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Sie ist unschuldig, mein Zar: Historischer Roman
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eBook377 Seiten4 Stunden

Sie ist unschuldig, mein Zar: Historischer Roman

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Über dieses E-Book

Dieser historische Roman entführt Sie nach St. Petersburg ins 19. Jahrhundert, der Regierungszeit von Zar Alexander II, der auch der "Befreier-Zar" genannt wurde. Eine spannungsreiche Zeit historischer Umbrüche, und spannungsreich sind auch die Ereignisse um Olga Nikolajewna.

Himmel und Hölle setzt sie in Bewegung, um die Unschuld einer Mitgefangenen zu beweisen: Sonja Michailowna - vorgeblich eine Giftmörderin, in Wirklichkeit eine der edelsten und reinsten Menschen, denen Olga je begegnet ist. Bei ihrem Versuch, sie vor der mörderischen Deportation nach Sibirien zu bewahren, gerät Olga in die Fänge der Geheimpolizei und wird schließlich sogar verdächtigt, sich an einem Attentat auf den Zaren beteiligt zu haben.

Ein opulentes Werk im Spannungsfeld zwischen klirrend kalten Wintern und der leidenschaftlichen Glut der Menschen; zwischen einem zurückhaltenden Preußen und einer überbordend herzlichen Russin; zwischen unbarmherzigen Schicksalen und höherer Gerechtigkeit, durch die am Ende doch noch alles gut werden kann.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Apr. 2021
ISBN9783347265349
Sie ist unschuldig, mein Zar: Historischer Roman

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    Buchvorschau

    Sie ist unschuldig, mein Zar - Karin Burschik

    1

    Nun war es also doch passiert: Olga musste ins Loch. Dreißig Tage lang.

    Die drei Tage, die sie von Zeit zu Zeit hatte absitzen müssen, waren hart genug gewesen. Nach einer Woche kamen manche mit erloschenen Augen zurück oder irre im Verstand, gebrochen für den Rest ihres Lebens. Und nun sollte Olga einen ganzen Monat eingekerkert werden. Dreißig Tage allein in der Dunkelheit. Und wenn Väterchen Frost erst zuschlug …

    Olga starrte auf die Umrisse des Blecheimers mit dem Holzdeckel und auf die helle Fläche daneben – eine Strohmatratze auf dem nackten Boden. Bald würde die Kälte ihr von unten her in die Knochen kriechen, und dann würde das Reißen in den Gliedern sie schier umbringen.

    Kreischend schwang die Eisentür zu und es wurde dunkel im Loch.

    Wieso hatte sie sich auch nicht beherrschen können! Sie wusste doch, dass die Kyrogina bösartig war wie ein angeschossener Mongole. Aber da war Natascha. Schwer krank und musste trotzdem die Böden schrubben. Als Olga das sah, waren die Pferde mit ihr durchgegangen.

    „So geben Sie ihr doch eine leichtere Arbeit, hatte sie zu der Wärterin gesagt. „Sie kann doch Eicheln lesen oder …

    „Du hast hier gar nichts zu bestimmen."

    „Sie bringen sie ja um!"

    Die Kyrogina grinste böse und wandte sich dann an Natascha, die noch immer am Boden hockte und hoffnungsvoll aufsah.

    „Weiter, weiter", herrschte die Kyrogina sie an und trat ihr in die Seite.

    Natascha stürzte.

    „Na, wird’s bald?!", schrie die Wärterin und trat nach.

    Natascha wimmerte.

    Noch einmal holte die Kyrogina aus. Da konnte Olga sich nicht länger beherrschen und ging dazwischen. Dumm war das. Unglaublich dumm. Doch sie konnte nicht anders.

    Aber es war kein Angriff gewesen. Ein kleiner Schubs nur. Kein tätlicher Angriff, nein. Nichts, weshalb sie eine so grausame Strafe verdient hätte. Wenige Monate vor ihrer Entlassung.

    Die wollte die Kyrogina wohl verhindern, dachte Olga, die der Wärterin von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen war, weil sie sich nicht unterordnen konnte. Wie denn auch? Zwölf Jahre lang hatte Olga den Roten Engel geführt. Und auch hier im Frauengefängnis hörten die Mädchen auf sie.

    Die Kyrogina aber behandelte Olga wie einen nichtswürdigen Wurm und schikanierte sie, wo sie nur konnte. Nicht, dass sie die anderen Frauen gut behandelt hätte. Sie schien alle Häftlinge als ihre persönlichen Feinde zu betrachten. Und Olga war ihre Erzfeindin.

    Ah, das Herz tat ihr weh.

    Nein, nicht einfach nur weh. Da war ein Bohren und Stechen, jeder Herzschlag eine Qual. Einen Arzt, sie brauchte jetzt ganz dringend einen Arzt.

    Sie rief nach dem Gefängnisarzt. Schrie nach ihm. Schrie um Hilfe, bis ihre Kehle schmerzte. Und sie schlug mit den Fäusten gegen die Eisentür, bis die Haut aufsprang. Sie wusste, dass es nichts half. Es hatte auch früher nicht geholfen. Doch sie konnte nicht anders.

    Schließlich warf sie sich auf das Strohlager, starrte in die Dunkelheit und wartete darauf, dass die Zeit verging. Dass sie endlich verging. Endlich vorbeigehen sollten sie, die Minuten und Stunden und Tage. Doch das taten sie nicht. Sie klebten fest in diesem Loch.

    Endlich, endlich, nach Jahren, wie ihr schien, wurde die Luke beiseitegeschoben.

    „Wer da?", fragte Olga.

    Doch natürlich bekam sie keine Antwort. Olga kannte das; sie war ja nicht zum ersten Mal im Loch. Meist tat die Kyrogina Dienst hier unten, und sie achtete darauf, dass die Vorschriften eingehalten wurden: Kein Wort zu den Häftlingen.

    Das Tablett erschien und die Luke wurde wieder geschlossen. Olga stand auf und holte das Abendessen, verschlang hungrig den Kanten Brot und stürzte den Waldtee hinunter.

    Nachdem das Tablett wieder abgeholt worden war und Olga ihre Notdurft verrichtet hatte, rollte sie sich auf dem Stroh zusammen und wickelte sich in die Decken. Noch waren sie warm genug. Noch musste sie nicht frieren. Doch der erste schwere Kälteeinbruch stand noch bevor.

    Wie still es hier unten war.

    So entsetzlich still.

    Sie hatte sich so an die Laute ihrer Zellengenossinnen gewöhnt. Praskowjas schwere Seufzer. Den rasselnden Atem von Natascha, die dringend auf die Krankenstation gehörte. Ja, sogar Maschas Schnarchen vermisste sie. Eine grobschlächtige Person und wenig liebenswürdig. Die Einzige, die nicht auf Olga hörte. Kaum ein Tag, an dem sie ihnen nicht das Leben zur Hölle machte. Manchmal tat sie Natascha Küchenschaben ins Essen. Und sie pupste, dass es nicht zum Aushalten war. Natürlich pupsten hier alle. Ständig gab es Kohlsuppe, da blieb das nicht aus. Aber so laut und wütend wie Mascha pupste keine. Und keine schlich sich von hinten an und ließ es dann knattern, dass einem die Ohren abfielen.

    Besonders gemein war sie zu Praskowja. Die verhöhnte sie, stellte ihr ein Bein oder haute ihr auf den Kopf, einfach so, aus heiterem Himmel.

    Und warum?

    Aus Wut und Neid. Praskowja war nämlich die Geliebte von Kolja, dem Gefängnisarzt. Ein Bär von einem Mann mit schwarzem Haar und weichen, sinnlichen Lippen. Viele Frauen waren verliebt in ihn. Viele beneideten Praskowja. Olga nicht, obwohl auch sie gern einmal verwöhnt worden wäre mit gutem Essen, Likör und Konfekt. Doch sie hatte Praskowja zu oft weinen sehen.

    „Schlägt er dich?", hatte Olga sie gefragt.

    Aber das war es nicht. Es war viel schlimmer: Sie liebte ihn, obwohl er draußen eine Familie hatte.

    „Wenn du wieder frei bist, hatte er gesagt, „dann können wir es nicht länger geheim halten. Dann muss das ein Ende haben.

    Und was hatte dieses dumme Ding daraufhin getan? Sie hatte einer Wärterin die Jacke gestohlen, damit ihre Gefängnisstrafe verlängert wurde.

    „Ich würde es wieder tun", hatte sie weinend gesagt.

    Nun rückte ihr Entlassungstermin wieder näher. Würde sie diesmal die Kraft haben zu gehen? Ach, wenn Olga ihr doch nur ins Gewissen reden könnte…

    Aber wenigstens wurde Mascha bald entlassen, dachte Olga. Wenn sie hier rauskam, war wohl schon eine Neue da. Hoffentlich eine Nette.

    Ach, nein. Das würde die Kyrogina wohl zu verhindern wissen. Sie würde ihr ein Monster auf die Zelle tun. Falls Olga überlebte …

    Und dann griff die Angst nach ihr. Kalt und unbarmherzig. Und die Dunkelheit legte sich auf ihr Gemüt, schwer und erdrückend.

    Erst nach Stunden fiel sie in einen zerquälten Schlaf.

    Am nächsten Morgen hatten sich die Gespenster der Nacht verkrochen und Olga fühlte neue Kraft.

    Trübes Dämmerlicht drang durch eine Ritze neben der Tür und sie begrüßte ihre alten Bekannten: die dicken Spinnen in den Ecken und die Kellerasseln und Küchenschaben in den Mauerritzen. Sie ahnte sie mehr, als dass sie sie sah. Und die Inschriften an den Wänden ertastete sie mehr, als dass sie sie lesen könnte. Da waren Verwünschungen wie „Dafür soll deine Mutter in der Hölle schmoren und Flüche wie „Tatarenhure und „zickzackscheißender Taigatroll". Manche klagten, flehten den Herrn um Erbarmen an oder machten ihren Frieden mit Gott und der Welt.

    Das sollte sie nun auch. Einfach in Frieden sein, dahocken ohne einen Gedanken wie die Spinnen, Asseln und Schaben. Die überlebten hier seit Jahren. An ihnen wollte sie sich ein Beispiel nehmen.

    So führte sie das Leben einer Spinne, die reglos dahockt und auf das Essen wartet. Stunde um Stunde verdämmerte. Tiefer und tiefer krochen die Stille und die Dunkelheit ihr unter die Haut und drohten, alles Menschliche zu ersticken.

    Am dritten Tag wurde der Eimer gewechselt von der Kyrogina und einer anderen, mit der Olga ein Gespräch anknüpfen wollte. Sie redete freundlich, flehte, fluchte, bettelte, doch die Wärterin gab ihr kein einziges Wort und keinen Blick aus Angst vor der Kyrogina. Olga verzweifelte fast daran. Doch immerhin riss es sie aus ihrer Lethargie.

    Sie musste was tun. Irgendwas.

    Aber was?

    Als das Abendessen kam, beschloss sie, es diesmal nicht hinunter zu schlingen, obwohl sie grausam hungrig war. Sie wollte richtig essen, langsam und genüsslich.

    Zuerst nahm sie das Brot und befühlte die harte Kruste und das weiche Innere. Dann roch sie daran, roch den würzigen Roggenduft und den Geruch der gerösteten Eicheln. Schließlich biss sie ein Stück ab und kaute es so lange, bis sie es trinken konnte wie einen süßen Saft. Dann nahm sie den Becher und roch an dem herbsüßen Tee aus Kräutern und Beeren, legte die Lippen an das Tongefäß und trank einen Schluck, behielt ihn lange im Mund und kostete ihn voll aus. Dann nahm sie den nächsten Bissen.

    Sie brauchte lange für das Essen. Und sie genoss es. Selbst der Zar hätte nicht vorzüglicher speisen können, dachte sie nachher und genoss das angenehm warme Gefühl im Bauch.

    Doch als sie sich hingelegt hatte zum Schlafen, litt sie wieder unter dieser entsetzlichen Stille, die sie zu ersticken drohte. Und unter der Dunkelheit, schwer und erdrückend.

    2

    Am nächsten Morgen erkannte Olga, dass sie sich die Zeit einteilen musste.

    Sie suchte sich ein Steinchen und malte dreißig Kreise an eine der wenigen freien Stellen an der Wand. Drei davon strich sie durch. So sah sie immer auf einen Blick, was noch vor ihr lag und wie viel sie schon überlebt hatte. Heute war der vierte Tag. Ein guter Anfang war gemacht.

    Doch vor ihr lagen immer noch sechsundzwanzig Tage. Ein dicker Brocken schwarzer leerer Zeit. So lange konnte sie nicht einfach nur dahocken. Sie war keine Spinne.

    Wieder wurde die Luke geöffnet und ein Tablett erschien.

    „Frühstück kommt", sagte die Wärterin.

    Und es klang wie Engelsmusik in Olgas Ohren nach dieser stummen, schwarzen Ewigkeit.

    Nun fragte die Wärterin gar, wie es ihr gehe. Was für eine gute Seele!

    „Ich lebe noch, antwortete Olga. „Wie heißen Sie?

    „Marja Fjodorowna."

    „Gott vergelte Ihnen Ihre Freundlichkeit, Marja Fjodorowna", sagte Olga und nahm das Tablett an sich.

    Darauf fand sie eine Schale Buchweizengrütze mit einem Löffel Rübensirup und eine Tasse Waldtee. Wieder beherrschte sie sich: Statt über das Essen her zu fallen, zelebrierte sie es.

    Sie tunkte einen Finger in den Rübensirup und genoss die kühle Klebrigkeit, führte sie zum Mund und ließ sie schmelzen. Andächtig rührte sie die Grütze und den Sirup um, nahm einen Löffel und kaute lange. Auch den Waldtee ließ sie sich schmecken und genoss den Geschmack nach Faulbeeren und Blättern von Hartheu und Preiselbeeren.

    Sie brauchte lange für das Essen, und danach fühlte sie sich wieder wohlig gesättigt. Selbst der Zar könnte sich nicht besser fühlen nach einem Festgelage.

    Und nun? Sie musste ihre Zeit mit etwas Sinnvollem füllen. Irgendwas musste sie tun.

    Zuerst einmal würde sie einen kleinen Verdauungsspaziergang machen, entschied sie. Fünf Schritte von Mauer zu Mauer, immer an der Strohbettstatt entlang. Und das dreihundert Mal. Das war ein guter Gang. Er hielt warm und förderte die Verdauung.

    Und danach?

    Sie dachte an Franz, ihr Faktotum aus dem Roten Engel. Er war so wunderbar deutsch und methodisch, er hätte ihr jetzt ganz sicher einen Stundenplan machen können. Er hatte immer einen Plan und arbeitete ihn dann ab, Zug um Zug, ohne sich zu hetzen, ohne sich zu sorgen. Und das war seine Freude.

    Ja, einen Stundenplan brauchte sie jetzt. Aber was könnte sie tun? Was würde Franz ihr jetzt vorschlagen?

    Nun, sie könnte etwas für ihre Bildung tun. Oder genauer: Für die Bildung ihrer Mitgefangenen. Sie wollte ihnen die große Literatur nahe bringen.

    Leider kannte sie nur ein Gedicht auswendig: den ehernen Reiter von Puschkin. Welcher Petersburger kannte es nicht? Andächtig deklamierte sie das Gedicht um Peter den Großen. Und wiederholte es. Und wiederholte es noch einmal.

    Doch das ergab noch keine Literaturstunde, erkannte sie, und beschloss, einen Roman zu erzählen. Turgenjew mochte sie und Gontscharow. Und die „Die toten Seelen" von Gogol. In ruhigen Nächten hatte sie stundenlang neben dem Samowar gesessen, gelesen und Tee getrunken. Nur ab und zu war sie zur Tür gegangen, um einen Gast zu empfangen und ihre Mädchen anzupreisen.

    Doch die Romane der großen Russen waren dicke Schinken mit einer verwirrenden Vielzahl von Personen und Ereignissen. Selbst, wenn sie alles in die richtige Reihenfolge bringen könnte – was ihr wohl kaum gelingen würde – würde sie Wochen brauchen, um auch nur einen Roman zu erzählen.

    Kürzere Geschichten wären praktischer, überlegte sie, und da fielen ihr die Märchen ein. Die Märchen, die ihr Großmütterchen immer erzählt hatte: das vom Hahn und der Zaubermühle und das vom Zarewitsch Iwan und dem wilden Wolf. Ganz besonders liebte sie die Geschichte von dem Großmütterchen, das alles wusste. Köstlich, mit welch glücklichem Geschick sie sich am Zarenhof aus allen Schwierigkeiten gewunden hatte. Auch die Asseln, Spinnen und Schaben schien es zu vergnügen. Jedenfalls hörten sie ruhig zu.

    Und wie Olga so erzählte, war ihr, als sei die Babuschka wieder da. Und die Mutter, ihre Schwestern, ihre Freundinnen, alle waren da und erzählten eine Geschichte. Dazu summte der Samowar und im Kachelofen knisterte es heimelig.

    Ah, wie sehr hatte sie diese Abende vermisst. Und den Gesang.

    Sie hatte immer gern gesungen. Nicht, dass sie jemals gut gesungen hätte. Sie traf die Töne nicht richtig. Doch dafür sang sie laut und mit großer Inbrunst. Das war das Gute an diesem Loch: Hier konnte sie nach Herzenslust singen und so falsch sie wollte.

    So sang sie von Kalinka und von der schneebedeckten Heimat, vom Wolgastrom und von Sascha, der den Becher allzu heftig ehrte. Dabei dachte sie an die Feste, die sie mit ihren Lieben gefeiert hatte. Und sie stellte sich vor, sie wären alle da, stellte sich vor, sie sei umgeben von freundlichen Gesichtern.

    Danach war es auch schon wieder Zeit zum Essen. Und während sie ihr Mittagsmahl zelebrierte – Brot mit einer herrlichen Suppe aus Pilzen und Gemüsen – keimte in ihr neue Hoffnung, dass sie die Zeit hier gut überstehen oder doch zumindest überleben würde.

    3

    Die folgenden Tage brachte Olga gut herum. Sie hielt sich in Bewegung und verfiel nicht der Schwermut und der Einsamkeit dank der Lieder und Geschichten.

    An ihrem sechsten Tag im Loch sah Olga endlich wieder menschliche Wesen: Der Eimer wurde gewechselt. Marja Fjodorowna war leider nicht dabei. Aber die Kyrogina. Und wieder bekam sie kein einziges Wort und keinen Blick, so sehr sie sich auch darum bemühte.

    Es war grausam, entsetzlich grausam, dachte Olga und erwachte wie aus einem schönen Traum: Sie war nicht umgeben von freundlichen Gesichtern. Ihre Babuschka war wahrscheinlich längst gestorben, und ihre Mutter würde sie nie wiedersehen. Auch nicht Franz. Allein war sie. Wozu da noch singen und erzählen? Sinnlos in der Einsamkeit.

    Ach, wenn sie doch wenigstens Wolle und Nadel gehabt hätte. Nicht, dass sie je eine große Strickerin gewesen wäre. Doch es beruhigte die Nerven und sie hätte jetzt gern eine Jacke für Natascha gestrickt. Samtblau und mollig warm. Doch nicht einmal das war ihr vergönnt. Ihr blieb nur, sich zu ergeben in die Dunkelheit und Einsamkeit, die so schwer waren, so erdrückend.

    Drei Tage lang hockte sie so da und wartete, dass die Zeit verstrich. Nur die täglichen Gänge behielt sie bei. Doch sie wurden immer mühsamer. Und am neunten Tag – wieder war der Eimer geleert worden, wieder hatten die Wärterinnen sie keines Blickes und keines Wortes gewürdigt – konnte sie sich nach dem Frühstück kaum erheben. Unter Ächzen und Stöhnen wuchtete sie sich hoch. Doch ihre Knie waren so weich. Sie sank aufs Lager zurück.

    Hatten sie sie vergiftet?

    So musste es sein. Die Kyrogina hatte sicher gemerkt, dass sie immer noch lebte und nicht wahnsinnig geworden war. Das konnte sie natürlich nicht ertragen und hatte ihr darum Gift ins Essen getan. Ganz sicher hatte sie ihr die Buchweizengrütze vergiftet. So elend und schwach hatte Olga sich lange nicht gefühlt.

    Würde sie den Tag überleben?

    Und wenn nicht, wen kümmerte es?

    Ach, es war alles so sinnlos. Das ganze Leben, eine wüste Leere, nichts sonst. Am besten legte sie sich gleich hin zum Sterben.

    Sie wickelte sich in ihre Decke und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.

    Doch dann flackerte ein letzter Funke Lebenswille auf und trieb sie wieder hoch. Vielleicht tat der Gang nach dem Essen ihr ja gut; vielleicht fühlte sie sich danach besser.

    Unter großen Mühen tastete sie sich an der Wand entlang. Fünf Schritte hin und fünf Schritte zurück. Drei Mal, mehr schaffte sie heute nicht.

    Seufzend sank sie aufs Stroh zurück.

    Da spürte sie, wie sich ihr Geist verdunkelte und die ewige Nacht nach ihrem Herzen griff. Sie musste was dagegen tun. Irgendwas.

    Aber was?

    Sie erinnerte sich an die ersten Tage, in denen sie sich mit ihren geliebten Märchen aufgemuntert hatte. Vielleicht gelang ihr das auch jetzt, dachte sie und beschloss, es wenigstens zu versuchen. Auch, wenn die Spinnen sie nicht hören mochten. Sie wendeten sich ab. Und die Schaben und Asseln verkrochen sich ganz tief in ihre Ecken und Mauerritzen. Egal. Sie wollte ihre Märchen trotzdem erzählen.

    Mit dünner Stimme begann sie. Doch dann fiel der wilde Wolf plötzlich über den Zarewitsch Iwan her und verschlang ihn mit einem Happs, wollte sich auch auf Olga stürzen mit wildem Gebrüll. Schnell ging sie weiter zum Hahn und der Zaubermühle, die Piroggen und Eierkuchen mahlte und Eierkuchen und Piroggen, damit Großväterchen und Großmütterchen immer genug zu essen hatten.

    Doch was war das? Die Zaubermühle hörte gar nicht mehr auf zu mahlen. Piroggen und Eierkuchen und Eierkuchen und Piroggen. Bald war die ganze Zelle voll. Und sie mahlte immer noch.

    Mahlte Piroggen und Eierkuchen und Eierkuchen und Piroggen. Olga würde ersticken in diesem Matsch, zerquetscht würde sie werden.

    Schnell weiter zum Großmütterchen, das alles wusste. Doch heute sah sie sie nur an mit leeren Augen und sagte, sie habe den Verstand verloren.

    „Der Koch hat ihn in die Piroggen gestopft, sagte das Großmütterchen. „Und dann hat der wilde Wolf sie gefressen. Heute werde ich mich beim Zaren nicht herauswinden können aus allen Schwierigkeiten. Dafür wird er mich in den Kerker sperren. Dreißig Tage lang. Dreißig endlose Tage im Loch, das überlebt kein Mensch.

    Damit schlurfte das Großmütterchen von dannen.

    Olga wischte sich die Tränen aus den Augen und beschloss zu singen. Fröhliche Lieder wollte sie singen. Von der Liebe und dem Wodka, von rauschenden Festen und wilden Troikafahrten.

    Doch es wollte ihr kein fröhliches Lied einfallen. Nicht ein einziges.

    Das Einzige, was ihr einfiel, war: Gosspodi pomiluj – Herr, erbarme dich. Immer wieder: Gosspodi pomiluj. Und dazwischen flehte sie: Lass mich nicht zustanden werden. Gosspodi pomiluj. Lass die Dunkelheit nicht mein Herz verschlingen. Gosspodi pomiluj. Behüte mich, beschütze mich und errette mich aus der Gefahr. Gosspodi pomiluj. Gosspodi pomiluj. Gosspodi pomiluj.

    Dieser ewige Bittgesang hatte ihr geholfen in den Elendsjahren im Heumarktviertel. Ihm verdankte sie, dass ihre Seele keinen Schaden genommen hatte.

    Plötzlich musste sie an Vater Wladimir denken und wie wunderbar und himmelsgleich er in der Kirche gesungen hatte. Diese endlosen Bittgesänge. Zum Weinen schön.

    Plötzlich überfiel sie die Trauer um alles, was sie verloren hatte – ihre Liebe zu Vater Wladimir, die keine Liebe gewesen war, ihre Familie, ihre Mädchen und schließlich auch Franz.

    Sie weinte bitterlich in ihrem Kummer und in ihrer Verlassenheit.

    Ja, verlassen war sie. Vergessen von aller Welt.

    Vielleicht hatte der Zar eine Generalamnestie erlassen und alle waren längst fort, hatten sie in der Aufregung vergessen. Oder die Kyrogina hatte behauptet: Ich hole sie. Doch sie hatte es nicht getan, wollte sie hier verhungern und vermodern lassen. Und immer allein.

    Oh, dieses schändliche Weibsbild!

    „Der Teufel soll dich holen!", schrie Olga.

    Oh, da war eine solche Wut. Nicht nur auf die Kyrogina, sondern auch auf das Gericht. Auf die Geheimpolizei. Und auf Vater Wladimir.

    Schreiend hämmerte Olga gegen die Tür, hämmerte, bis ihre Knöchel wieder aufsprangen. Doch vergebens. Alles vergebens. Es war ja niemand da.

    Vielleicht waren sie alle tot. Vielleicht war wieder Krieg, und die Feinde hatten Piter¹ überrannt und dem Erdboden gleich gemacht. Oder die Einwohner selbst hatten ihre Stadt angezündet, damit sie nicht in feindliche Hände fiel, wie die Moskowiter es im Vaterländischen Krieg gegen Napoleon getan hatten.

    Ja, so musste es sein. Alles verbrannt, alle geflohen. Nur sie war noch da. Vergessen und allein sah sie hier ihrem Ende entgegen.

    Oh, sie sehnte sich so nach menschlicher Gesellschaft. Nur ein paar Worte mit einem menschlichen Wesen wechseln. Ein paar letzte Worte mit Marja Fjodorowna. Sie war nur ein einziges Mal da gewesen. Und nun kam sie nicht mehr. Vielleicht war sie tot. Vielleicht war die Pest ausgebrochen und alle waren tot. Nur Olga hatte überlebt. Selbst der Tod wollte nicht zu ihr kommen.

    Ja, sie lebte noch, lebte noch, lebte noch. Da war der Atem. Ein und aus und ein und aus. Das war wie auf einem Schaukelstuhl. Wie eine gute Njanja, eine Kinderfrau, die sie in den Armen wiegte. Auf und ab und auf und ab. So zärtlich. So sanft. Und voller Liebe.

    Das tröstete sie ein wenig. Es nahm ihr nicht den Schmerz und die Einsamkeit; doch es half ihr, Schmerz und Einsamkeit zu ertragen.

    Eine Ewigkeit später öffnete sich die Luke und ein Tablett wurde herein geschoben.

    „Wie geht es Ihnen? Marja Fjodorownas Stimme klang schöner als der Gesang der Engel. „Geht es Ihnen gut?

    Sie siezte Olga, als zolle sie ihr Respekt dafür, dass sie noch immer lebte und nicht wahnsinnig geworden war. Olga war so gerührt, dass sie kaum ein Wort herausbrachte.

    Tonlos flüsterte sie:

    „Die Einsamkeit bringt mich um."

    „Es ist schwer, Mütterchen. Ich weiß, es ist schwer, sagte Marja, die gute Seele. „Aber seien Sie guten Mutes.

    „Hier gibt es keinen Mut. Nur Dunkelheit."

    „Warten Sie."

    „Keine Sorge, ich laufe schon nicht weg", sagte Olga und lachte so schrill und verzweifelt, dass es ihr in den Ohren wehtat.

    Abrupt hörte sie auf und fiel über das Essen her. Sie hatte keine Kraft mehr es zu genießen. Sie verschlang das Brot in wenigen Bissen und schüttete die Kohlsuppe hastig in sich hinein. Dann stellte sie das Tablett zurück und warf sich aufs Lager.

    Ein Festgelage? Wie hatte sie sich jemals einreden können, das sei ein Festgelage? Die Kohlsuppe verdiente diesen Namen nicht. Im Grunde war es nichts weiter als ein Mischmasch aus Abfällen mit Kohl. Außerdem fehlten die Vorspeisen und es fehlte der 2. Gang mit Fisch und Fleisch und Gemüse. Auch der 3. Gang fehlte: nichts Süßes, kein Kompott, kein Gelee, kein Gebäck. Nur der 1. Gang wurde serviert, nur die Suppe, ein lausiges Menü.

    Wenig später wurde die Luke wieder beiseitegeschoben und … Olga traute ihren Augen kaum. Da stand eine brennende Kerze auf einem Tellerchen und daneben lag ein Brief.

    Olga sprang auf und stürzte zur Tür.

    Von Franz. Der Brief war von Franz. Oh, so lange hatte sie nichts mehr von ihm gehört.

    Sie nahm den Brief und drückte ihn an ihren Busen. Der Brief eines lieben und guten Menschen. Niemand würde je ermessen können, was ihr das bedeutete.

    „Kann ich noch was für Sie tun?"

    „Ich möchte ihm antworten, sagte Olga. „Und wenn Sie mir Strickzeug bringen könnten. Das beruhigt die Nerven.

    „Sie müssen Geduld haben, sagte Marja. „Ich habe erst in drei Tagen wieder Dienst hier unten.

    „Gott segne Sie", sagte Olga und freute sich darauf den Brief zu lesen.

    ¹ St. Petersburg

    4

    Olga hätte nicht gedacht, dass sie je wieder von Franz hören würde, obwohl er der treueste Mensch war, den sie kannte. Jahrelang hatte der Deutsche ihr redlich gedient als Faktotum im Roten Engel. Oh, wie wunderbar vornehm er immer ausgesehen hatte in seiner Livree. Jeden Lumpen hatte er empfangen wie den Zaren persönlich. Geschickt war er auch: Er konnte alles reparieren. Und nach dem Prozess war er jeden Monat zu ihr ins Zuchthaus gekommen.

    Und dann kam sein letzter Besuch in diesem kahlen Raum unter den strengen Blicken der Wärterinnen. Hager und steif hatte er da gesessen auf dem unbequemen Stuhl und sein Gehrock war penibel sauber und glatt gebügelt, als sei er zu einem Empfang bei Hofe geladen.

    Sie bat ihn um eine Medizin für Natascha, deren Husten immer schlimmer geworden war.

    „Die kann ich Ihnen leider nicht bringen. Sein liebes Gesicht legte sich in traurige Falten. „Nächste Woche reise ich ab.

    „Das macht nichts", sagte Olga.

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