Wiener Wohn-Sinn: Wiener Gemeindebau von den Anfängen bis zur Gegenwart
Von Christoph Mandl
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Über dieses E-Book
Das Buch erzählt von den Tausendstundenhäusern, die armen Wohnungssuchenden übergeben wurden, denen tausend Stunden Arbeitsleistung als Eigenbeitrag abverlangt wurde, von den Gemeinschaftsküchen, dem Arbeiter-Theater und Einrichtungen wie dem Arbeiter-Radio-Bund Österreichs, die in den Gemeindebauten untergebracht waren. Es ist ein Lese- und ein Faktenbuch entstanden, das von der Geschichte über die Architektur bis hin zu den sozialen Rahmenbedingungen alle Aspekte des Phänomens "Wiener Gemeindebau" darstellt.
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Buchvorschau
Wiener Wohn-Sinn - Christoph Mandl
Hineinspaziert ins pralle Leben
Der Herr Paradeiser fällt mir immer als erstes ein, wenn ich an meine persönlichen Gemeindebau-Erinnerungen denke. Jedes Mal, wenn es an der Tür im Stockwerk unter uns wild metallisch raschelte, war mein Einsatz gefragt. Herr Paradeiser, dem wohl der liebe Gott höchstpersönlich diesen typisch wienerischen Namen ob seiner weithin leuchtenden knolligen Nase verliehen haben musste, kehrte durstgestillt nach Hause. Leider fehlte ihm, abgefüllt wie er dann war, jegliches Zielvermögen für das Bedienen seines Wohnungsschlüssels. Dazu aber hatte er ja mich, den guten Nachbarn von oben. Er quittierte meine Sperrhilfe jedes Mal mit einem lallenden „Dankeschön".
Ober uns wohnte die blade, allein erziehende Frau Swoboda mit ihrer ebenso bladen Tochter. Die hellhörigen Decken und Wände ermöglichten es mir, schon in frühen Jahren Radio Niederösterreich samt dessen bodenständiger Hitparade ausführlich kennen zu lernen. Leider aber bewegten sich die beiden Swobodas auch zwischen ihren Zimmern hin und her. Das erinnerte dann immer an schweres Möbelrücken.
Beide Erinnerungen sind verknüpft mit tiefer Dankbarkeit. Die Simmeringer Gemeindewohnung erlöste mich und meine damals noch sehr kleine Familie aus Zimmer-Küche-Altbau mit Außenklo und Innenkaltwasser im aufzuglosen vierten Stockwerk.
Luft, Licht und Sonne bedeutete die Übersiedlung, ein bisschen Grün, saubere Stiegen, eine Küche mit funktionierendem Gasherd und sogar ein Bad mit Wanne!
Diese sehr sehr persönlichen Erinnerungen an das Leben im Bau der 1970er sind wohl nichts gegen die Gefühle, die Wiener Menschen in den frühen Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts hegten, als sie aus ihren feuchten Löchern und Baracken in neue, luft- und lichtdurchflutete Wohnungen übersiedeln durften.
Da ging es nicht um kleine Fragen des Komforts. Da ging es darum, ob der Nachwuchs in trockenen Räumen schlafen und so leichter der Lungentuberkulose entgehen konnte. Oder, dass man sich sein Bett
nicht mehr mit Fremden teilen musste: in den Wucher-Zinshäusern waren die Mieten so hoch, dass sogenannte Bettgeher gleichsam im Schichtbetrieb die Schlafstätten der Bewohner benutzten und dafür bezahlten.
Gemeindebau – das ist Ausdruck eines Lebensgefühls. Damals wie heute. Einmal mehr, einmal weniger, aber immer eine bestimmte Wohnform, der mehr gemeinsam ist, als nur ein gemeinsamer Hauseingang. Was die Gemeindebau-Erfinder – also die sozialdemokratischen Stadtväter und ArchitektInnen – durchaus im Sinne hatten.
Denn Gemeindebauleben bedeutete ihnen auch: organisiertes
Leben, ein Sammeln der Kräfte des Proletariats, der einfachen
Arbeiter und Bediensteten. Nicht von Ungefähr hatten viele Utopien gemeinsame neue Wohnformen als Grundlage, die auch zu neuem Leben und neuem sozialem Gefüge führen sollten.
Indizien dafür findet man auch heute noch jede Menge. Etwa das Einküchenhaus, das den Bewohnerinnen und Bewohnern die eigene Küche sparen und gemeinsame Essensversorgung gewähren sollte. Oder die alkoholfreie Gaststätte im Gemeindebau: Alkoholenthaltsamkeit war ein wichtiger Teil der Wiener Arbeiterkultur – und so suchte man auch, diese Abstinenz in eigenen Gaststätten zu leben.
Heute noch höchst anschaulich, präsent und aktiv: die zahlreichen Bibliotheken und Kindergärten, aber auch Arztordinationen, die die gute Infrastruktur der meisten Gemeindebauten ausmachen. Die berufstätigen Eltern hatten und haben nicht weit, ihre Kinder gut untergebracht zu wissen. „Daheim", sozusagen. Die Büchereien sind erfrischende Nahversorgungs-Kultureinrichtungen im Bau und gehen höchst geschickt auf ihr Publikum und dessen Wünsche ein.
Was die Wohnformen und Wohnversuche betrifft, so waren vor allem die Wiener Architekten des frühen 20. Jahrhunderts gefragt, ihre Kreativität zu beweisen. Anton Brenner etwa schuf seine „Wohnmaschine", seine Kollegin Margarethe Lihotzky brachte den arbeitenden Frauen – leider nicht (mehr) in Österreich, sondern in Deutschland und der Sowjetunion – die Frankfurter Küche.
Die Neugier und die Freude am Experiment sind auch heute wieder bei den städtisch geförderten Wohnhausanlagen spürbar. Radfahrer-Siedlung, Frauenstadt, Quartiers Verts, Generationenwohnen, Smart City Wohnen sind moderne Formen früherer Risikobereitschaft.
Wobei der große Unterschied beider Epochen nicht übersehen werden darf: trieb vor hundert Jahren der Wille zur revolutionären Veränderung (oder zumindest zu höchst rasanter Evolution) die städtischen Wohnhausbauer zum kommunalen Wohnbau und seinen Versuchsanordnungen, so ist es heute der eher realitätsnahe Glaube an eine sanfte Evolution hin zu einer offeneren, gerechteren und ökologischen Gesellschaft.
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Als blutjunger Journalistikstudent durfte ich für eine angesehene Wiener Tageszeitung eine Seite füllen: „Ich möcht’ da nimmer mehr weg" hieß die große Reportage über die damals, in den Siebzigerjahren, gebaute und besiedelte Großfeldsiedlung. Ausgestattet mit einer Menge eigener Überheblichkeit und den Vorurteilen der Alt-Redakteure, die mehr vom Schreibtisch denn aus eigener Anschauung manche Dinge beurteilten, machte ich mich auf, den Satelliten zu erkunden.
Tatsächlich fanden sich die von mir angepeilten Straßen auf keinem Stadtplan. Noch schlimmer war, dass auch die Taxler, an der Schnellbahnendstelle zur zielgenauen Beförderung angefragt, auch nicht weiter wussten. Als ich dann endlich am Ziel war, beschämten mich meine Interviewpartner. Darunter auch zwei mir befreundete Jungfamilien, die in die Siedlung gezogen waren. Sie hatten trockene Räume, günstige Mieten und viel Grün und Licht gesucht, auch für ihre gerade geborenen Kinder. Sie hatten das alles in der „GFS", wie die Großfeldsiedlung insiderisch genannt wurde, gefunden. Doch es waren nicht nur die beiden Freundesfamilien. Nahezu alle Befragten schlossen sich dem guten Befund an. So stieß ich Jungschreiber schon sehr früh an die Hürde, eine Reportage entgegen aller schlechten journalistischen Sitten tatsächlich völlig anders zu gestalten, als dies vorurteilshalber beabsichtigt war.
Diese Begebenheit prägte nicht nur mein späteres journalistisches Arbeiten und Denken – sie ließ mich künftig auch bei manchen Dingen sehr genau hinsehen.
Berliner Hof in Ottakring
Ob an der Peripherie oder in den Innenstadtbezirken, die prächtigen Gemeindebau-Hoffeste der Siebzigerjahre sind vorurteilslos Begegnungsakte gewesen, Manifestationen des Selbstbewusstseins derer im Bau, teils auch noch mit sehr politischen, sehr aufklärerischen Elementen in der guten Tradition der Geburtsstunde der Gemeindebauten.
Während man vielen Bauwerken und Denkmälern kritisch vorhält, „bloß Monumente" zu sein, ohne konkrete Lebensäußerungen, galt das bei den Gemeindebauten von Anfang an nie. Die Häuser, meist benannt nach großen PolitikerInnen, KünstlerInnen, WissenschafterInnen, später auch nach couragierten und selbstaufopfernden WiderstandskämpferInnen, boten immer auch Gelegenheit zur Erinnerung an große Persönlichkeiten.