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HR Giger. Das Buch: Biografie. Kunst. Medien
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eBook435 Seiten5 Stunden

HR Giger. Das Buch: Biografie. Kunst. Medien

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Über dieses E-Book

Weltruhm erlangte der Schweizer Künstler HR Giger mit seinem biomechanischen Stil, vor allem aber durch seinen Oscar für das zukunftsweisende Design in dem SF-Film "Alien". Das als Biografie konzipierte Buch entstand aus einer über zweijährigen Zusammenarbeit mit HR Giger und diente von vornherein auch dem Ziel, Gigers kunst- und mediengeschichtliche Bedeutung nicht nur für die phantastische Kunst hervorzuheben, sondern generell für die beharrliche Unterwanderung der Demarkationen zwischen Hoch- und Populärkultur.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Feb. 2018
ISBN9783746914633
HR Giger. Das Buch: Biografie. Kunst. Medien

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    Buchvorschau

    HR Giger. Das Buch - Herbert M. Hurka

    Teil I: Churer Unterwelt

    1. Die erste Passage

    Schwere Geburt. Im Zweifelsfall ist der Ankömmling verantwortlich, denn, so wird die Mutter später ihren Kampf kommentieren, er „hätte nicht herausgewollt". Gebären ist in diesen Jahren Frauensache, Männersache der Krieg: 1940, auch das Jahr, in dem Melly Giger am 5. Februar im Frauenspital von Chur einen Jungen zur Welt bringt. Der Vater, Dr. Hans-Richard Giger, ist seit Wochen zum Militärdienst eingezogen. Nachdem Hitlerdeutschland vier Monate zuvor Polen überfallen hat, kann niemand einschätzen, wie es weiter gehen wird, vor allem nicht, ob nicht auch die Schweiz sich in akuter Kriegsgefahr befindet. Falls ja, müsste auch Dr. Giger seinen Beitrag zur Landesverteidigung leisten.

    Dass man sich an seine Geburt erinnern kann – Hirnforscher mögen Zweifel anmelden, trotzdem ist vielleicht nicht auszuschließen, dass im Universum der Synapsen irgendwo eine abgelegene Konstellation existiert, in die das Bewusstsein vordringen kann. Mit Samuel Beckett, der behauptete, er könne sich an seine Geburt erinnern, findet HR Giger sich, wie übrigens auch mit Timothy Leary, in glaubwürdiger Gesellschaft, wenn er einen wiederkehrenden Alptraum für die Erinnerung an seine Geburt hält: „ …in einem großen, türen- und fensterlosen Raum, dessen einziger Ausgang eine dunkle eiserne Öffnung ist, die zu allem Übel noch durch einen eisernen Bügel halbwegs versperrt ist. Beim Passieren dieser Öffnung bleibe ich auch regelmäßig stecken. Der Ausgang am Ende dieses langen Kamins, ich sehe nur einen winzigen Lichtschimmer, wird, um das Übel zu vervollständigen, auch noch prompt wie von unsichtbarer Kraft verschlossen. Nun stecke ich mit am Körper angepressten Armen in der Röhre und kann mich weder nach vorn noch nach hinten bewegen und spüre, dass mir die Luft ausgeht. Nach Überzeugung des Träumers beinhaltet dieser in „H.R. Gigers Necronomicon I aufgezeichnete Alptraum Bilder einer komplizierten Geburt, und je nachdem, wie man jenen „eisernen Bügel" deuten will, könnte es sich um eine sogenannte Zangengeburt gehandelt haben.

    Der Vater ist nicht greifbar, so wählt Melly Giger den Namen für das Neugeborene allein aus und entscheidet sich für den Doppelnamen Hansruedi, angelehnt an Hans-Richard, den Namen des Vaters. Beide sollen dieselben Initialen tragen, damit das offizielle Erscheinungsbild der Namen gleich ist: H.R. Giger.

    2. Ritter und Adler

    Dr. Giger führt seine Ahnenlinie zurück bis Anfang 16. Jahrhundert auf das Davoser Rittergeschlecht der Beeli von Belfort. Geboren 1904, wuchs er in den geregelten Verhältnissen des Basler Kleinbürgertums auf. Während die Mutter das Prinzip Ordnung lebte, sorgte der Vater als Gymnasialdirektor für den Lebensunterhalt. Zum großen Unglück verstarb der Vater, bevor Hans-Richard erwachsen werden durfte. Zu diesem Zeitpunkt war der so plötzlich zum Halbwaisen gewordene Hans-Richard mit seiner Matura beschäftigt. Der frühe Tod des Haupternährers hatte den wirtschaftlichen Absturz der Familie zur Folge. Der Mutter stand nur eine elende Witwenrente zu, kaum genug, um das Existenzminimum zu halten. Ein Trauma, das Hans-Richard prägte und sich vor allem in seiner Einstellung zu Geld und Konsum manifestierte. Sein Studium schloss er immerhin ab. Damit war er Arzt und nach seiner erfolgreichen Dissertation über die pharmakologischen Eigenschaften diverser Pflanzen hatte er auch das Recht erworben, sich Doktor zu nennen.

    Ein Leben, in dem jeder Rappen abgezählt werden muss – wie soll da ein Motorrad hin passen? Der blanke Luxus jedenfalls, eine Wunschmaschine, die ungeahnte Freiheit eröffnet und genau deshalb jedes Opfer rechtfertigen wird. Vierzylinder, Stahlrahmen, voluminöser Auftritt. Mit dem Kauf einer Henderson-Maschine gelingt es ihm, mit einem Schwung ein paar innere Hürden zu überspringen. Freiheit, vor Ausbruch der Massenmotorisierung bedeutet das leere Straßen, großzügig im Fahrtwind sich aufrollende Landschaften, so kommt man schon als Student viel herum.

    Gasthof Adler

    Auch zum Bodensee – zufällig nach Mammern, wo auch eine der noch wenigen Tankstellen ist, nebenan das Gasthaus Adler. Eines jener dörflichen Anwesen, die in Friedenszeiten generationenlang innerhalb ein und derselben Familie weiter und weiter vererbt werden, geht die Historie des Adler zurück bis ins Gründungsjahr 1854 auf einen gewissen Jakob Christof Meier-Isler. Die Familie Meier führte das Gasthaus ohne Unterbrechung 170 Jahre, was heißt, fast bis zum heutigen Tag, denn erst 2015 wurde der Betrieb von der Familie aus der Hand gegeben und verkauft. An dieser Energiestation neben der Gaststätte also begegnet er Melly Meier zum ersten Mal. Melly ist eine Tochter des damaligen Adler-Wirts, Otto Meier-Hertler.

    Als eins von drei Kindern hat sie einen Bruder und eine Schwester. Schnell ist klar, dass es bei diesem einen Besuch Hans-Richards nicht bleiben würde. Die Sympathie bleibt nicht einseitig, denn bei jedem Besuch des Überlandfahrers wächst Mellys Faszination von der männlichverwegenen, irgendwie auch ritterhaften Montur aus dunklem Leder, Helm und Motorradbrille.

    Melly Meiers Vater (l.) und Melly Meier (r.)

    Die Gaststätte besitzt internationales Flair. Besonders eifrig bedient Melly die weltgewandten Schauspieler, die von den regelmäßig in Steckborn veranstalteten Theaterfestspielen nach ihren Proben und Vorstellungen zum Abendessen einkehren. Es ist nicht nur die Weite der Seelandschaft, die sie von klein auf vor Augen hat, sondern auch die von den Bühnenkünstlern verbreitete Suggestion einer offenen Welt ohne Grenzen. Es ist nur selbstverständlich, wenn sie, einer Schweizer Tradition folgend, eine gewisse Zeit im Ausland verbringt. In London nimmt sie eine Au-pair-Stelle an, und als sie Anfang der 1920er Jahre in die Schweiz zurückkehrt, ist sie vom Großstadtvirus infiziert. London wird nie aufhören, eine ihrer nachhaltigsten Erfahrungen zu sein.

    Tankstelle Gasthof Adler

    Kaum dass Hans-Richard sein Studium beendet hat, heiraten sie. Ein abgerundetes Eheglück wird jedoch durch das Handicap eines Herzklappenfehlers beeinträchtigt, den man bei Giger diagnostiziert. Der Behandelnde rät an, „eine ruhigere Kugel zu schieben", als der aufreibende Arztberuf es zuließe. Dr. Giger richtet sich danach, und als ihm zu Ohren kommt, dass in Chur eine Apotheke frei würde und zum Verkauf anstehe, ergreift er diese Chance. Es fügt sich, dass die Mammerner Familie 5000 Franken zum Startkapital beisteuern kann. Gelegen im breiten Tal des Alpenrheins und dem Mündungsgebiet des Wildflusses Plessur, gilt die Bündner Kapitale als älteste Stadt der Schweiz. Ein wohl zutreffendes Attribut, denn nicht nur die bis in die Jungsteinzeit zurück reichende Siedlungsgeschichte, belegt dies, sondern auch der von dem Keltischen Wort kora (= Stamm, Sippe) sich herleitende Name Chur. Hier also, in diesem bergverschatteten Tal, lässt sich das frisch getraute Paar nieder und zieht in die Wohnung ein, die günstigerweise im Stockwerk über der Apotheke gleich mit frei wird.

    Unmittelbar am Fuß der Alpen gelegen, ist die Stadt allgemein nicht von der Sonne verwöhnt, im Winter aber verschlucken die Schatten der Zweitausender das Licht fast ganz. Und es sind nicht allein die Berge, die Schatten auf das Stadtleben werfen, sondern da thront auch ein turmbewehrter Bischofssitz, der stets sichtbar von seiner Anhöhe herab die Moral der Bürger überwacht. Ausgeträumt Mellys Großstadtträume. Das Französisch, das sie sich in Lausanne, das Italienisch, das sie sich im Tessin und das Englisch, das sie sich in London angeeignet hat, kann sie ab jetzt einmotten. Die Wege, die alles gehen wird, sind vorgezeichnet. Bald nach der Hochzeit gebiert sie ihr erstes Kind, 1934, ein Töchterchen, getauft auf den Namen Iris. Es ist, wie es ist. Ehemänner Lebensunterhalt, Ehefrauen Kinder, Haushalt. Melly schickt sich. Ein Familienmuster, das Mitte 1930er, besonders in einer mittelgroßen Alpen- und Bischofsstadt nicht mehr hinterfragbar ist.

    3. Nester

    Hansruedi Gigers erste verlässliche Erinnerungsbilder zeigen das finstere, aus einer Verdunklungsbirne blau verstrahlte Wohnzimmer. Es ist Krieg, der Junge drei, vier Jahre alt. Was die Schweizer mit den anderen Völkern Europas teilen müssen, ist die Erfahrung von Bunkern, Luftschutzkellern und Verdunklung, sobald die Dämmerung eintritt. Die Angst wird zur nationalen Befindlichkeit, und Kinder lernen in diesen Jahren, dass Angst universell ist, sogar die immer stark erscheinenden Erwachsenen verstört. Geeint-gelähmt kauert man – nichts als Herzklopfen in den Ohren – zusammen, um gegen eine still stehende Zeit das Ende der Nacht herbei zu sehnen.

    Nach dem schnellen Sieg Hitlerdeutschlands über Frankreich glaubt niemand mehr im Ernst daran, dass ausgerechnet die Schweiz davon kommen sollte. Die Pläne der Militärs sind ausgearbeitet und müssen nur aus den Safes geholt werden. Die Alpen! Wenn nicht die Alpen, wer oder was sonst sollte Hitler trotzen? Ewiger Fels unter ewigem Eis. General Guisan, der Schweizer Oberbefehlshaber, setzt alles auf den helvetischen Nationalmythos der Alpenfestung, die Reduit-Schweiz. Für den Fall einer Invasion organisiert er die Verteidigungsstellung in der Innerschweiz. Das bedeutet, die Nordschweiz zu opfern und dafür in diesem Moment der Verunsicherung und Hoffnungslosigkeit die sakrale Aura der Berge zurück zu gewinnen – lang verschüttet zwar, im Bedarfsfall aber nach wie vor das Erhabenste. Guisans Rückgriff auf den identitätsstiftenden Mythos der Schweiz gibt der verängstigten Bevölkerung wieder Mut. Wie tausende von Landsleuten bringt Dr. Giger seine Familie erst einmal ins Gebirge. In Flims, fünfzig Kilometer von Chur, besitzt die Familie ein Ferienhaus, immerhin ein Refugium.

    Genau genommen steht dieses Haus im Ortsteil Foppa, wobei im Dorf selbst noch ein bäuerliches Anwesen existiert, das Hans-Richard Gigers Mutter mit ihrer Schwester bewohnt. Das Foppa-Haus ist eins dieser Erinnerungsnester, was durchaus wörtlich zu nehmen ist angesichts der uteralen Nester und Gänge, die das Kind ins Stroh des Stalls und in das ländliche Gerümpel höhlt. Gute 500 Jahre hat das Anwesen überdauert, obgleich es in einem Bergsturzgebiet liegt. Dass schon lange kein Unglück mehr passiert ist, kann keineswegs eine Garantie für die Zukunft sein, weshalb die Flimser ihre Angst vor Bergrutschen nie gänzlich verlieren. Eine solche von den Bauern Rüfe genannte Überflutung begrub zweihundert Jahren zuvor das Parterre, so dass der Hauseingang seit da in das erste Stockwerk führt, während das Parterre selbst einen zweiten Keller bildet.

    Hauptbühne der Kindheit aber ist und bleibt das Haus in der Storchengasse. Über der Apotheke die Wohnung – unter der Apotheke das Kellergewölbe. Ein Lieblingsplatz ist der Erker, der aus der zweiten Etage überhängt auf eine der engen, sonnenabgewandten Gassen des mittelalterlichen Stadtkerns. Hier sitzt der Bub und zeichnet. Seit seine Hand einen Stift halten kann, zeichnet er und zeichnet. Unermüdlich und immer wieder neu: Burgen, Züge, Geisterbahnen. Nur eins ist manchmal schöner: das Modellieren. Darum vergisst die Mutter nie, ihr Söhnchen mit dem nötigen Plastilin zu versorgen. „Mit fünf Jahren hatte ich alles unter Kontrolle! Vor allem was die Storchengasse anging. Ich saß auf meinem erhöhten Kindersitz mit halbrundem Tischchen im Erker und konnte so vom Postplatz bis zur Kurve, wo sich die Musterschule befindet und die Plantanenstraße steil zum Hof ansteigt, alles überblicken. Ich machte Musik, indem ich laut sang und mit der drahtigen Fliegendatsche laut auf die Wand schlug." (HR Giger Rh+, 1997) So sicher wie der Erker eins mit dem Haus ist, so sicher trägt die mütterliche Anwesenheit das Kind. Die Mutter – und das Radio. Schöne Stimmen fluten aus dem mystischen Gehäuse, singen Mona Lisa und Old Man River. Besser zum Mitschmettern und Mitklopfen (Fliegenklatsche) aber kommen aktuelle deutsche Schlager, Woogie Boogie oder Lieder in Schwyzerdütsch wie Stägeli uf, Stägeli ab. Radio Beromünster sendet Hörspiele wie Ueli der Knecht nach einem Roman von Jeremias Gotthelf. Diese Erzählstimmen sind Stunden selbstvergessener Aufmerksamkeit, besonders, wenn die Mutter im Hintergrund friedlich klappernd die Hausarbeiten verrichtet. Doch jenseits jeder Konkurrenz läuft ein Hit ganz anderer Art, das kulinarische Großereignis mit dem Namen Dr. Wander Erdbeerpudding. Der süß-künstliche Früchteduft zieht aus der Küche in den Erker und verwandelt die Luft in ein rosarotes Aroma.

    Lockungen der Gefahr verheißt die verwinkelte Architektur des Storchengassen-Hauses. In den Räumen hinter und über der Apotheke sind Geheimlager und Abenteuerhöhlen, in denen sich Kinderwünsche nach Fremde und Ferne ausbrüten. Die optischen Kicks für die Phantasie liefert die Steinfels-Seife. In jedem der grünen Päckchen liegen Sammelbilder bei mit Motiven aus J.F. Coopers Der letzte Mohikaner und Karl Mays Old Shatterhand-Romanen. Hansruedi klebt zwei Sammelalben sowie einen Klebebogen voll.

    Was sich da auch studieren lässt, sind die Waffenarsenale der Wild-West-Helden, was den Realitätssinn schärft und die Erkenntnis bringt, dass die Feinde überall lauern. Er rüstet auf, bastelt Dolche, Kriegsäxte, Pfeil und Bogen. Die Entscheidungsschlachten finden im Flimser Wald statt. Flims hat auch eine andere Seite als seine gefährliche Bergromantik.

    J.F. Cooper, Lederstrumpf, Cover um 1930

    Die Großmutter und Tante, bei denen Hansruedi in Flims zu Besuch ist, sind deprimierende alte Frauen, deren Gespräche um nichts als Reinlichkeit, Krankheit und Tod kreisen. Es gibt nicht viel, das sich dieser grauen Stimmung widersetzt, gegen die ein Kind in diesem Alter nicht immunisiert sein kann – immerhin doch eine Landschaft aus Gerüchen von Stall, Holzrauch und frisch gebackenem Brot. Es erfordert Geduld, bis die alten Damen wieder auftauchen aus ihrem Krankheits- und Todestiefgang, nur in diesen Momenten nämlich nehmen sie Notiz von dem Kind. Mehr ist nicht zu erwarten. Es könnte das Haus auf den Kopf stellen, und würde dabei nicht ein einziges Spielzeug ausgraben. Die Erfahrungen tödlicher Sauberkeit und Langeweile werden allein überboten durch die erste Erfahrung mit menschlicher Brutalität. Das sensible Kind leidet unter der Erbarmungslosigkeit, mit der die Bauern ihre Tiere behandeln. Lebenslang wird jene Szene nicht zu vergessen sein, in der ein Dörfler auf seine Kuh eindrischt, so lange, bis das Tier tot liegen bleibt. Kein Wunder, dass Hansruedi immer wieder froh ist, zurück in der Storchengasse und Apotheke zu sein.

    Aus den Basler Chemiewerken treffen regelmäßig Medikamentenlieferungen ein. Eines Tages liegen in einer der Kisten neben den Medikamenten zwei Totenschädel. Wie diese makabren Objekte den Weg in die Steinbock-Apotheke in Chur gefunden haben, bleibt rätselhaft. Der Vater zeigt sie dem Jungen und deponiert sie bei dem überflüssigen Kram, der sich über die Jahre im Geschäft ansammelt. Als niemand weiteres Interesse bekundet, bringt Hansruedi die Gratisbeigabe der Medikamentensendung in seinen Besitz. Wie er sich mit diesem Objekt doch ein wenig übernommen hat, merkt er, als bei der Berührung seine Hand von dem Knochen wie elektrisiert zurück schreckt. Eben doch ein Schädel, ungewohnt, grau, verstaubt obendrein. Zudem fehlt der Unterkiefer. Aber Hansruedi gewöhnt sich und zieht diesen zweifelhaften Überrest an einer Schnur hinter sich her, bis auch letzten Zähne ausgebrochen sind. Für den Vater als Doktor der Medizin lernt der Sohn seine erste Lektion menschlicher Anatomie, wohingegen die Mutter als Arztund Apothekergattin sich über ein originelles Spielzeug amüsiert.

    Von ihrer international orientierten Kindheit und Jugend bewahrt Melly sich ihre Originalität. Sie verteidigt sie gegen die oft bedrückende Monotonie der nach außen wie abgeschotteten Alpenstadt. Ihre Kleider bestellt sie in Paris oder näht selber nach den neuesten Schnittmustern, während sie die Erfüllung kühnerer Wünsche bis zur amtlichen Chaoswoche des Karnevals aufschiebt. Wenn die Welt kopfsteht, blüht sie auf wie ein exotisches Gewächs. Jetzt kann sie ihre Phantasie frei lassen und ungestraft zeigen, welcher Natur die Anregungen sind, die sie unbemerkt von ihrer Umgebung aufnimmt. Karneval 1945 geht sie als Surrealistin. Ihr Kostüm ist benäht mit Augen und den Formen abgelöster Gliedmaßen. Das buchstäbliche Highlight bildet ein in die Frisur eingebauter Leuchtturm mit blinkenden Birnchen. Den ganzen Aufbau hat sie allein konstruiert inklusive eines batteriebetriebenen Motors für die Blinklichtchen. In einem Land, in dem Frauen keine politischen Rechte haben, in einer beengten Alpenstadt mit Pflichtkultur und einem Milieu betonierter Geschlechterrollen: Wie soll eine Frau mit über den häuslichen Herd hinaus gehenden Ambitionen ihre – sicherlich naive – Kreativität am Leben halten, ohne Gefahr zu laufen, aus dem kleinbürgerlichen Rahmen zu fallen? Sie findet eine Lösung, indem sie sich auf Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs verlegt, bastelt Geschenke und gestaltet dazu künstlerische Etiketten. All dem voran aber versucht sie – wie viele kleinbürgerliche Mütter ihrer Epoche – ihrem Gefängnis dadurch zu entkommen, dass sie das ungelebte Leben mit allen anhängenden Hoffnungen an den Sohn delegiert. Er wird dereinst mehr draus machen können als sie selbst.

    Alpenstadt Chur

    4. Nabelsalbe für Kälber

    Der Desinfektionsgeruch der Krankenhäuser ist universell, wird überall auf der Welt mit Medizin assoziiert. In der Apotheke dominiert er ebenfalls alle anderen Lokalodeurs. Hansruedi lernt zu differenzieren, indem er jede Veränderung in der Gerüchelandschaft registriert. Je nachdem, welche Substanzen mit Luft in Berührung kommen, riecht es nach Zimt, Salbei oder Minze. Zu besonderen olfaktorischen Ereignissen werden Salben. Beim Öffnen der Dosen treten Aromen aus, die sich in keiner Erinnerung mehr verfangen. Gerüche sind das, die nichts sind als sie selbst, so synthetisch fremd.

    Neben der Erinnerung hat auch die Neugier ihren Sitz in der Nase. Mit der naturgegebenen kindlichen Vorwitzigkeit treibt der Vater seine Späße. Was wohl in dieser Flasche sein könnte? Wenn er langsam den Glasstopfen herauszieht, wirds spannend. Dann „dürfen" die Kinder riechen – ein Stich in die Stirnhöhle, so gehässig, dass der Kopf unwillkürlich zurück zuckt: Salmiak. Doch Gerüche können auch aufblühen. Sanft, geheimnisvoll und verlockend wie das süßliche Aroma, das Hansruedi lustvoll inhaliert, wenn er dem Apotheken-Assistenten, Florian Karst, bei der Herstellung von Opiumpillen zuschaut. Der Assistent schüttet pulverisiertes Opium in eine Flüssigkeit und zerstampft die Mischung im Mörser zu einem braunen Brei. Sobald der Brei zäh genug ist, wird er zu einer Kugel geknetet und die wiederum zu einer wurmartigen Rolle gewalkt. Die folgende und letzte Produktionsstufe ist zweifellos die interessanteste von allen. Der Wurm wird zu Kügelchen zerkleinert, bevor der mechanische Pillendreher zum Einsatz kommt, in dem der Stoff zu normierter Apothekerware endverarbeitet wird.

    Während die Beziehung zwischen Mutter und Sohn auf dem zuverlässigen Fundament aus Urvertrauen, Verständnis und Empathie ruht, wird der Vater ab einem gewissen Punkt immer ein Suchbild bleiben: „Meinen Vater kannte ich eigentlich kaum. Er war sehr verschlossen, sehr ehrlich, half allen, welche in Bedrängnis gerieten, war als Doktor und Apotheker wie auch als Präsident des Apothekervereins und der alpinen Rettungswache eine Respektperson." (HR Giger Arh+) Der Vater kann, vielleicht will er nicht aus sich heraus. Was es sein mag, das ihn dazu zwingt, seine Gefühle, Anschauungen und Einstellungen unter Verschluss zu halten, ist für ein Kind nur zu nehmen, wie es ist – zu verstehen? Nein! Und es wird keineswegs durchschaubarer für Hansruedi, wenn er beobachtet, wie sein Vater sich in einen vollkommen anderen Menschen verwandelt, sobald er sich in einer größeren Gesellschaft befindet. Er platzt aus seiner Alltagshaut und mutiert von einer Sekunde auf die andere zu einem Mann mit sensationellem Unterhaltungstalent, der mit seinen Einfällen und Witzen alle mitreißt. Kehrt der Alltag zurück, dann hat die Familie sich wieder auf seine Stille und Sparsamkeit umzustellen.

    Teller sind da, um leer gegessen zu werden, und was drauf kommt, sollte tunlichst das Billigste sein wie überhaupt alles, was einzukaufen ist. Seine restriktive Einstellung zu Geld begründet Hans-Richard Giger mit den Entbehrungen seiner Jugend. Nicht leicht für Melly, die das Glück hatte, ohne Mangel aufzuwachsen. Nicht nur was Geld betraf, war sie verwöhnt von einem in allem großzügigen Vater. Eins immerhin scheint zur Sparsamkeit des Dr. Giger zu passen – es ist der kompromisslose Gerechtigkeitssinn, den Hansruedi als zweite Haupteigenschaft des Vaters ausmacht. Und dann ist da noch etwas, das sich in einem kindlichen Verstand kaum unterbringen lässt, weil es einen unauflösbaren Widerspruch zu der innerfamiliären Sparsamkeit bildet. Es ist jene besondere Facette von Gigers allbekannter Hilfsbereitschaft, dass diese bis zum Verleihen von Geld geht und zwar an jeden, der es gerade zu brauchen scheint.

    In den verwinkelten Räumen der Apotheke wird der Vater auch körperlich zum Teil eines Suchbilds. Bis in die letzte Nische ist alles so zugestellt, dass man sich kaum umdrehen kann. Die uralt gedunkelten Holzregale, heillos überfüllt mit Tuben, Packungen, Glas- und Keramikgefäßen, türmen sich bis zur Decke. Es geht weiter in die Gegenrichtung, wo die Masse der Behältnisse längst in den Keller expandiert ist. Jedes einzelne der Gefäße ist irgendwie, soll heißen, oft unverständlich beschriftet. Trotzdem sticht aus diesem enzyklopädischen Wörtersalat ein besonderes Schriftbild hervor: „Nabelsalbe für Kälber. Die schallenden „a’s aus der Kehle, unmittelbar besänftigt von den weichen „b’s" der Lippen, Säuglingslaute, die nicht aufhören im Kopf mitzuklingen. Welch ein Ausdruck! Sobald Hansruedi in die Nähe kommt, läuft sein wandernder Blick sich manisch an dieser Aufschrift fest. Wie ein frei hängender Vers, auf den keine Bedeutung passt, mit seiner Aura von Fremdheit sich für immer ins Gedächtnis einscannt.

    Weitere Räumlichkeiten, die an das Labor anschließen, sind das Magazin, in dem Retour-Flaschen herumstehen, und das Büro, alle drei verbaut von wuchtigen Schubladenschränken. Nicht zu vergessen der Giftschrank im sogenannten Kämmerli. Als wäre es nicht genug mit dieser bedrückenden Winkelarchitektur, macht ein düsterer Flur, der die Storchengasse mit einem Hinterhof der Parallelstraße verbindet, diese unheimliche Topographie endgültig zum Labyrinth.

    Das vertrauenserweckende Bimmeln der Ladenglocke wird zu einem Alarmsignal, als mitten in der Apotheke urplötzlich ein Mann steht und einen blutüberströmten Arm in die Höhe streckt. Das Blut, das nur so heraus sprudelt, sammelt sich zu einer schwarzen Pfütze um seine Füße. Am Storchenbrunnen, das ist nur ein paar Schritte oberhalb der Apotheke, hat dieser Mann sich beim Holzspalten die Axt in den Unterarm gehauen. Dr. Giger verbindet ihn, das Riechsalz für seinen Assistenten in Griffnähe. Der kann kein Blut sehen und kippt regelmäßig um. Für Erste Hilfe ist die Steinbock-Apotheke die zuverlässigste Adresse der Altstadt. Es sind vor allem solche Situationen, durch die der Doktor und Apotheker sich den Respekt vieler Menschen erworben hat, auch wenn er sonst eher einschüchternd wirkt. Bei jeder Gelegenheit, sich zu entziehen, sitzt er, nachdem er die Gespräche mit den Kunden und Patienten an Florian Karst delegiert hat, im Büro. Eigentlich bevorzugen die Leute den Assistenten, schätzen an ihm vor allem die unendliche Geduld, mit der er sich um sie kümmert. Dass er die Gabe besitzt, zuzuhören und auf die Kunden einzugehen, ist lediglich die Voraussetzung für seinen Nimbus, über das magische Supplement zu verfügen, das so manche Therapie überhaupt erst zum Laufen bringt. Wie in den Arzt immer auch der Schamane projiziert wird, so in den Apotheker der Alchimist. Diesen Part erfüllt Karst wie kein Zweiter.

    Die Welt als Konglomerat der Stoffe. Schon im Mittelalter diente diese Einsicht als Grundweisheit der Alchimie. In der Erkenntnis der Stofflichkeit der Welt manifestieren sich die Ursprünge all dessen, was sich historisch zu den Naturwissenschaften ausgewachsen hat. Egal wie magisch die Praktiken zur Manipulation der Stoffe ursprünglich besetzt gewesen sein mochten, letztendlich bildeten sie den Anfang allen wissenschaftlichen Experimentierens. Aber auch jenes Größenwahns, der in der Folge die Naturwissenschaften vorangetrieben und zu dem gemacht hat, was sie heute sind, denn Alchimisten waren Allmachtsphantasten, deren Begehren nach Wundermitteln und Wundertinkturen strebte. Ein Elixier sollte Dreck in Gold verwandeln, ein anderes als die Universalmedizin Krankheit, Alter und Tod besiegen. Selbst in der Epoche der Computermedizin hört es nicht auf, dass Ärzte durch solche magischen Brillen gesehen werden. Ebenso wenig lässt sich verhehlen, dass Ärzte den Nimbus dieses archaischen Rollenspiels im Guten genau wie im Schlechten einzusetzen wissen. Dem Dr. Giger lag nichts ferner, als sich mit derlei irrationalem Humbug zu identifizieren. In seiner Berufsauffassung war er immer auf der Höhe, jederzeit sachlich und praktisch orientiert.

    Kein Wunder, wenn in jenen Jahren viele Kunden sich lieber an den Opiumpillendreher Karst wenden. Er gibt ihnen viel mehr, als es zur schlichten Aushändigung von Arzneimitteln bedarf. Diese Kunden treibt ein starkes Bedürfnis um, über ihren Körper zu sprechen und Aufmerksamkeit für ihre Befindlichkeiten zu wecken, vor allem aber wollen sie wieder und wieder dasselbe hören. Und: Es ist Karsts Stimme. Angenehm im Ohr, sonor und tief, wie gesunken unter dem Gewicht der schweren Bedeutungen, die sie zu transportieren hat. Bekanntlich reicht das Vertrauen in die Magie der Stimme viel tiefer als der Glaube an chemische Zusammensetzungen. Der Apotheker als Beschwörer – im Extremfall als Scharlatan. Waren die gierigsten Klienten der Alchimisten nicht die mittelalterlichen Könige und Alchimisten nicht durchtriebene Trickster? Dass magische Praktiken die Macht der Kirche untergraben, ist die politische Seite. Wie man weiß, war es im Mittelalter Usus, dass vom Kräuterweiblein bis zum Alchimisten alle, die in Verdacht gerieten, etwas mit Magie zu schaffen zu haben, von der Kirche als Teufelspaktierer verfolgt wurden. Den Teufel sah man in Bocksgestalt – der Bock ist im Wappen des Bischofs, im Wappen der Stadt Chur sowie im Emblem der Steinbockapotheke.

    Eine andere Art Magie entfachen die Mittel selber. Verbotene Wirkungen und Nebenwirkungen für besondere Zustände. Dementsprechend gibt es spezielle Patienten, die die Churer Apotheke frequentieren. Sie hoffen auf die Sprachmagie ihrer Überredungskünste, denn sie wissen genau, was sie hier wollen. Unter derlei Fachleuten jedenfalls hat sich die Steinbock-Apotheke bis Zürich herumgesprochen, weil man, sofern man nur lang genug auf den Doktor einredet, Präparate bekommen kann, die ohne ärztliche Indikation nicht über den Ladentisch dürfen. Dr. Giger schafft es kaum, diese Menschen, für die er übrigens ein souveränes Verständnis aufbringt, unverrichteter Dinge abziehen zu lassen.

    Fast zum zweiten Wohnsitz wurde sein Stammtisch. Skat klopfen und Meinungen kundtun. Der Stammtisch und die Liebe zu den Bergen, worin sonst sollte Dr. Giger sich als urwüchsiger Schweizer zeigen? Entrückt, hoch droben auf dem Gipfel das Licht, die Helle, die in der Talstadt fehlen, die Weite und Freiheit, die sich schon bei seinen jugendlichen Überlandfahrten vor ihm ausgedehnt haben. Der größte Vorteil ist es, dass man hier keine Menschen zu sehen kriegt. Schwerere Touren, richtige mit Seil, unternimmt er am liebsten mit seiner Frau, während die Wanderungen seine Familientage sind. Das ist die wahre Entspannung, so gelöst wie er dann wirkt. In Kauf nehmend, dass das Interesse der Kinder sich in Grenzen hält, erklärt er unermüdlich, aus welchen Bergen das Panorama sich zusammensetzt.

    Dorli Goldner, ein Mädchen aus der Fremde und zwei, drei Jahre älter als Hansruedi, wird für einige Wochen unter dem Dach der Gigers leben. Nachdem die Schweiz in diesem bestialischen Krieg auf eine fast wundersame Weise davon gekommen ist, legt der Staat ein humanitäres Hilfsprogramm für kriegsgeschädigte Kinder auf. Er wirbt dafür, dass Schweizer Familien diesen Kindern wenigstens auf eine absehbare Zeit eine Art seelisches Refugium bieten mögen. Für Dr. Giger eine jener Situationen, in denen er zu handeln gewohnt ist. Die ganze Familie fährt in ein Dorf an der Grenze zu Österreich, wo auf dem Bahnsteig bereits Dutzende Kinder warten. Akkurat aufgereiht und jedes mit einer Karte um den Hals, auf der der Name der Gastgeberfamilie steht. Das Mädchen, das man den Gigers zugeteilt hat, ist aus Österreich und heißt Dorli Goldner.

    Ein Mädchen als neues Familienglied, doch keine Schwester, wird für Hansruedi eine neue Erfahrung. Dorli geht schon in die Schule und erzählt lebhaft, was so alles los war in der Schule. Die täglichen Berichte ergänzt sie mit Bildern, die sie im Unterricht gezeichnet hat. Warum Dorli mit diesen vielen anderen Kindern am Bahnsteig stand anstatt bei ihrer eigenen Familie in Innsbruck zu sein, bleibt eine Angelegenheit, wo der einfühlsame Junge sich nicht nachzufragen traut. Etwas mit dem Krieg, soviel genügt – soviel muss genügen – das beredte Schweigen macht klar, dass die genauen Gründe sehr schlimm sein müssen.

    Es bleibt nicht aus, dass Iris, Hansruedis sechs Jahre ältere Schwester, sich mit der neuen Mitbewohnerin zu befassen beginnt. Das passiert eher indirekt über die Theatervorstellungen, die sie mit ihrer Freundin Ruth inszeniert. Schauplatz ist der dunkle Flur,

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