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Untergang in Kairo
Untergang in Kairo
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eBook607 Seiten9 Stunden

Untergang in Kairo

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Über dieses E-Book

» … er ging seiner Existenz nach, anstatt ihr voranzugehen. Er ging sich selbst nach, wie eine alte Uhr, anstatt sich federnd vorauszueilen.«

German Roman, vierzig, Sprach- und Literaturdozent, entschließt sich, Urlaub von seiner gesicherten Existenz in Deutschland zu nehmen und nach Ägypten zu gehen, um an der Kairo Universität zu unterrichten. Eigentliche Protagonistin des Romans ist die deutsche Literatur, durch deren Prisma German die Erfahrungen in seinem neuen Lebensraum reflektiert. Musik und Film, Traum und Rausch, Macht und Tradition, Kolonialismus und Militarismus, Mythologie und Geschichte formen ein facettenreiches Kaleidoskop, in das sich die Farbtöne erotischer Begegnungen mischen. Im changierenden Spiel zwischen Verhüllung und Enthüllung deutet sich immer wieder das Motiv des Untergangs an, das sich am Ende unerwartet als Realität enttarnt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum27. Feb. 2015
ISBN9783945408230
Untergang in Kairo

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    Buchvorschau

    Untergang in Kairo - Markus Michael Fischer

    2012

    Inhaltsverzeichnis

    Impressum

    1. Kapitel: Ulm über Kairo

    2. Kapitel: Germanist und Fuhrunternehmer

    3. Kapitel: Stuttgarter Herzwägung

    4. Kapitel: Makler und Wasserfeger

    5. Kapitel: Taxi zum Totenreich

    6. Kapitel: Disco im Parkhaus

    7. Kapitel: Soliman und das Licht

    8. Kapitel: Freiherr mit Boliden

    9. Kapitel: Diwan und Kühlschrank

    10. Kapitel: Nachmittags Orkane

    11. Kapitel: Tänze im Ramadan

    12. Kapitel: Kopftuch und Handkuss

    13. Kapitel: Von Widdern und Fröschen

    14. Kapitel: Luxus in Luxor

    15. Kapitel: Hunde und bunte Fische

    16. Kapitel: Briefe, Mails und Weihrauchduft

    17. Kapitel: Kaba, Gold und Sonnenhände

    18. Kapitel: Schoßaffen, Windhunde, Krokodile

    19. Kapitel: Al Andalus und Orions Schwert

    20. Kapitel: Prügler und Worträuber

    21. Kapitel: Bücher, Gräber und Melonen

    22. Kapitel: Die Wüste und der Ursprung der Welt

    23. Kapitel: Festakt mit Reisetasche

    24. Kapitel: Finales Augenflimmern

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen National­bibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlages ist unzulässig.

    © by Verlag Neue Literatur

    www.verlag-neue-literatur.com

    Gesamtherstellung: Satzart Plauen

    ISBN 978-3-945408-23-0

    1. Kapitel: Ulm über Kairo

    German saß im Lesesaal der Württembergischen Landesbibliothek. Das Frühlingslicht drang gleißend in den noch im Winterschlaf verharrenden Raum und vertrieb den gelblichen Schimmer, der die Bücher in den Regalen überzog. Die automatischen Jalousien, die im Sommer mit einigem Quietschen an den Fenstern auf und ab fuhren, schienen noch nicht in Betrieb zu sein, und so machte sich unter seinem Winterpullover eine unangenehme Wärme breit, der nur durch einen sofortigen Platzwechsel zu entkommen war. Trotzdem blieb er über dem alten Buch sitzen, das vor ihm auf dem Tisch lag.

    Aus reiner Neugier hatte er sich die Originalausgabe eines Werkes von Sebastian Münster ausgeliehen. Basel 1628 stand auf dem schweinsledernen Einband. Und: Cosmographia. Das ist: Beschreibung der ganzen Welt! Daran sollten sich die heutigen Büchermacher ein Beispiel nehmen, dachte er, hier wird gleich auf dem Einband erläutert, was zwischen den Deckeln steckt. Ein Register gab es auch, am Anfang, und nicht, wie heutzutage üblich, am Ende des Buches, und so suchte er erst einmal nach seiner Heimatstadt und den Städten, in denen er studiert hatte: Stuttgart wurde für seinen trefflich großen Weinwachs gerühmt, Tübingen für seine Hohe Schul, die viele gelehrte Männer erzogen hat, und Cambridge, wo er ein Jahr lang die Universität besucht hatte, erhielt den Titel einer lustigen Stadt. Seine Konkurrentin namens Ochsenfurt war auch erwähnt: Diese Stadt sei etwas kleiner als Cambridge, aber sehr lustig. Das war Cambridge also gewesen: größer, aber nicht ganz so lustig! Er blätterte noch eine Weile in dem pergamentenen Folianten, bevor es ihm wirklich zu heiß wurde und er sich entschloss, draußen ein wenig Abkühlung zu suchen.

    Als er durch die Drehtür ins Freie trat, wurde er eines Besseren belehrt. Die Wärme war wie weggeblasen und die Vorübergehenden stemmten sich in ihren Wintermänteln gegen den heftigen Wind. Vorbei am Wilhelms-Palais überquerte er den Charlottenplatz, der eigentlich gar kein Platz war, sondern eine riesige Kreuzung, an der man, als Autofahrer, darauf wartete, dass man über sie hinwegdonnern durfte. Aber German war Fußgänger, Passant, Vorübergehender. Und Wartender. Denn um den Charlottenplatz zu überqueren, musste man eine Reihe von Ampelübergängen bewältigen, und garantiert stand die nächste Ampel immer auf Rot. Er hätte den Charlottenplatz auch unterqueren können, es wäre weniger windig gewesen, und man hätte auch den Eindruck gehabt, man käme voran, was in der Oberwelt eben nicht der Fall war. Aber German stieg nie hinab in die Unterwelt, wenn es nicht unbedingt nötig war.

    Vor der Auslage einer Buchhandlung blieb er stehen. Hier war es windgeschützt, hier wollte er ein wenig verweilen. Er blickte in einen Tropenwald von Reiseführern. Wahrscheinlich war jetzt die Zeit, in der man sich Gedanken zu machen hatte, wo man seinen Jahresurlaub verbringen wollte. Dann waren da noch Steuer- und Prozessratgeber, Gartenbücher und auch ein paar Gedichtbände mit Lokalbezug. Schtuegart. Warum die Landeshauptstadt nicht so schreiben? Sebastian Münster hatte sich orthografisch auch nicht festgelegt: einmal Stuckgart, dann Stutgard, dann wieder Studtgart.

    Inzwischen war es ihm kalt genug geworden, um wieder in den überheizten Lesesaal zurückkehren zu können. Gerade hatte er die Fassade des Instituts für Auslandsbeziehungen passiert, als ihm von hinten jemand auf die Schulter schlug, dass er beinahe in die Knie ging und vor Schreck kurzzeitig die Orientierung verlor.

    »German, altes Haus!« brüllte ihm jemand ins Ohr.

    Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefangen hatte und das fremde Gesicht einordnen konnte. Und dann war alles wieder da: Knut Rapp. Studienkollege in Tübingen, dann nach Berlin, dann in die weite Welt hinaus. Immer auf Reisen, aber immer Kontakt gehalten. Immer wendig und mit allen Wassern gewaschen. Und jetzt auch noch »altes Haus«! Was war denn das wieder für eine Phrase!

    »Was treibst du denn hier?«

    Diese Frage hätte eigentlich German stellen müssen, immerhin war er es, der hier in Stuttgart lebte, hier Ausländer in Deutsch unterrichtete, hier täglich in die Bibliothek ging und dessen Heimatstadt Stuttgart war! Aber Knut war ihm wieder einmal zuvorgekommen.

    »Ich bin auf dem Weg zurück in die Landesbibliothek. Und du, was führt dich in die Stadt, in der Hochdeutsch eine Fremdsprache ist?«

    »Ich hatte hier zu tun, du weißt, Auslandsbeziehungen, Networking, Projekte, Kontakte. Ohne die geht’s heute nicht. Immer an einem Ort, das ist doch nervtötend. Ich mache lieber an vielen Orten dasselbe als dasselbe an einem Ort. Weil es dann nicht mehr dasselbe ist, verstehst du?«

    German verstand Knut. Er verstand ihn sogar besser, als Knut sich selbst verstand. So kam es ihm zumindest vor.

    »Danke auch für deine Postkarte aus Phnom Penh, Knut. Entschuldige, dass ich dir nicht dafür gedankt habe. Nicht einmal per Mail. Aber du weißt ja: Ich bin dir immer dankbar.«

    »Nicht der Rede wert! Gerade neulich ist mir wieder eingefallen, wie sich dieser Germanistikprofessor, wie hieß er noch gleich, im ersten Semester, du weißt schon, über deinen Namen lustig gemacht hat. German Roman.«

    Jedes Mal, wenn sie sich sahen, kam ihm Knut mit dieser Geschichte. Sie war wie eine Erkennungsmelodie, wie das Klingelzeichen eines Handys, das ertönen musste, bevor der Gesprächsfaden gesponnen werden konnte.

    »Du seist die wandelnde Germanisch-Romanische Monatsschrift. Erinnerst du dich? Und wir wussten nicht einmal, was die Germanisch-Romanische Monatsschrift ist!«

    »Immerhin hat er meinen Nachnamen richtig betont. Auf der ersten Silbe. Ich bin ja kein geschriebener Roman. Leider. Ich bin nur ein lebendiger Mensch mit einem romanischen Nachnamen.«

    So oder so ähnlich war seine Antwort auf Knuts Erkennungsmelodie immer gewesen. Er fühlte sich dabei jedesmal wie einer der Dioskuren, der seinem Freund, Bruder, Zwilling ein zerbrochenes Tontäfelchen reicht. Und es war immer wieder schön, wenn die Scherben ineinanderpassten.

    »Hör zu, German, das ist doch ein echter Zufall, dass ich dich gerade jetzt treffe! Vor ein paar Minuten habe ich erfahren, dass sie noch Dozenten suchen. Deutschlehrer im Ausland. Das wäre doch was. Auch für dich. Dann kommst du mal raus aus deinem Schtuegart!«

    Knut versuchte sich immer wieder im Schwäbischen. Schon damals in Tübingen. Aber mit der Aussprache scheiterte er immer kläglich. Auch jetzt.

    »Danke! Aber du weißt, ich bin nicht gemacht für die Fremde.«

    »Ach was, du unterrichtest doch Ausländer hier in Stuttgart! Warum willst du das nicht auch einmal im Ausland versuchen? Da zahlen sie auch besser! Denk darüber nach! Es geht um eine Stelle in Ägypten. Kurzfristig. Sie wird nicht öffentlich ausgeschrieben. Mund-zu-Mund-Propaganda, hinter vorgehaltener Hand, du verstehst!«

    Für German klang das wie Mund-zu-Mund-Beatmung, und er musste förmlich nach Luft schnappen, nicht nur, weil ihm auf dem windigen Stuttgarter Charlottenplatz plötzlich eine windige ägyptische Fata Morgana vorgegaukelt wurde, sondern auch, weil er dem voranstürmenden Knut atemlos hinterherrannte.

    »Schau, ich bleibe heute noch in Stuttgart. Ich übernachte bei einer Freundin in Sillenbuch. Deswegen muss ich auch hier hinunter zur U-Bahn. Begleite mich doch! Dann haben wir noch zwei Minuten.«

    »Ich fahre nicht gern in die Tiefe!«

    »Was heißt hier Tiefe? Da musst du erst mal die Metro in Sankt Petersburg erleben. Neulich war ich dort zu einem Vortrag. Da fährst du minutenlang hinunter mit der Rolltreppe. Und über dir fließt die Newa. Das ist was anderes als Neckar und Nesenbach!«

    Und German eilte Knut willenlos hinterher, als der ihn nun doch in die Unterwelt führte und ihn schließlich mit den Worten »Ägypten! Schreib mir noch heute eine Mail!« an der Haltestelle der U-Bahn stehen ließ.

    Noch ganz benommen von diesem Auftritt seines ehemaligen Studienkollegen nahm German wieder seinen Platz im Lesesaal der Landesbibliothek ein. Ägypten. Hatte er nicht vorhin im Schaufenster der Buchhandlung auch die Pyramiden gesehen? Und ein malmendes Kamel davor? Was wohl Sebastian Münster über Ägypten zu sagen hatte? Und er blätterte in dem jahrhundertealten Folianten, bis er auf das Kapitel über Ägyptenland stieß.

    Was er da las, klang nicht schlecht. Kein Land sei edler, älter und fruchtbarer. Man habe nie gesehen, dass es in Ägyptenland geregnet habe. Das habe schon Platon bestätigt. Die Luft sei durchweg hell und wohltemperiert. Und die Ägypterinnen seien so fruchtbar, dass sie nicht nur Zwillinge, sondern öfters auch Drillinge und Vierlinge bekämen. Und die Babys hätten es so eilig, auf die Welt zu kommen, um die wohltemperierte Luft zu genießen, dass sie schon nach acht Monaten vom Mutterleib genug hätten und ans Tageslicht strebten. Nicht immer im Neonlicht der Bibliotheken, wie er, sondern im klaren Licht des Tages! Das war also die ägyptische Verheißung!

    Er blätterte noch eine Weile in dem Folianten, betrachtete Zeichnungen von den Pyramiden, die einmal wie Wohnblocks aussahen und dann wieder wie die Spitzen von Obelisken, und studierte die wahrhaftige Abkonterfeiung der mächtigen und besten Stadt Alkair, die wirklich paradiesisch anmutete. Kairo oder Neubabylon werde überragt von einem Schloss von der Größe der Stadt Ulm, stand da zu lesen, und in der Stadt selbst lebten so viele Menschen, dass es unglaublich sei. Alles sei im Überfluss vorhanden, alles außer Holz.

    Bald schwirrte German der Kopf von den merkwürdigen Nachrichten aus Ägyptenland, und doch hatte sich in seinem Innern der noch uneingestandene Wunsch festgesetzt, weiter über Ägypten nachzudenken, die Wanderdünen des Sandmeeres auf sich zurollen zu lassen und sich in dieser goldgelben Brandung wenigstens gedanklich zu wälzen. Und was für Bräuche die Ägypter hatten! Sie tranken Gerstenbier, und wenn sie in einer Wirtschaft beieinandersaßen, trat immer einer herzu mit einer Skelettpuppe in der Hand und mit den Worten: »Ihr müsset werden wie dieser, trinkt und freut euch deshalb nicht so viel!« Bei jedem Imbiss sei ein Maß gesetzt, wie viel man trinken dürfe, ohne trunken zu werden. Ja, auf das Maß kam es an!

    So flogen die Stunden des Nachmittags dahin, und German hatte sich schon ganz gut in sein inneres Ägypten eingelebt, als ihn die Uhr daran erinnerte, dass er vor dem Unterricht noch einmal kurz nach Hause musste, um seine Aktentasche mit den Unterrichtsmaterialien zu packen. Die Olgastraße, wo er wohnte, war nicht weit. Er hatte immer darauf geachtet, seine Wege so kurz wie möglich zu halten und alles zum Leben Notwendige innerhalb weniger Quadratkilometer zur Verfügung zu haben. In Tübingen und Cambridge war das nicht schwer gewesen, in Stuttgart schon eher. Und wie würde es in Kairo sein? Er nahm zumindest an, dass es sich bei diesem Ägyptenengagement um Kairo handeln musste. Obwohl: Alexandria war sicher auch nicht zu verschmähen, schon wegen der, wenngleich verbrannten, Bibliothek, und Theben, Memphis, Heliopolis. Aber Kairo, Alkair! Die Stadt, hinter der der Nil sich in sein Delta auffächerte. Der Nil, dieser Teufelsstrom! Richteten Rhein, Donau, Neckar und andere Flüsse durch Überschwemmungen nur Schaden an, war das beim Nil umgekehrt: Das Wasser richtete Fruchtbarkeit an, das Chaos brachte Ordnung hervor.

    Bevor er die Wohnung verließ, um rechtzeitig zu seinem Unterricht Deutsch als Fremdsprache zu erscheinen, setzte er doch noch eine telegrammartige Mail an Knut ab: »Ägypten denkbar! Kairo?«, und als er vom Unterricht wieder nach Hause kam, fand er nicht nur, typisch Knut, eine Antwort-Mail mit einer Reihe von attachierten Unterlagen vor, sondern auch den ausdrücklichen Befehl: »Komm heute Abend um neun Uhr in den ›Roten Ochsen‹. Rania wird auch da sein. Sie ist Ägypterin. Und übrigens: Es ist Kairo.«

    Dass sich Knut noch an den »Roten Ochsen« erinnerte! Da waren sie früher, als sie noch in Tübingen studierten, nach den Theateraufführungen im Kleinen Haus zusammengesessen, meistens freitags. Knut war dann mit dem letzten Bus nach Tübingen zurückgefahren, er selbst übers Wochenende bei seinen Eltern geblieben. Auf dem Weg zum »Roten Ochsen« gingen ihm allerhand Fragen im Kopf herum. Die erste und wichtigste war: Warum bist du jahre-, jahrzehntelang, hier hocken geblieben, und nun plötzlich, auf deine alten Tage, erfasst dich die unbegreifliche Lust auf einen Ortswechsel? Ein altes Haus, das in Bewegung gerät. Weil es auf Sand gebaut ist. Genauer gesagt, auf eine Sanddüne. German fühlte sich in der Tat alt, obwohl er erst vierzig war. Aber die Schüler in seinem Unterricht, vor allem die Schülerinnen, die immer jünger wurden, sprachen eine andere Sprache. Die Sprache der Jugend, der Frische. Sie war die Fremdsprache, die er zu erlernen hatte, anstatt das Deutsche als Fremdsprache zu unterrichten.

    Er war so sehr in Gedanken versunken, dass er fast am »Roten Ochsen« vorbeigegangen wäre, aber eine heftig winkende Person, die am Fenster saß, Knut, hatte ihn schon erspäht und gleichsam an seinen Tisch gelotst wie einen riesigen, zwar flugfähigen, am Boden aber schwerfälligen und nahezu manövrierunfähigen Düsenjet.

    »Setz dich, German! Das ist Rania. Sie kommt aus Kairo und promoviert hier in Stuttgart über die Wortstellung im Deutschen und Arabischen. Eine vergleichende linguistische Studie. Hochinteressant!«

    Für German als Literaturwissenschaftler war das alles andere als spannend. Wie man die Worte stellt, war ihm gleich, wie man sich zu ihnen stellt, schon weniger, und am wenigsten, wie man Schrift stellt, wie man sich der Schrift stellt.

    Unsanft unterbrach Rania Germans Gedanken.

    »Knut hat mir viel von dir erzählt.«

    Und sie sagte diesen Satz in perfekter Intonation und mit einer derart sanften Stimme, dass sich German auf eine ebenbürtige Antwort sichtlich vorbereiten musste. Erschwerend kam hinzu, dass sie von einer berückenden Schönheit war. Wie Knut nur immer an solche Frauen geriet! Oder sie an ihn? Schon in Tübingen war er regelmäßig in Begleitung von wunderschönen Perserinnen, Afghaninnen, Inderinnen erschienen. Und nun diese Ägypterin!

    »Deine Doktorarbeit über das Konzept des Urlaubs vom Leben in Musils Mann ohne Eigenschaften muss ja in der Fachwelt regelrecht eingeschlagen haben. Knut hat den ganzen Nachmittag davon geschwärmt. Aber seitdem hast du nichts Wissenschaftliches mehr geschrieben. Auch das hat mir Knut erzählt. Obwohl …«

    »Reden wir doch nicht über mich, reden wir lieber über Ägypten«, versuchte German das Gespräch in seine Bahnen zu lenken, und Knut stieg sofort darauf ein.

    »Ja, Ägypten. Ich sagte dir ja schon: Man sucht einen Literaturwissenschaftler für einen Posten an der Kairo Universität. Es geht nicht bloß darum, Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten, es geht auch um Literatur, das kommt dir doch entgegen! Und Kairo ist eine ganz besondere Stadt. Ich musste das erst neulich wieder denken, als ich dort zu einem Vortrag war. Rania kann das sicher bestätigen. Sie ist da geboren.«

    »Ja, aber studiert habe ich in Deutschland. Meine Eltern leben schon seit Jahren in Berlin.«

    Also in Berlin hat er sie kennengelernt, musste German sofort denken. Hier in Stuttgart begegnete man solchen Schönheiten nicht. Oder sie verirrten sich nicht in die Gegend, in der er seiner Existenz nachging. Ja, das war das richtige Wort, er ging seiner Existenz nach, anstatt ihr voranzugehen. Er ging sich selbst nach, wie eine alte Uhr, anstatt sich federnd vorauszueilen. Vielleicht bedurfte es tatsächlich einer radikalen Umstellung in seinem Leben, angestoßen von einer Expertin für Wortstellung, die zudem nicht nur von links nach rechts, sondern auch von rechts nach links schreiben konnte.

    »Kairo ist eine Welt für sich«, erklärte Rania, »manche sagen sogar, Kairo sei die ganze Welt. Da musst du gar nicht mehr heraus, du hast dort alles sozusagen vor der Haustür.«

    Das klang für German wiederum ganz vertraut. Alles vor der Haustür haben, das war doch sein Ideal! Dann konnte er also ruhig nach Kairo gehen.

    »Denk dir nur: Die Ägypter benutzen für Kairo und für Ägypten dasselbe Wort«, warf Knut ein, der sich offenbar auch schon in diese Stadt eingearbeitet hatte, »wenn jemand sagt, er komme aus Misr, dann weißt du nie, ob er aus Kairo kommt oder aus einer anderen Stadt in Ägypten. Doch was reden wir hier? Du wirst noch Zeit genug haben, dich mit Kairo zu beschäftigen. Jetzt geht es ums Praktische!«

    Und Knut zählte die Formulare auf, die German sofort ausfüllen müsse. In zwei Wochen schon würde es eine Auswahlsitzung in Bonn geben. Der derzeitige Deutschdozent an der Kairo Universität habe eine feste Stelle in Deutschland gefunden und sei auf dem Absprung. Deshalb habe man ihn, Knut, ja auch so kurzfristig angesprochen, ob er nicht einen geeigneten Kandidaten kenne. Ob German aber für so etwas wirklich geeignet war? Und während Knut weiter vor sich hin sprach, ließ German seinen Blick zu Ranias Augen gleiten, die mit dicken Make-up-Strichen kohlschwarz umrandet waren und aus einer tiefen Finsternis heraus blinkten und blitzten. Nein, das waren keine Augen, das waren Augensterne, Karfunkel!

    »Konzentrier dich doch mal!«, rief Knut, dem Germans Blick nicht entgangen war. »Was jetzt kommt, ist ganz wichtig, denn ohne diese Lektion kommst du in tausend Jahren nicht nach Ägypten. Mach dir immer von Neuem klar: Du bewirbst dich bei einem Monopol! Das heißt: Dort sitzt die Macht! Klar, es gibt noch andere Institutionen, die Leute ins Ausland verfrachten, darunter auch noch viel feinere Clubs! Die fliegen in den dicken Fauteuils der Senator Class, während du auf den harten Stühlen der Holzklasse Platz nehmen musst. Und trotzdem: Die Leute vom Monopol haben das alleinige Sagen, wenn es darum geht, Deutschdozenten ins Ausland zu schicken.«

    »Aber es gibt doch auch noch das Goethe-Institut«, warf Rania ein.

    »Gewiss, meine schöne Isis, aber German liebt doch die Literatur! Wenn man ihn mit Goethe, das heißt, mit diesem Institut, also für Germans Begriffe gewissermaßen ohne Goethe ins Ausland schickt, geht er ein wie ein Ginkgo in der Sandwüste. German muss wenigstens ab und zu über Dichtung reden dürfen, um nicht verrückt zu werden.«

    German fühlte sich von Knut verstanden und dennoch, zumindest in Gegenwart dieser Nachfahrin Nofretetes, zugleich auch belächelt. Er fühlte sich fast schon wie ein Fall, kein schwerer, aber doch ein komplizierter, dem nur mit ganz bestimmten, ausgewählten Heilmitteln beizukommen war.

    »Stell dir vor, Rania, wie das Goethe-Institut neuerdings im Ausland für die deutsche Sprache wirbt: mit dem Englischen! Man solle Deutsch lernen, weil man vom Deutschen aus die Weltsprache Englisch besser erlernen könne: Hand – hand, Haus – house, Glocke – clock, Brille – brill. Na ja, es funktioniert nicht immer! Aber German würde davonlaufen, wenn er mit so etwas sein täglich Brot verdienen müsste. Nein, German, dein Weg nach Kairo führt über Bonn. Dort sitzt für dich die Mutter aller Institutionen. Viele nennen sie deshalb auch Mum, weiß der Kuckuck, warum sich diese englische Bezeichnung eingebürgert hat.«

    Inzwischen war German der schwäbische Trollinger doch etwas zu Kopf gestiegen, und da Rania im Begriff war, mit Knut in einen verschilften Nebenarm ihres Gesprächs einzufahren und die beiden glucksend miteinander weiterpaddelten, malte German sich aus, wie er im Intercity zu Mum nach Bonn fahren würde, um sich dort vom Monopol in die ägyptische Metropole entsenden zu lassen. Was für eine Schnapsidee! Hatte er hier nicht alles, was er brauchte? Seine Deutschkurse an der Fremdsprachenschule, seine Literaturkurse an der Stuttgarter Volkshochschule. Seine Bibliotheken, die er abwechselnd besuchte wie eifersüchtige Geliebte. Seinen Supermarkt um die Ecke. Seine kleine Wohnung. Seine Eltern. Und während er noch darüber nachdachte, ob auch seine Stuttgarter Freunde ein Hinderungsgrund für sein möglicherweise unmittelbar bevorstehendes Kairo-Abenteuer sein könnten, hörte er es im Schilf rascheln und sah zwei helle Augensterne aus dem lieblichen Flor des dunkelgrünen Nilgrases hervorlugen. Isis Rania war zurück und eilte ihm nun gemeinsam mit Knut als Osiris gen Ägypten voran.

    »Melde dich auf jeden Fall bei mir per Mail, wenn du deine Unterlagen nach Bonn geschickt hast. Ich werde meine Kontakte spielen lassen.«

    Mit diesen Worten verabschiedete sich Knut, bevor er eng umschlungen mit Rania davonschwebte.

    German spürte das Nilwasser von Ranias Lippen noch auf seiner rechten Wange und segelte nun selbst schwankend nach Hause, wie eine Feluke, die gegen den Wind kreuzt. Es war aber nicht der warme Wind des Nils, der ihn leise streichelte, sondern der Winterwind, der ihm unter dem Kältemond das Gesicht peitschte.

    In der Nacht wurde er von unruhigen Träumen hin und her geworfen. Er sah sich allein auf einer unendlichen Rolltreppe in die Tiefe fahren, keine Menschenseele weit und breit. Die Wände der U-Bahn-Haltestelle waren aber nicht weiß gekachelt, sondern mit eigentümlichen Malereien überzogen: Gestalten mit Tierköpfen, Affen, Kobras, Falken, Reiher, hin und wieder ein überdimensionaler Mistkäfer, ein dickes Tau, das sich einmal als Schlange, dann wieder als Fluss entpuppte. Auf diesem sah man halbmondförmige Boote mit merkwürdiger Fracht dahingleiten: ein Krug, ein Schakal, ein dicker Kasten oder ein riesiges Gesicht wurden da transportiert. Die Boote schienen nicht aus eigener Kraft fahren zu können, sie wurden von einer ganzen Armee von Helfern abwärts in die Tiefe gezogen. Das bestirnte Himmelsband verwandelte sich schließlich in das Gewand einer Frau, deren schlanke Arme kraftlos in die Tiefe hingen. Das Gesicht dieser Frau schien den Mond zu küssen, oder die Sonne, das war nicht klar zu erkennen. Der Schacht mündete in ein enges Gewölbe, das mit kräftigem Weinlaub und dicken Trauben über und über bemalt war. Dort saß in der Mitte auf einem kleinen Hocker, mit einem langen, orientalisch anmutenden Morgenmantel bekleidet, Mum und schlief.

    Mit einem pelzigen Gefühl auf der Zunge erwachte German am nächsten Morgen, schwach und matt, zugleich aber fest entschlossen, seinen Ägyptentraum mit dem Eintritt in die Tagwelt nicht enden zu lassen. Nach einem spärlichen Frühstück, an das er sich über die Jahre gewöhnt hatte, Müsli mit Joghurt und eine Tasse Tee, nahm er sich die Formulare vor, die Knut ihm zugemailt hatte. Was Mum, die vielleicht immer noch im Traubenkeller schlief, alles von ihm wissen wollte! Ausbildungsgang, akademische Abschlüsse, praktische Erfahrungen. Das Akademische zählte, so schien es, nicht als Praxis, sondern bloß als graue Theorie. Immerhin konnte er anhand seiner diversen Sprachkurse praktische Erfahrungen im Unterrichten des Deutschen als Fremdsprache nachweisen. Und Nachweise waren wichtig. Ohne Nachweise vorweisen zu können, ging heutzutage nichts mehr. Zutrauen ist gut, Nachweisen ist besser. Und dann noch die Auslandserfahrungen! Gott sei Dank hatte er in Cambridge welche gesammelt. Ohne eine solche Sammlung hatte man bei Mum sicher gar keine Chance.

    Ein Passbild brauchte er noch! Das letzte Mal hatte er sich vor etlichen Jahren fotografieren lassen, als er einen neuen Personalausweis beantragen musste. Nun machte er sich wieder auf zum Stuttgarter Hauptbahnhof und zu demselben Fotoautomaten, der ihm damals diesen Schnappschuss für seinen Ausweis beschert hatte, auf dem er bis zur Kenntlichkeit entstellt war. Wie er selbst, so hatte sich inzwischen auch der Fotoautomat verändert. Im Gegensatz zu German war jener deutlich schicker geworden, und obendrein konnte er jetzt sprechen, oder besser gesagt, sie konnte sprechen, denn es war eine Frauenstimme, die ihn den verschlungenen Pfad zu einem gelungenen Passfoto erfolgreich entlanglotste. Unfair fand er, dass ihm selbst die Entscheidung darüber aufgenötigt wurde, welche der verschiedenen Versionen des Fotos verwendet werden sollte. Wie einfach war das doch früher gewesen: Man setzte sich hin, es blitzte, und fertig war das Mondgesicht! Und hinterher konnte man sich noch über die Technik aufregen. Nun aber wurde man persönlich zum Richter über seine eigene Visage eingesetzt. Natürlich war German mit keiner der Versionen zufrieden, und nach elf oder zwölf misslungenen Versuchen nahm er entnervt einfach irgendeins.

    Zu Hause prüfte er noch einmal die Vollständigkeit aller Unterlagen, die ihm angesichts seines, aus Bonner Sicht möglicherweise fortgeschrittenen, Alters doch etwas schmal vorkamen, und brachte sie schließlich zur Post. Er kam sich vor wie einer seiner literarischen Lieblingshelden, der, wenn er sich recht erinnerte, zufällig gerade in seinem Alter war. Allerdings war sein Held der Ansicht, es sei unanständig, trivial, ja unsittlich, länger als vierzig Jahre zu leben. Nun denn, dann würde eben mit Ägypten sein Leben im Nach- und Unterweltlichen, im Unter- und Abgründigen beginnen, auch wenn er lediglich auf der Landkarte in die Tiefe fuhr.

    Aber warum gerade Ägypten? Warum die wohlige Sicherheit der Neckarstadt aufgeben für das möglicherweise ausufernde Leben in der Nilmetropole? Warum auf seine alten Tage Reißaus nehmen und womöglich gänzlich abgerissen heimkehren? Das waren Fragen, die ihm gestellt werden würden, auch wenn sie sich ihm selbst nicht in der Weise stellten. Er hielt es da eher mit der Figur Dostojewskijs, die nicht dem berechnenden Denken, sondern einer anderen Lebensmathematik folgte. In der linearen Reihe unseres Lebensweges, so sein dostojewskijsches Alter Ego, gebe es eben doch auch einmal den Fall, in dem sich der Mensch absichtlich und wissentlich etwas Dummes wünsche, und zwar nur, um das Recht zu haben, sich sogar das Allerdümmste wünschen zu können und nicht gebunden zu sein durch irgendwelche Pflichten. Aber woher wusste er, dass dieser Fall gerade jetzt eingetreten war?

    Es hatte offenbar alles irgendwie mit Knut zu tun, nur war ihm noch nicht klar, wie und auf welche Weise. Nach seiner Rückkehr von der Post setzte er noch eine lakonische Mail an ihn ab: »Die ägyptische Lunte glimmt. Nun heißt es warten.«

    2. Kapitel: Germanist und Fuhrunternehmer

    German kam allerdings gar nicht erst dazu, richtig mit dem Warten anzufangen, denn schon nach wenigen Tagen fand er einen Brief aus Bonn in seinem Briefkasten. Es war eine Einladung zu einem Auswahlgespräch, genauer gesagt, zu einem Auswahlverfahren, das sich aus mehreren Prüfungen zusammensetzte. German war es nicht mehr gewohnt, geprüft zu werden, wenn man einmal von den Prüfungen absah, die das alltägliche Leben für ihn immerzu bereit hielt. Die letzte Prüfung im eigentlichen Sinne war für ihn die mündliche Doktorprüfung gewesen, in der es aber eher darum gegangen war, die Eitelkeitsfelsen der prüfenden Professoren vorsichtig zu umschiffen, als sein eigenes Wissen unter Beweis zu stellen. Möglicherweise war diese Prüfung auch ein Hinweis darauf gewesen, dass es fortan nicht mehr darauf ankam, etwas zu beherrschen, sondern vielmehr darauf, sich beherrschen zu lassen, oder vielleicht auch darauf, sich zu beherrschen angesichts diverser unerfreulicher Begleiterscheinungen und der Sache wenig dienlicher Zumutungen. Aber was war denn die Sache? Genau das war eben die Frage!

    Die Prüfung, die in Bonn auf ihn wartete, hatte außerdem einen englischen Namen: Assessment-Center, und German musste erst einmal im Lexikon nachschlagen. Immerhin war das Assessment-Center, wie er staunend las, trotz des englischen Namens eine deutsche Erfindung, und zwar für solche Leute, die Offiziere werden wollten. Es ging also offenbar darum, die Fähigkeit zum Gehorsam zu prüfen, denn das war ja das erklärte Ziel des Militärs. Wahrscheinlich befleißigte man sich in der zivilen Sphäre einer anderen Sprachregelung und redete heutzutage nicht von Insubordination, sondern von mangelnder Teamfähigkeit, nicht von Ungehorsam, sondern von Kooperationsproblemen. Wie dem auch sei: German freute sich auf das Assessment-Center, weil sich der letzte Programmpunkt des Auswahlverfahrens doch immerhin auch auf die eigentliche Tätigkeit als Deutsch- und Literaturdozent an der Kairo Universität bezog.

    Über Rania, deren Telefonnummer er von Knut erhalten hatte, holte er Erkundigungen hinsichtlich der Deutschabteilung an der Kairo Universität ein. Diese Abteilung, hauchte die schöne Ägypterin ins Telefon, sei eine Ausnahmeabteilung in der gesamten ägyptischen Universitätslandschaft, weil dort nur Studierende zugelassen würden, die das Deutsche perfekt beherrschten. Alle Studentinnen, denn es seien hauptsächlich Mädchen, die von deutschen Schulen kämen, könnten bereits hervorragend Deutsch. Sprachunterricht sei also gar nicht mehr nötig, German könne gleich mit der Literatur loslegen. Die Kehrseite sei zwar, dass die Leute dort nicht gut Arabisch sprächen, aber das brauche German ja nicht zu interessieren.

    Für German war das rätselhaft: Wie konnte jemand, der in Ägypten lebte, nicht richtig Arabisch sprechen? Das war doch gar nicht möglich! Aber er wagte es nicht, den sanften Fluss von Ranias Stimme zu unterbrechen, zumal sie ihn aufs Wohligste auf sein möglicherweise unmittelbar bevorstehendes Ägypten-Abenteuer einstimmte. Jedenfalls war er sich sicher, dass ihm der Unterricht an der Kairo Universität liegen würde: wenig Sprachkurse, die ihm in Stuttgart doch mitunter recht mühevoll vorkamen, dafür viel Literatur. Obendrein wäre er umschwärmt von jungen Frauen, die ihn gewiss anhimmeln würden, denn in Ägypten ehrte man das Alter noch. Er fühlte sich schon wie ein müder Greis, der an der Pforte zum muslimischen Himmel von einer anmutigen Gruppe von Paradiesjungfrauen bewillkommnet wird, die ihm Weintrauben und alkoholfreie Getränke darreichen.

    Nachdem sich German auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof seine Zugfahrkarte gekauft und dabei über eine halbe Stunde hatte anstehen müssen – beim Fotoautomaten neulich war er wenigstens gleich drangekommen –, beschäftigte er sich zu Hause mit einer ganz anderen Frage: der Frage nach der richtigen Zuglektüre. Wenn er ins Zentrum der Macht fuhr, wie Knut ihm vor wenigen Tagen per Mail noch einmal eingeschärft hatte, dann musste er sich doch auf diese Macht entsprechend vorbereiten: Nietzsches Wille zur Macht fiel ihm gleich ein, aber auch verschiedene Buchtitel von Hannah Arendt oder Michel Foucault. Oder Canettis Masse und Macht? Vielleicht sollte er doch lieber den Ägypten-Reiseführer mit dem malmenden Kamel, den er sich kürzlich gekauft hatte, mitnehmen. Das würde ihn möglicherweise besser auf das einstimmen, was ihn in Bonn erwartete. Oder doch eher eine deutsche Grammatik, um sich auf linguistische Fangfragen vorzubereiten? Am besten wäre es sicherlich, wenn die bevorstehende Rhein-Reise Rhein-Gedichte begleiten würden: Hölderlin, Heine, George.

    So vergingen die wenigen Tage bis zum Assessment-Day, und German bestieg zu nachtschlafender Zeit den Intercity von Stuttgart nach Bonn mit Canettis Masse und Macht im Gepäck. Er hatte sich außerdem, sozusagen als Nachtisch, vom selben Autor Die Stimmen von Marrakesch eingepackt. Ausschlaggebend dafür war aber nicht die Macht gewesen, die ihn in Gestalt der fülligen Mum in Bonn erwartete, sondern ein Erlebnis. Während seiner Zeit als Promovend hatte er sich einmal in einem Café gegenüber dem Stuttgarter Hauptbahnhof mit Knut getroffen, der wieder einmal auf der Durchreise war, und da war doch tatsächlich, ein paar Tische weiter, Elias Canetti gesessen, zunächst in die Lektüre einer Zeitung vertieft, dann mit einem leeren Blick ins Weite schauend, dabei ab und zu seinen Schnurrbart glatt streichend. Diese Geste hatte für German damals, als er dokternd mit Ulrichs Urlaub vom Leben zu kämpfen hatte, etwas unglaublich Beruhigendes gehabt, und vielleicht hatte gerade diese Geste den Ausschlag für die Auswahl seiner Reiselektüre gegeben. Aber würde er in diesem Zug überhaupt lesen können? Da saßen doch lauter Berufstäter, die wahrscheinlich an jedem Tag so früh ihren Platz in ihrem Intercity einnahmen. Morgenpendler mit weißen Hemden, unpassenden Krawatten und aufdringlichen Rasierwassern. Würde er in dieser Gesellschaft überhaupt lesen können?

    Doch bald waren die gesichtslosen Köpfe dieser Zugmasse vergessen, ihre Parfüms verrochen, und German konnte sich, während es draußen zusehends aufhellte, ungestört seiner Lektüre widmen. Doch je heller der Tag wurde, desto mehr verdun­kelten sich seine Leseaussichten, denn es klingelten, zunächst vereinzelt, dann immer häufiger, im ganzen Großraumabteil Mobiltelefone oder, besser gesagt, sie schütteten ihren Melodienreichtum über den Mitreisenden aus. Auf diese surrenden, piepsenden oder trompetenden Klänge hin erhoben sich dann kräftige Männerstimmen, die Geschäftliches und Intimes mit gleichbleibender Lautstärke in die Mitwelt hinausposaunten. German war gerade beim Kapitel über die Hetzmasse angekommen. Das war nun eine Hetzmasse, die Canetti noch nicht hatte beschreiben, ja, noch nicht einmal hatte erahnen können. Der stille und zurückhaltende Fahrgast wurde zum Außenseiter und Ausgestoßenen, akustisch zu Tode gehetzt, und das auch noch stationär, von einer Hetzmasse, die sich gleichfalls nicht bewegte.

    Endlich waren sie ins Rheintal eingefahren, und German ertränkte seinen Unmut am Loreleyfelsen mit romantischen Bildern von Rebenhängen, Schlossansichten und Burgenbildern, die an seinem inneren und äußeren Auge vorbeirauschten. Bald fuhr der Intercity, der merkwürdigerweise keine Verspätung hatte, in den Bonner Hauptbahnhof ein, und schon wenig später betrat German Mums Reich, das allerdings zu Knuts Warnungen vor Mums Macht und ihrem Monopol optisch so gar nicht passen wollte. Zwar ähnelte das Gebäude einer Kaserne, aus deren Fenstern heraus Rekruten von künftigen Welteroberungen träumen mochten, doch German hatte eher mit einem herrschaftlichen Generalstabsgebäude gerechnet, aus dem die Kompanie der frisch ernannten Deutschoffiziere, angeführt von Mum als Mutter der Kompanie und unter den gestrengen Augen des Generalobersten, ausrückte und in Richtung ihres bevorstehenden Einsatzortes im nach deutschem Wesen kulturell zu kolonisierenden Ausland in die Welt hinausmarschierte.

    Nach einer kurzen Begrüßung durch einige von Mums Adjutanten, deren Namen er gleich wieder vergessen hatte, wurde das Fähnlein der wenigen Bewerber in einen Computer-Raum geführt, in dem auf den Monitoren ein Self-Assessment-Pro­gramme bereits darauf wartete, von ihnen in Bearbeitung genommen zu werden. German sollte seine Fähigkeiten als Fuhrunternehmer unter Beweis stellen. Er wusste zwar, dass in Kairo viele Busse herumfuhren, aber was diese Aufgabe mit seiner Kompetenz als Deutschlehrer zu tun haben sollte, war ihm schleierhaft. Doch hielt er sich an Knuts Rat, keine überflüssigen Fragen zu stellen. Die entscheidenden Fragen würden schon an ihn selbst gestellt werden, wenn die Zeit dafür gekommen war. Leider spielte das Busspektakel in einer deutschen Kleinstadt und nicht in Kairo, was German sehr enttäuschte. Durch den Einsatz virtueller Kontrolleure war es German zwar gelungen, die Zahl der Schwarzfahrer zu reduzieren, aber das galt doch nur für Deutschland. In Kairo waren die Busse, zumindest in seiner Vorstellung, so voll, dass für Kontrolleure mit Sicherheit kein Durchkommen war. Und was sollten die Kontrolleure mit denjenigen Fahrgästen machen, die außen am Bus hingen und in Ermangelung eines Trittbretts nicht einmal Trittbrettfahrer genannt werden konnten? German war froh, von dieser und ähnlichen Fragen bald erlöst zu sein, denn nach Beendigung seiner imaginären betriebswirtschaftlichen Aufgabe führte man ihn weiter in ein Büro zu einem sogenannten Rollenspiel.

    Rollenspiele kannte er noch aus den pädagogischen Veranstaltungen des Grundstudiums, oder aus dem Kindergarten, er wusste nicht mehr genau woher. Dass er aber nun im vorgerückten Alter noch einmal spielen sollte, zudem mit Erwachsenen, wollte ihm nicht in den Kopf, aber er ließ auch diese Prüfung gehorsam über sich ergehen. Er sollte mit einer Deutschdozentin aus einem erfundenen Staat irgendwo in Afrika die Gründe dafür erörtern, warum die Studierenden seinen Lehrveranstaltungen fernblieben. German war das im wirklichen Leben nie passiert: Die erwachsenen Schüler kamen gerne zu seinen Deutschkursen, und auch die Teilnehmer an den Literaturkursen in der Volkshochschule waren immer vollzählig anwesend, selbst wenn es sich nur um ein kleines Häuflein handelte. Leider ließ die ausländische Deutschdozentin, die von einer von Mums Ordonanzen gespielt wurde, auch keinerlei exotische Atmosphäre aufkommen. German hatte ein wenig Mitleid mit ihr: den ganzen Tag in deutscher Manier Anträge bearbeiten, telefonieren, Mails schreiben, Briefe diktieren, und nun plötzlich eine Afrikanerin sein müssen. Das konnte ja gar nicht gut gehen! Irgendwann wurde es German zu bunt, und er wandte sich an die an zwei Schreibtischen sitzenden und eifrig mitprotokollierenden Psychologinnen: »Wieso kann ich die afrikanischen Studierenden nicht einfach fragen, warum sie nicht in meinen Kurs kommen?« Diese Frage war offenbar nicht vorgesehen, und ihm wurde mit stummen Mienen bedeutet, einfach weiterzuspielen. Jetzt stand er also als Spielverderber da, weil er aus der Rolle gefallen war.

    Es folgten noch zwei weitere, wiederum als Rollenspiele inszenierte, interkulturelle Renkontres mit deutschen Schreibtischtäterinnen: Die eine verkörperte eine Gesprächspartnerin, die einen nie zu Wort kommen lässt, die andere ein Gegenüber, das eisern schweigt. German sollte nun wohl unter Beweis stellen, dass er durchaus in der Lage sei, die eine zum Schweigen zu bringen oder ihr zumindest ins Wort zu fallen, die andere hingegen zum Sprechen zu bringen oder ihr zumindest ein Wörtlein zu entlocken. German gehörte aber nun einmal zu denen, die nicht um der Kommunikation willen kommunizieren, und überhaupt kam ihm das ganze Gespiele derart abgekartet vor, dass er die vor sich hinsprudelnde Dame einfach reden ließ, bis irgendwann ihr Sprechquell versiegte, während er die vor sich hinschweigende Lady derart in Ruhe ließ, dass diese sich endlich verpflichtet sah, ihr vornehmes Schweigen zu brechen. Den beiden nun freilich nicht mehr eifrig protokollierenden Psychologinnen gefiel das gar nicht.

    Die vorletzte Übung bestand in einer Gruppenarbeit. German sollte zusammen mit zwei anderen Bewerberinnen, die beide aufgrund der Strapazen des Assessment-Day schon recht bleich und mürbe waren, einen Germanistikkongress organisieren, und zwar wieder in demselben erfundenen afrikanischen Staat, dessen imaginäre Angehörige ihn heute schon mehrfach behelligt hatten. Es waren zwei nette und strebsame Mitbewerberinnen, die sofort das Heft in die Hand nahmen und es German erlaubten, sich zurückzulehnen und ab und zu ein paar wohlwollende Bemerkungen einzustreuen. Das Thema des Kongresses spielte bei der Übung keine Rolle, dafür waren eher solche Fragen von Bedeutung, ob man Wein servieren solle und wie groß die Halle zu sein hätte, in der der Kongress stattfinden würde. Seine beiden Mitstreiterinnen hätten gute Hostessen abgegeben, Hostessen mit dem Drang nach Höherem, denn zumindest eine von ihnen wollte unbedingt, dass Mums Generaloberster bei der Eröffnung des Kongresses anwesend sein solle. Das sei absolut notwendig, um der Veranstaltung Glanz zu verleihen, zumal der Präsident von Birkuna, oder Ingalu, oder wie immer der imaginäre Staat auch heißen mochte, ebenfalls an der feierlichen Eröffnungsveranstaltung teilnehme. German raffte sich schließlich auch noch zu ein paar Vorschlägen auf, die allerdings das Thema des Kongresses betrafen. Man solle doch daran denken, auch afrikanische Schriftsteller, die in Deutschland leben, nach Simulia einzuladen, das gebe doch sicher Gesprächsstoff. Allerdings stieß er damit bei den beiden gewandten und um einiges jüngeren Damen auf wenig Gegenliebe: Man solle in Afrika doch lieber die deutsche Kultur fördern, außerdem hätten Goethe-Institut und Auswärtiges Amt schon reichlich deutsche Schriftsteller reisefertig parat, da genüge eine kurze Anfrage.

    Als German schließlich an diesem inzwischen sich dem Ende zuneigenden Tag vor einer weiteren Tür saß und auf den Einlass zur letzten Prüfung wartete, schien es ihm, als sei Kairo in weite Ferne gerückt. Nicht, dass ihn der Kairo-Gedanke losgelassen hätte! Aber ob er unter diesen Bedingungen und unter dieser Flagge dort unterrichten wollte, das war für ihn doch inzwischen recht fraglich geworden. In Mums Kaserne lag kein bisschen Wüstensand, die helle Sonne war hier hinter dicken Jalousien verborgen, Mums Adjutanten waren zwar alle recht freundlich, aber es war diese rheinisch-berufsmäßige Freundlichkeit, die immer wieder einen Karneval brauchte, um sich von sich selbst zu befreien. Hatten diese Leute denn eine Ahnung von Ägypten? Zugegeben: Er hatte auch keine! Aber hatte sich denn auch nur ein einziger von Mums Untergebenen als ägyptenerfahren geoutet? Und wo war der Alibi-Ägypter, der dem Auswahlverfahren beiwohnte? Das war wohl zu viel verlangt, wo es Mum doch nicht einmal gelungen war, einen Vertreter aus Simulia nach Bonn zu locken.

    Endlich ging die Tür auf, und German wurde zur letzten der Prüfungen hereingebeten. Ein langer, schlaksiger, ziemlich arrogant wirkender Herr führte ihn zu seinem Tisch frontal vor dem Auswahlgremium und nahm dann selbst seitlich und ein wenig schmollend Platz. Wahrscheinlich war es unter seiner Würde gewesen, den Prüfling hereinzuführen, vielleicht störte ihn auch die Vorstellung, dass das Hereinführen die Tatsache seiner Rangniedrigkeit unabweislich zur Schau stellte. German gegenüber saßen nun vier zum Teil recht jugendlich wirkende Gestalten: zwei Damen und zwei Herren, vor sich jeweils ein Namensschild. Einer der Namen kam ihm sofort bekannt vor: So hatte ein Tübinger Studienkollege von ihm geheißen, der in den von German besonders geliebten Lyrik-Seminaren bei dem alten, weißhaarigen Professor immer durch unpassende Bemerkungen und seine unerträgliche Profilierungssucht aufgefallen war. Und jetzt schälte sich aus seiner Erinnerung auch die entsprechende Gestalt zu dem Namen heraus und brachte sich in wenig anheimelnder Weise zur Deckung mit der Person, die ihm da gegenübersaß. Ja, das war Paul Junghans, der nun außer sich selbst auch noch TestDaF vertrat. So stand es jedenfalls auf seinem Namensschild. German wusste nicht, was TestDaF war, jedenfalls nahm er an, dass es nichts mit Poesie zu tun hatte, und er war erleichtert. Wenigstens hatte man Paul Junghans mit dem Körper eines Kugelstoßers in seinem Berufsleben nicht auf solch zerbrechliche und fragile Bereiche wie die Dichtung losgelassen! Dann saß da noch eine runzelige, aber auf jung getrimmte Professorin – Paul war hingegen bislang nur Doktor –, deren schreiend roter Lippenstift Germans ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Sie wirkte wie ein roter Porsche oder ein Ferrari unter lauter grauen Mittelklassewagen. Sie vertrat die Didaktik und hatte auch ein gleichsam didaktisches Lächeln aufgesetzt, dem man aber besser nicht über den Weg traute. Dann war da noch eine fahrig und nervös wirkende promovierte Linguistin, wahrscheinlich eine Pragmatikerin, und schließlich ein soignierter älterer Professor mit weißem Schnurrbart, der German sofort an Elias Canetti erinnerte und unmittelbar eine wohltuende und beruhigende Wirkung auf ihn entfaltete.

    »Sie wollen also nach Ägypten. Na dann sagen Sie mal, was Sie nach Kairo zieht!« Mit diesen Worten hatte der gutmütige Professor das Gespräch eröffnet, und German fühlte sich sofort in seinem Element. Er war nun wieder in guter Stimmung: Man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiet. Denn es war ja die Literatur, die ihn, einmal abgesehen von den hübschen Ägypterinnen, seinem urplötzlich ausgebrochenen, unerklärlichen Fernweh und seiner etwas verqueren Lebensmathematik, nach Kairo lockte.

    Und er antwortete mit einem Rilke-Zitat: »Kairo bringt dreifach Welt über einen: da ist eine weite, rücksichtslos ausgebreitete Großstadt, da ist das ganze, bis zur Trübe dichte arabische Leben und dahinter stehen immerfort, abhaltend und mahnend, diese unerbittlich großen Dinge Ägyptens.« Diese Mischung sei es, die ihn nach Kairo zöge. Und außerdem sei da noch die Literatur. Die deutsche Literatur, für die er sich dort unten ein offenes Ohr erhoffe, und die arabische Literatur, der er dort unten begegnen wolle. Er sagte immer dort unten, als handle es sich um ein Kellerloch, obwohl er sich doch von dort unten, wo es nilaufwärts und zur Sahara hinanging, Licht, Helle, Wärme, Tag versprach.

    Der Professor war von Germans Antwort sichtlich angetan, während sie bei den anderen Mitgliedern der Kommission eher irritierte Reaktionen hervorrief. Die Pragmatikerin hüstelte nervös, die Didaktikerin, nun hatte er auch ihren Namen gelesen, sie hieß Altwasser, schaute ungläubig drein, und Altkommilitone Paul kramte gelangweilt in seinen Papieren. German sprach nun noch ein bisschen über Goethe, der in Heidelberg zwei Wochen lang Arabischunterricht genommen hatte, über Rückert, der den Koran ins Deutsche übertragen hatte, über den Fürsten von Pückler-Muskau, der Ägypten besucht hatte wie viele Jahrzehnte nach ihm auch Ingeborg Bachmann.

    Nun kam die Reihe an Frau Professor Altwasser, die German zwar bescheinigte, dass dies alles ja recht interessant sei, aber es käme doch vor allem auf die Vermittlung an. Es mache ja keinen Sinn, wenn das viele Wissen, über das er verfüge, lediglich über die Köpfe der ägyptischen Studierenden hinwegrausche. Das Was sei zwar wichtig, aber das Wie sei doch das Allerwichtigste.

    So hatten sich die Zeiten also geändert, dachte German. Früher, als er noch studierte, hatte man die Didaktiker eher belächelt und geduldet. Es muss auch jemanden geben, der sich mit so etwas beschäftigt, hatte man gesagt, aber man war zugleich froh, dass man selbst nicht davon betroffen war. Und nun saß ihm da jemand gegenüber, der den Blick auf die Sache durch didaktisches Panzerglas brechen wollte. Er fühlte sich an seine zahlreichen Besuche in der Stuttgarter Wilhelma erinnert: Wenn er aus dem hellen Tageslicht an den malmenden Kamelen vorbei ins Dunkel der Aquarienwelt trat und auf die vielen farbigen Fischlein aus dem Roten und anderen Meeren blickte, sah er diese nie so, wie sie wirklich waren, sondern er sah sie immerzu nur eigentümlich verzerrt, sodass ihm fast übel wurde und er an seiner eigenen Sehfähigkeit zu zweifeln begann. Schuld daran war das didaktische Panzerglas.

    »Die Sache selbst ist das Allerwichtigste, und wie man sie darstellt oder, neudeutsch gesagt, präsentiert, ergibt sich eben wiederum aus der Sache selbst«, gab German zur Antwort. Von daher sehe er, was ihn anbetreffe, keine Schwierigkeiten bei der Vermittlung des Lernstoffs. Ja, er hatte tatsächlich Lernstoff gesagt. Aber das war ein Zugeständnis an die Aquariumsbetreiberin Altwasser gewesen. Wie konnte Literatur jemals Lernstoff sein?

    »Nun, wenn das so ist«, antwortete die eingeschnappt wirkende Didaktikerin schnippisch, »dann habe ich keine weiteren Fragen an Sie«. Das war äußerst knapp gewesen. Außerdem war das didaktische Lächeln aus ihrem Gesicht geschwunden und hatte einem überlegenen Grinsen Platz gemacht, das die eigene Konfliktscheu in Süffisanz ertränkte.

    German sah schnell ein, dass er wieder einmal den Fehler begangen hatte, seine Überzeugung ungefiltert von sich zu geben, noch dazu einer Dame gegenüber, und obendrein auch noch einer ihm gewissermaßen vorgesetzten. Er bemühte sich deshalb, die folgenden Fragen der Sprachwissenschaftlerin pflichtschuldig und ohne Widerrede zu beantworten, durchaus zu ihrer Zufriedenheit und sehr zur Erleichterung des älteren Professors und Statthalters Canettis in Bonn, der ihm auf den weiteren Etappen dieses Auswahlgesprächs mit Blicken und Gesten half, die Klippen zu umschiffen und die Hürden zu nehmen.

    Es durfte freilich nicht fehlen, dass sich Altkommilitone Paul, der sich offensichtlich nicht mehr an ihn erinnerte, wortreich über sein eigenes Arbeitsgebiet namens TestDaF verbreitete. German wusste noch immer nicht, was das war, aber er sicherte Paul zu, in Ägypten im Sinne von TestDaF zu wirken, nicht nur in Kairo, sondern auch in den anderen Universitätsstädten des Nillandes. »Natürlich«, so schloss Paul seine TestDaF-Selbstdarstellung, »ist die Literaturvermittlung im Ausland inzwischen hochproblematisch geworden. Kein Literaturunterricht ohne Sprachkenntnisse. Keine Sprachkenntnisse ohne TestDaF. Und die Sprachkenntnisse sind eben oft, die Spatzen pfeifen es ja von den Dächern, einfach nicht vorhanden. Zumindest nach meinen Erfahrungen. Die Kairo Universität bildet da vielleicht eine Ausnahme, wohlgemerkt: bis zum Beweis des Gegenteils.«

    Damit schloss Paul das Plädoyer für sein Arbeitsgebiet und zuvörderst für sich selbst und gab nun, last but not least, das Wort weiter an den langen, schlaksigen Herrn, der German vor dieses merkwürdige Tribunal geführt hatte. Dr. Berger, so hieß Mums Offizier, ob echter Offizier oder bloß Unteroffizier, war German noch nicht hinreichend deutlich, Dr. Berger also machte sofort klar, dass er für German zuständig sei, wenn man sich darauf verstehen wolle, ihn nach Kairo zu schicken. Sich darauf verstehen, das klang gut, aber auch recht abgründig. Hatte er sich mit der Abfuhr, die er der Didaktikerin erteilt hatte, tatsächlich alle Sympathien des Auswahlgremiums verscherzt? Vielleicht war ja alles schon entschieden, und das, was er noch zu sagen hatte, ähnelte womöglich in fataler Weise den stummen Mundbewegungen der Fische in der Stuttgarter Wilhelma. Seine im Self-Assessment-Programme

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