Toscana Daimon: Liebe deinen nächsten wie dich selbst. Dann stand er vor dem Spiegel.
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Buchvorschau
Toscana Daimon - Heinz-Dieter Vonau
Once in a lifetime
Nach einer lang gezogenen Kurve, in der uns die Fliehkräfte im Taxi aneinander drücken, erscheint an der linken Seite der Straße ein alter Pferdewagen, mit Kürbissen beladen. Kein Verkäufer. Man kann anhalten, etwas nehmen und bezahlt in eine kleine, unverschlossene Kasse. Schau an, denk ich mir, manchmal gelingen die einfachsten Sachen mit den einfachsten Mitteln: Vertrauen schafft Vertrauen.
Der Fahrer dreht am Radio und bleibt bei den Talking Heads hängen - Once in a lifetime:
"You may find yourself behind the wheel of a large automobile
You may find yourself in a beautiful house with a beautiful wife
You may ask yourself, well, how did I get here?"
Nach der Kurve erinnere ich mich, wieder Fliehkraft unabhängig, an die Zeilen. Ich lebte in München und wollte den mittleren Ring entlang ins Büro. In einem weißen Lancia Kappa SW, von Pininfarina gestaltet, ein Traum von einem Auto, den mir die Messebaufirma, für die ich freiberuflich arbeitete, erlaubte zu fahren. Ein ganz normaler Tag, nichts ging mehr im Stau. Ich war umgeben von 80-100kg-Individualisten, die sich schlaftrunken im Highländer-Modus, mit Hilfe von 1000 kg Stahl von Punkt A nach Punkt B bewegten, im allein selig machenden Modus: Es kann nur einen geben, wenn es um Vorfahrt geht. Ich stand in der Spur, die darauf angewiesen war, dass man ihr zum Einfädeln Platz lässt, Reißverschlusssystem. Ich war der Einzige, der davon schon mal etwas gehört hatte. Und dann im Radio dieses Lied. Für einen Moment lüftete das Leben den Schleier der Alltäglichkeit und ließ einen ungetrübten Blick mit Reflexionspotential auf das eigene Sein zu. Du hast alles, was da beschriebenen wird, alles was man zum Leben braucht, um zufrieden sein zu können. Ein großes Auto, ein schönes Heim, eine wunderschöne Frau und als Zugabe ein aufgewecktes, kleines Kind … aber … wie zum Teufel bist du da hingekommen? Wolltest du das jemals? Ich bin ein Spross der 68er Generation, die alles Tradierte in Frage gestellt hatte und nach Änderung schrie: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment." Was hat mich zu dem Ort gebracht, von dem ich eigentlich weg wollte? Im Refrain kommt die Antwort:
Same as it ever was - Same as it ever was
In der Spiegelung der Türglasscheibe sehe ich, wie ich mich selbst betrachte. Ein Beobachter beobachtet sich beim Beobachten. Der Blick erweitert sich und geht durch mein Spiegelbild hindurch in die vorbeiziehende Landschaft. Von leicht unter Wasser stehenden schwäbischen Wiesen und Weiden längsseits der Jagst, hinauf zu den sanften Hängen ansteigender Weinberge. Ein angenehmes Gefühl ästhetischer Liebenswürdigkeit tut nicht nur meinen Augen gut. Der Gedanke: Das Leben kann doch verdammt schön sein, zelebriert meine momentane Empfindung. Ich möchte den Augenblick teilen und sehe Nadine an. Sie schaut auf ihrer Seite aus dem Fenster. Wie schön, mit einem Menschen zusammen arbeiten zu dürfen, der auch ein Interesse an Entwicklung hat, dessen Selbstwertgefühl sich nicht in der Dominanz der eigenen Wichtigkeit erschöpft. Eine Frau mit der man das Ideal jeder Zusammenarbeit leben kann, die Unterordnung des Selbst unter ein gemeinsames Ziel.
Nadine spürt meinen Blick und wendet den Kopf. Sie sieht mich an. Ihre Gedanken hinter dem wie üblich zu starken Makeup, drängen bereits weiter in die Zukunft. Kaum ist das Eine zu Ende, schon strebt sie nach dem Nächsten. Sie interpretiert meine Aufmerksamkeit ihr gegenüber als Aufforderung zum Reden und es strömt aus ihr heraus: Ihr nächstes Projekt, ein Selbsterfahrungsseminar in Italien. Hat sie schon mal gemacht mit Freunden, in der Toskana. Diesmal wollen sie ein paar neue Ideen ausprobieren. Sie haben auch schon ein Thema: „Daimon, deine Bestimmung im Leben". Meine Frage, wozu das gut sein soll und wer da was bestimmt, geht in ihrer Begeisterung, mit der sie sich selbst davonreißt, unter. Ich schwimme eine Weile mit, höre einfach nur zu und folge meinen eigenen Gedanken. Wann war ich eigentlich das letzte Mal als Teilnehmer auf einem Seminar? Nur mit mir selbst beschäftigt, dem Geheimnis der eigenen Persönlichkeit auf der Spur. Wehmut und etwas Neid steigen in mir hoch. Habe ich lange nicht mehr gemacht. Ab und an zwar daran gedacht, aber nicht getan. Wenn ich meine finanziellen Möglichkeiten betrachte, liegt das momentan einfach nicht drin. Ich bin Freiberufler und arbeite nach Auftragseingang, der bei weitem nicht so kontinuierlich ist wie er sein könnte, eher sporadisch. Meine Seminare finden nur ein paar Mal im Jahr statt.
Der Taxifahrer dreht das Radio auf und singt laut mit:
„You can´t always get what you want" …
(Michael Jäger von den Rollenden Steinen)
Graue Wolken ziehen über eine gigantische Landbrücke, auf der unzählige Autos in entgegengesetzten Richtungen bestimmten Zielen entgegen hetzen. „Komm doch mit, holt mich Nadine aus meinen Betrachtungen, „… ist bestimmt interessant für dich.
Ihre hellen, auffordernd begeisterten Blicke fangen mich ein. Was? Wie jetzt? Ich zu einem Seminar mit dem Thema „Daimon, die Bestimmung meines Lebens"? Ich, der noch nie wusste, was er will? Den Niemand in seiner Aufzucht je nach seinem Willen gefragt hatte? Der immer dem folgen musste, was andere für richtig hielten? Dem einige in seinem Leben gesagt haben, wo es lang geht. Wobei jedoch nichts mit der Kapazität darunter war, ein Leben zielgerichtet und erfolgreich ausrichten zu können. Im tiefen Inneren lungert die Überzeugung, dass ich nichts bin, nichts kann und auch nie etwas können werde. Die Indoktrination von: My father´s ghost looks over my shoulder. Ich bin die Inkarnation eines fremdbestimmten Lebens. Und dem Ganzen soll eine Bestimmung zugrunde liegen? Außerdem liegt der Begriff Daimon verdächtig nah an dem eines Dämonen.
Der Taxifahrer überholt einen älteren Herrn in einem VW-Lupo und schimpft in tiefstem schwäbisch über dessen Fahrweise. Das Radio wiederholt den Refrain:
„You can´t always get what you want" …
Während ich mich meinen Überlegungen weiter hingebe, beginnt die Verszeile meine Gedanken zu verhöhnen. Es kommt was kommt, eine meiner Lebensdevisen. Akzeptieren was ist und dann entscheiden, ob ich etwas damit zu tun haben will. Das macht der Kopf mit dem Gefühl aus. Irgendetwas mischt da noch mit, das weigert sich allerdings, mit offenen Karten zu spielen. Ist immer nur in Andeutungen vorhanden und spekuliert auf eine Einsicht, die neben einem nicht allzustark ausgeprägten Willen die Karte „Ja oder „Nein
hebt. In diesen inneren Eintopf gestoßen entdecke ich nach einer Weile in einer abgelegenen Ecke meines Bewusstseins einen gewissen Reiz gegenüber dem Angebot. Der wird natürlich sofort hinterfragt. Ohne Fragen läuft bei mir gar nichts. Kann ja jeder kommen: Öffnet sich hier eine Tür zu irgendetwas? Sollte Mr. Jagger mit seiner Bemerkung, man könne nicht alles haben was man möchte, mich gemeint haben? Handelt es sich bei der Aussage womöglich nicht um eine Aussage, sondern um eine Frage? Statt du kannst nicht! … Du kannst nicht? Sollte womöglich doch eine Art von Bestimmung hier ihr Spielchen mit mir spielen? Liegt die Hand irgendeines Daimon schon auf meiner Schulter? Es passiert ja nichts im Leben ohne eine Bedeutung. In diesem Moment, genau jetzt, diese Liedzeilen. Ein Potential zu irgendetwas schwingt immer mit. Mein laut plauderndes Hirn liefert auch gleich ein paar Antworten: Nun ja, es könnten natürlich neue Erfahrungen drin liegen, unbekannter Landstrich, unbekannte Menschen, unbekannte Bereiche meiner inneren Welten, unbekannte Frauen … In vages Lächeln eingepackt schleicht sich eine Meinung Nadine entgegen und erkundet die Möglichkeiten: „Wie teuer ist das denn? Nadine lächelt kokett: „Du bist natürlich mein Gast. Brauchst du nur den Selbstkostenpreis zahlen. Und die Fahrt kostet dich auch nichts. Du fährst mit uns im Bus.
Sieben Tage Toskana. Die Urlaubsgegend deutscher Lehrer. Fand ich schon immer interessant. Mal raus aus allem, ein kleiner Break, die Welt aus anderen Augen betrachten, nur für mich selbst verantwortlich sein, mit minimalen Kosten. Das wär doch was, das müsste doch irgendwie zu machen sein…!?
Hätte ich auch nur geahnt, auf was ich mich einlassen würde, wäre mir das wohlige Gefühl jetzt schon im Hals stecken geblieben.
Möckmühl – Würzburg
(Nahverkehrszug)
Auf dem Bahnhof verabschiede ich mich von Nadine. Ihr Zug kommt auf Bahnsteig eins. Sie fährt nach links, Richtung München. Ich sehe dem Zug hinterher. Meiner fährt vom Bahnsteig zwei, nach rechts. Dazu muss ich die Gleise überqueren. Ein fleckiger Teerteppich ist eine Herausforderung für meinen Trolley. Dauernd bleibt er hängen. Überbleibsel einer Zeit, von der ein Ortsnamensschild am Vordach des Bahnhofs erzählt. Große schwarze, altdeutsch verschnörkelte Buchstaben auf weißer Emaille: Möckmühl . Ein vergessenes Relikt aus der Zeit, in der meine Eltern gelebt haben. Mein Vater hätte seine Freude daran. „Bitte zurücktreten, der Zug fährt ein". Kurz, sachlich, von einem lebenden Beamten gesprochen. Langsam schiebt eine Diesellok die Waggons vor sich her. Auch ohne Platzreservierung finde ich problemlos einen Platz direkt am Fenster. Lasse mich von langsamer Bewegung des abfahrenden Zuges in die entrückenden Bilder des alten Städtchens fallen, das schon in der Jungsteinzeit besiedelt war. Einfallslos funktional gestaltete Industrieansammlungen ziehen vorbei, erinnern an die Jetztzeit. Es folgt eine hügelig bewaldete Landschaft, deren Aussehen sich permanent im Licht eines zur Neige gehenden Tages ändert. Ich passe mich der Tageszeit an und dämmere ebenfalls dahin. Pappeln in einer Reihe an einem Bach. Erinnern mich an Zypressen. Sieht es in der Toskana nicht so ähnlich aus? Mmmmh.