein kleiner Tisch, auf dem eine Flasche Trinkwasser und Gläser standen. In der Regel waren die Zimmer sauber und es funktionierte alles.

    In ihrem Hotel waren auch drei junge Däninnen abgestiegen. Eine Brünette, eine Blondine und eine Riesin.

    Die Riesin war auch blond. Weißblond. Die meisten Malaien gingen ihr kaum bis zur Schulter. Ihre Füße, ihr Po, ihr Busen – alles hatte gigantische Ausmaße. Sie war ganz weiß, fast schon durchsichtig. Unter ihrer Haut schimmerten blaue Adern, die an der Oberfläche mäanderten. Nur ihre Fußsohlen und Handflächen waren rot. Sie war das Gegenteil von Benjamin, bei dem nur die Handflächen und Fußsohlen weiß waren und von braunen Linien durchzogen. Ihr Körper war rund wie der einer Robbe. Für Benjamin war sie die schönste Frau der Welt. Der Traum eines jeden Ashanti-Häuptlings.

    Schnell wurde klar, dass die Anziehung gegenseitig war. Um das Protokoll zu wahren, wurden ein paar Biere bestellt und man plauderte auf der Terrasse im Innenhof über woher, wohin, wie lange und was schon alles passiert war. Nach dem dritten Bier kamen die Däninnen langsam in Fahrt. Sie riefen „Denmark!, „Danish Dynamite! und erzählten, was sie von Schweden hielten. Nicht viel. Außerdem war nach dem dritten Bier auch klar, dass Riesenschneeflocke die Nacht mit Benjamin verbringen würde.

    Da die Frauen ein Dreibettzimmer hatten, mietete die Riesin ein weiteres Zimmer an und bestellte noch mehr Bier. Die beiden anderen übertrafen sich nun gegenseitig dabei, Franks Aufmerksamkeit zu bekommen. Anfangs war es noch im Rahmen. Dann, nachdem Benjamin und die Riesin gegangen waren, wurde es archaischer. Die beiden Wikingerdamen waren angetrunken und gingen zum offenen Schlagabtausch über.

    Die Situation nach dem siebten Bier war folgende:

    Es gab zwei Däninnen, einen Deutschen, ein Dreibettzimmer und ein Doppelzimmer. Wenn man die französische Lösung eines Menage á Droit außen vor lässt, müsste eine der Däninnen alleine schlafen oder der Deutsche. Dass der Deutsche alleine schläft, war aber für keinen der Beteiligten eine Option.

    Um einer Lösung näher zu kommen, wurde jetzt außer Bier auch Arrak, das lokale Feuerwasser, bestellt.

    Als die Flasche Arrak fast zu Ende war, redeten die Frauen miteinander auf Dänisch. Es klang furchtbar und man konnte an ihren roten Köpfen und Augen sehen, wie der Alkohol mehr und mehr Besitz von ihnen ergriff. Dann standen sie auf und wankten davon. Die Blondine ins Dreibettzimmer, die Brünette ins Doppelzimmer. Eine dänische Lösung. Frank musste sich also entscheiden.

    Da er kein Freund vorschneller Entscheidungen war, holte er sich noch ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank an der Rezeption und schenkte sich den restlichen Arrak in sein Glas. Jetzt, nachdem die beiden Frauen weg waren, erfüllte eine angenehme Stille den Innenhof des Gebäudes, welche nur manchmal durch ein lautes Stöhnen der Riesin unterbrochen wurde. Mächtig. Seeelefantenhaft. Das Gestöhne, der Arrak und Frank begannen nun einen kühnen Plan auszuhecken. Sein müder, angetrunkener Körper sollte unter Aufbietung seiner letzten Kräfte eine großdeutsche Lösung erzwingen. Er beschloss, zuerst ins Doppelzimmer und dann ins Dreibettzimmer zu gehen!

    Im Doppelzimmer lag die brünette Dänin frisch geduscht und nur mit einem Slip bekleidet auf dem Bett. Ihre großen schlaffen Brüste berührten fast die Matratze. Ihre Augen waren nicht ganz geschlossen. Ihr Mund stand offen und roch entsetzlich. Sie hatte sich in der Dusche übergeben. Zwischen ihren Schenkeln quollen lange dunkle Schamhaare aus dem Slip hervor. Wie leblose dünne Spinnenbeine.

    Frank entschloss sich spontan für eine kleindeutsche Lösung und ging ins Dreibettzimmer, wo die blonde Dänin zwei Betten zusammengeschoben hatte, um die Tanzfläche zu vergrößern. Sie lag angezogen und völlig verschwitzt da und schnarchte laut.

    Frank ging wieder zurück auf die Terrasse und trank in Ruhe sein Bier aus. Das Gestöhne hatte mittlerweile aufgehört. Die ganze Welt war ruhig. Die Gedanken wurden klarer. Er lächelte in sich hinein. Die schweizerische Lösung war jetzt die Beste.

    Er ging ins Dreibettzimmer, duschte sich und schlief in dem noch freien Einzelbett.

    2. Reisefieber

    Die Überfahrt von Penang nach Medan war preiswert und unbürokratisch. Frank drückte dem Kapitän ein paar Dollar in die Hand und ging an Bord. Es war ein Holzschiff. Etwa vier Meter breit und gut dreimal so lang. Nur die kleine Brücke am Heck, wo sich der Kapitän und seine zwei Begleiter stapelten, sowie der Bug waren überdacht. In der offenen Mitte befanden sich sieben Kühe, die, wenn sie standen, das Meer sehen konnten. Der Rest des Schiffsbauches war mit Kartons und Säcken aller Art zugestopft. Frank war der einzige Passagier. Zufrieden setzte er sich am Bug in die Sonne und rauchte Kette. Die immer breiter werdende Furche, die das Schiff in die spiegelglatte See schnitt, war weithin zu sehen.

    Es war eine Orgie in Blau. Dunkelblaues Meer, hellblauer Himmel. Wolkenlos. Sogar die Farbe des Schiffes war blau.

    Als die Dunkelheit hereinbrach, wurde es schlagartig kühl. Der Himmel zog sich zu und es begann heftig zu regnen. Alles war jetzt pechschwarz. Das Meer, der Himmel und das Schiff. Übermüdet und frierend saß er in seiner dünnen Regenjacke am Bug im Regen. Die Blanken waren nass und rutschig geworden.

    Aus Angst im Schlaf ins Meer zu fallen, stieg er zu den Kühen in den offenen Frachtraum hinunter. Es roch nach Vieh und Kot. Die Tiere waren nicht untätig gewesen und hatten schon einige Fladen fallen gelassen. Frank setzte sich und lehnte sich vorsichtig an eine Kuh. Sie drehte ihren Kopf auf die Seite, musterte ihn kurz und kaute weiter. Es war ihr egal.

    Frank war ihr dankbar dafür. Sie war sehr warm und das Letzte, was er sah, bevor er seine Augen schloss, war ein nasses, dampfendes Fell.

    Sie erreichten Sumatra noch vor Sonnenaufgang. Als es hell wurde, stand Sumatra plötzlich vor ihnen. Nur ein etwa siebzig Meter langer Holzsteg, an dessen Ende ein Haus mit einer zu groß geratenen indonesischen Fahne war, trennte das Boot von der Insel, die noch dunkel und nebelverhangen im Ozean schlummerte. Dann ging alles sehr schnell. Die ersten Strahlen der Morgensonne vertrieben den Nebel, Hähne krähten und aus einigen armseligen Hütten am Ufer stieg Rauch auf. Frank verabschiedete sich von der Kuh, nahm sein Gepäck und lief zum Haus mit der indonesischen Fahne. Einen Stempel im Pass und ein Glas Tee später nahm er eine Fahrradrikscha zum nächsten Busbahnhof.

    Auf halber Strecke, irgendwo zwischen frisch bewässerten Reisfeldern und alten Bäumen, fuhr der Fahrradkuli plötzlich im Schritttempo und verlangte das Doppelte des vereinbarten Fahrpreises. Zahlen flogen hin und her, bis der Fahrradkuli schließlich anhielt und sich weigerte weiterzufahren.

    Frank wurde wütend. So wütend, dass er nicht wusste, ob er in die Rikscha oder den Kuli treten sollte. Er stieg aus und entschied sich spontan für die Rikscha. Mit einem kräftigen Tritt gegen das rechte Hinterrad verabschiedeten sich dort zwei Speichen. Die Anwendung von praktischer Psychologie zeigte sofortige Wirkung. Der Kuli schrie laut, dass alles kein Problem und der anfangs vereinbarte Fahrpreis in Ordnung sei. Die Fahrt wurde daraufhin fortgesetzt und ging ohne weitere Vorkommnisse zu Ende.

    In Medan angekommen, gönnte er sich ein Einzelzimmer mit Bad und ging nach einem kurzen Rummelplatzbesuch früh zu Bett. Der Rummelplatz befand sich ganz in der Nähe seines Hotels und war kaum beleuchtet. An den Eingängen waren einige Laternen angebracht, hier und da flackerten an alte Autobatterien angeschlossene Glühbirnen und Neonröhren, die manchmal mit buntem Papier umwickelt waren. An einigen Ständen wurde Fleisch und Fisch gegrillt. Wo es Süßigkeiten und Zuckerwatte gab, klebten ganze Trauben von Kindern. Ebenso an einem durch Muskelkraft angetriebenem Karussell, wo vier völlig verschwitzte Männer Sklavenarbeit leisteten, um es in Bewegung zu halten. Pubertierende Mädchen kreischten in Schiffschaukeln, Männer verglichen ihre Kräfte beim Hau-den-Lukas und Jugendliche versuchten sich gegenseitig beim Büchsenwerfen zu übertreffen.

    Wer wollte, konnte sich auch von einem Wahrsager die Zukunft vorhersagen lassen. Dabei zogen zwei abgerichtete Papageien mit ihrem Schnabel Karten aus einem Stapel, den der Kunde vorher gemischt hatte, und legten sie vor den Wahrsager. Der machte jedes Mal ein verblüfftes Gesicht, gestikulierte wild, und begann dann wie ein Wasserfall zu reden. Der Andrang war enorm und alle hörten ihm gebannt zu. Und wem das alles noch nicht genügte, der konnte in einem Zelt gegen den stärksten Mann der Welt im Ringkampf antreten.

    Gleich am nächsten Morgen fuhr Frank weiter nach Prapat am Toba-See und setzte mit einer Fähre zur Insel Samosir über. Die Insel lag in der Mitte des Sees, um den herum sich hohe Berge auftürmten. Es war angenehm kühl. In der Nähe des Dorfes Tuk Tuk überließ ihm eine Bataker-Familie eine kleine Holzhütte mit einem geschwungenen Satteldach aus Wellblech. Die Hütte stand zum Schutz vor Schlangen und Hochwasser auf Stelzen. Eine Holztreppe ohne Geländer, die mehr einer Leiter als einer Treppe glich, führte mit ungleichmäßigen Stufen nach oben zu einer kleinen Holzveranda, an welcher sie auch befestigt war. Der Eingang war etwa einen Meter hoch, ungefähr genauso breit und konnte von innen mit einer hölzernen Schiebetür verschlossen werden. Nur auf allen Vieren gelangte man in den Innenraum der Hütte, der bis auf eine Matratze, einem Kissen und einer Baumwolldecke völlig leer war.

    Kaum hatten sich Franks Augen an die Dunkelheit im Innern gewöhnt, brach plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm los. Tropischer Regen prasselte auf das Wellblechdach. Er schob die Matratze zum Eingang, zündete sich eine Zigarette an und sah auf den See, der vom Regen gepeitscht wurde. Sein neues Zuhause gefiel ihm.

    Bei den einheimischen Batakern gab es eine klare Arbeitsteilung. Die Frauen waren für Kinder, Haus- und Feldarbeit, Kochen und was sonst noch so anfiel zuständig, die Männer für das Rauchen von Kretek-Zigaretten. Frank verbrachte die Tage mit langen Spaziergängen oder spielte Schach mit kettenrauchenden Greisen, die jedes Mal, wenn sie eine seiner Figuren vom Brett nahmen, breit grinsten und dabei ihre vom Betelnusskauen roten Zähne zeigten.

    Nachts lag er auf der kleinen Holzveranda seiner Pfahlbauhütte, rauchte und betrachtete den Sternenhimmel, der sich klar und unendlich über ihm erstreckte. Er fühlte sich dabei sehr klein und sehr alleine. Und gleichzeitig stark und unendlich frei. Unendlich, wie der Sternenhimmel über ihm. Niemand wusste, wer er war. Niemanden kümmerte es, was er machte. Und niemand sagte ihm, was er zu tun habe.

    Freiheit. Er schloss die Augen, atmete tief ein, und war erstaunt darüber, wie leicht es war, glücklich zu sein.

    Auf einem seiner Spaziergänge traf er Rita. Sie kam aus Karlsruhe, war vierzehn Jahre älter als Frank, allein reisend und lebenslustig. Sehr lebenslustig. Sie erzählte ihm noch am selben Abend von ihrem großen „Es" und, dass sie auf Bali an einem einzigen Tag mit drei verschiedenen Männern Sex hatte. Morgens mit einem Deutschen, den sie die Nacht zuvor in einer Bar kennengelernt hatte, nachmittags mit einem Australier und abends nahm sie einen Balinesen mit auf ihr Zimmer. Frank wunderte sich, warum sie ihm das erzählte, kam aber nur zu dem Schluss, dass sie einsam sein musste.

    Zusammen besuchten sie am nächsten Tag das Königsdorf Simanido, und als sie anschließend im Nieselregen in den heißen Quellen Samosirs badeten, fragte sie ihn, ob er die Zauberpilze hier schon probiert hätte. Und ob er sie mit ihr zusammen nehmen wollte. Er wollte. Wenn nicht hier, wo denn dann?

    Rita kam am späten Nachmittag. Sie wollten sich einen guten Abend machen und ließen sich das je zehn Dollar kosten. Für Zigaretten, Gras, mit Zauberpilzen belegte Pfannkuchen, saftige Mangos, eine Ananas und Bananen.

    Frank hatte noch zusätzlich eine Flasche Arrak gekauft und war gerade beim zweiten Glas, als Rita die Holzleiter zu seiner kleinen Veranda emporstieg. Die Sonne schien auf den spärlich bewaldeten Berghang auf der anderen Seite des Sees. Es war angenehm kühl und ruhig.

    Die Mischung aus Arrak, Pilzen und Gras zeigte schon bald Wirkung. Rita begann Volkslieder zu singen, Frank Soldatenlieder. Sie erzählten sich gegenseitig Geschichten und beschrieben, was sie gerade fühlten und sahen. Dazwischen wurden sie immer wieder von unkontrollierten Lachanfällen gepackt.

    Als der Morgen graute, umarmte sie ihn nackt von hinten. Frank hatte schon am Tag zuvor bemerkt, dass sie sich zurechtgemacht hatte. Mit zwei geflochtenen Seitenzöpfen, etwas Schminke und einem leichten Sommerkleid mit Sandalen. Er mochte sie. Aber es ging nicht. Schuld waren ihr für seinen Geschmack zu großes „Es" und ihr für seinen Geschmack zu großer Kitzler. Er war so groß wie das letzte Glied seines kleinen Fingers. Er wollte nicht. Irgendwo musste eine Linie gezogen werden und er zog sie hier und jetzt.

    Der nächste Schritt wäre sonst ein Transvestit mit einem kleinen Kasper gewesen.

    Rita nahm es ihm nicht übel. Sie sagte, dass sie zur Insel Nias fahren möchte und sich freuen würde, wenn er mitkäme. Frank sagte zu und zwei Tage später brachen sie auf. Nach einer langen Busfahrt durch die Berge Sumatras kamen sie gerade noch rechtzeitig in Sibolga an, um die Nachtfähre nach Nias zu nehmen. Gegen Mittag des nächsten Tages legten sie in der Inselhauptstadt Gunungsitoli an und fuhren, nachdem sie ihre notwendigen Einkäufe gemacht und zu Mittag gegessen hatten, mit einem Kleinbus in ein Dorf, wo Pater Alfred sie mit einem Geländewagen abholte.

    Pater Alfred war ein humorvoller Kapuzinermönch aus Südtirol, der die Missionsstation Gido leitete. Rita hatte ihn von Gunungsitoli aus angerufen. Weiß Gott, woher sie die Adresse hatte. Aber die Missionsstation Gido war ein von Hügeln umgebenes Juwel. Eine Kirche, ein Haus für Pater Alfred, zwei Häuser für die anderen Bewohner der Mission und ein Gästehaus. Um die Missionsstation herum waren Gärten und kleine Plantagen angelegt. Hühner, Enten und Schweine wurden gehalten, in einem künstlich angelegten Teich war eine Fischzucht. Gido versorgte sich selbst. Sonst gab es nur Urwald. Und neben dem Gästehaus ein etwa zehn auf vier

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