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Gesellschaft ohne Ideologie - eine Utopie?: Was die Naturwissenschaft von heute  zur Gesellschaftsordnung von morgen beitragen kann
Gesellschaft ohne Ideologie - eine Utopie?: Was die Naturwissenschaft von heute  zur Gesellschaftsordnung von morgen beitragen kann
Gesellschaft ohne Ideologie - eine Utopie?: Was die Naturwissenschaft von heute  zur Gesellschaftsordnung von morgen beitragen kann
eBook737 Seiten8 Stunden

Gesellschaft ohne Ideologie - eine Utopie?: Was die Naturwissenschaft von heute zur Gesellschaftsordnung von morgen beitragen kann

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Über dieses E-Book

Der Mensch ist ein soziales, staatenbildendes Lebewesen. Seine individuelle und kulturelle Entwicklung und die seiner Gesellschaft erfolgt teils spontan selbstorganisiert und teils aufgrund seiner geistigen und kollektiven Fähigkeiten. Die Menschen sind dabei sowohl die Elemente der gesellschaftlichen Prozesse als auch die Gestalter der Strukturen und sozialen Wechselwirkungen. Ausgehend von diesem Modell und dem Stand der aktuellen westlichen Gesellschaft werden u.a. folgende Probleme behandelt, zusammen mit Lösungsansätzen dafür: Der Einfluss von Ideologien auf die Soziodynamik, die Rolle der Parteien, die Rolle Medien und der Desinformation, die Defekte der Demokratie, der Nutzen des Kapitalismus, die begrenzte Anwendbarkeit des freien Marktes, der Missbrauch der Finanzsysteme, der Missbrauch der Globalisierung, der Schwund der Verantwortung, der Missbrauch von Instinkten und die schleichende Entmündigung der Bürger. Mit der naturwissenschaftlichen Arbeitsweise ist es möglich, Modelle und Konstruktionsregeln für die Gesellschaft zu entwickeln, die nicht der Beliebigkeit der Politik und der Geisteswissenschaften unterworfen sind.

"Ihre Publikation enthält eine Fülle von hochinteressanten Überlegungen, deren interdisziplinärer Ansatz zu vielen wertvollen Anregungen sowie Schlussfolgerungen führt."
Prof. Christoph Braunschweig, Wirtschaftswissenschaftler, Hayek-Club Salzburg

"Ausgehend von dem grundlegenden Prinzip des emergenten Aufbaus der Welt von der Physik über die Chemie, Biochemie und Biologie entwickelt der Autor einen neuen Ansatz zum Verständnis der Strukturen und Prozesse der menschlichen Gesellschaft. Dies ermöglicht neue Sichtweisen auf die ideologische Basis unserer zeitgenössischen politischen Akteure und erklärt ihr Handeln. Seine fundierte Analyse - im Vergleich mit Modellen über die menschliche Gesellschaft im Laufe der Geschichte - bietet Ansätze für eine grundsätzliche Therapie."
Prof. Hilmar Lemke, Biochemiker und Immunologe, Uni Kiel
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. Feb. 2019
ISBN9783748227618
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    Buchvorschau

    Gesellschaft ohne Ideologie - eine Utopie? - Günter Dedié

    1 Mensch und Gesellschaft

    „… was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können." (F. de Waal [119])

    1.1 Spezies Mensch

    „Das langgesuchte Zwischenglied zwischen dem Tiere und dem wahrhaft humanen Menschen – sind wir." (K. Lorenz [62])

    Menschen brauchen sowohl persönlichen Freiraum als auch die Symbiose mit der Gesellschaft. Der Freiraum fördert Spontanität und Pluralismus. Die Symbiose erfordert Strukturen und Regeln. Freiraum und Symbiose lassen sich im Rahmen fairer Regeln gut miteinander verbinden.

    Der Homo sapiens ist kein Einzelkämpfer, sondern ein soziales, staatenbildendes Lebewesen. Er hat sich aufgrund dieser Fähigkeit bisher ungemein erfolgreich entwickelt. Die Ordnung und die Funktion der menschlichen Gesellschaft ist deshalb auch für seinen weiteren Erfolg oder Misserfolg von großer Bedeutung.

    Leser: Der Mensch soll ein staatenbildendes Lebewesen sein? Das verstehe ich nicht. Bisher hatte ich mir darunter Bienen oder Ameisen vorgestellt.

    Autor: Ihre Vorstellung trifft natürlich zu. Aber die menschliche Gesellschaft ist doch offensichtlich auch in Staaten und andere menschliche Institutionen organisiert, bis hin zur Familie.

    Leser: Bei den Menschen ist doch aber alles ganz anders als bei den Ameisen!

    Autor: Naja, nicht alles, aber vieles schon. Der größte Unterschied besteht darin, dass die Staaten der Bienen und Ameisen auf die Wirkung ihrer Gene zurückgeführt werden können. Deswegen spielen genetische Verwandtschaften dort eine große Rolle. Auch die vielzelligen Lebewesen kann man als Staaten ansehen, die sich auf Basis der Gene nach der Befruchtung aus einer ersten Zelle gebildet haben. Die Staaten der Menschen mit ihren Sozialordnungen sind aber auf Basis ihrer emotionalen Kompetenzen und vor allem ihrer geistigen Fähigkeiten entstanden. Das ist ein enormer Paradigmenwechsel in der Entwicklung der Welt. Dabei spielen, wie wir noch sehen werden, kulturelle Verwandtschaften eine viel größere Rolle als genetische Verwandtschaften.

    Leser: Dieser Unterschied leuchtet mir ein, mehr aber auch nicht. Sie werden ja sicher noch mehr dazu schreiben.

    Autor: Natürlich, das ist ja mein Anliegen. Dazu folgen noch viele Seiten. Jetzt möchte ich aber zunächst das Thema Sozialordnung etwas vertiefen.

    Die Frage einer „guten" Sozialordnung ist eng verbunden mit der Frage nach dem Sinn des Lebens für die Menschen und ihre Gesellschaft. In beiden Fällen geht es um die mittel- bis langfristigen Interessen, Ziele und Erwartungen. Die Interessen der einzelnen Menschen müssen dabei mit den Zielen und Erwartungen der menschlichen Gesellschaft zusammenpassen. Um das zu veranschaulichen, möchte ich in Anlehnung an Terry Eagleton [21] als Beispiel eine Jazzband betrachten. Sie kann als Modell für einen Prozess der erfolgreichen, innovativen Zusammenarbeit von einzelnen Menschen in einer Gemeinschaft dienen und gleichzeitig die Bedeutung von Regeln für diese Zusammenarbeit aufzeigen. Sie ist deshalb ein einfaches, aber gleichzeitig auch sehr treffendes Beispiel für eine Erweiterte Ordnung, vgl. 1.16.

    Die Musiker einer Jazzband sind frei in ihrem musikalischen Ausdruck, sie dürfen und sollen „improvisieren". Sie nutzen diese Möglichkeit jedoch mit einfühlsamer Rücksichtnahme auf die Harmonien des zugrundeliegenden Musikstücks, eine verabredete Ordnung der musikalischen Darbietung aus Soli und Tutti und auf die Ausdrucksfreiheit der anderen Musiker der Band. Daraus ergibt sich eine komplexe Harmonie, die nicht aus einer Partitur stammt. Jeder einzelne Musiker kann die anderen Musiker inspirieren. Es gibt - im Rahmen der o.g. Ordnung - keinen Konflikt zwischen der Freiheit und Selbstverwirklichung des Einzelnen und dem Wohl des Ganzen. Aus der gemeinsamen künstlerischen Leistung erwachsen Freude und Zufriedenheit durch die damit verbundene freie und gleichzeitig geordnete Entfaltung der einzelnen Musiker, sowie durch einen erfolgreichen Auftritt.

    Hayek hat diese Erfahrung verallgemeinert: „Die Verhaltensweisen, die zur Entstehung spontaner Ordnung führen, haben viel mit den Regeln eines Spiels gemein.[42] Ein damit verwandter Aspekt ist der Wettbewerb. Auf die große Bedeutung des Spiels für die Entwicklung der Ordnung und Kultur der Gesellschaft hat schon Johan Huizinga (1872 - 1945) hingewiesen. Ein Spiel sei ein Prozess, bei dem „… die Einhaltung allgemeiner Regeln durch die Spieler, die verschiedene und oft entgegengesetzte Ziele verfolgen, eine Gesamtordnung bewirkt[42].

    Die Symbiose von Individuen und Gesellschaft ist auch allgemein von großer Bedeutung: Seit Adam Smith (1723 - 1790) ist bekannt, dass sie nur mit einer gewissen Ordnung in der Gesellschaft erfolgreich ist [101]. Smith’s Staatstheorie geht davon aus, ebenso wie später die Nationalökonomie Ludwig von Mises (1881 - 1973) [73], dass durch die Arbeitsteilung von Menschen und gesellschaftlichen Institutionen die Produktions- und Abstimmungsverhältnisse erheblich komplizierter werden. Deshalb ist eine detaillierte Planung durch eine Regierung oder eine andere zentrale Institution nicht möglich. Es ist deshalb viel besser, die Selbstorganisation unabhängiger individueller Interessen zuzulassen und zu nutzen (sog. Pluralismus). Ein naheliegender gesellschaftlicher Rahmen dafür ist ein Rechtsstaat mit folgenden zentralen Aufgaben: Schutz der Staatsgrenzen, Schutz der Bürger der Gesellschaft vor Ungerechtigkeit und Unterdrückung, Realisierung öffentlicher Aufgaben, die für Einzelne nicht finanzierbar sind, wie zum Beispiel das Unterrichts- und Transportwesen, sowie Durchsetzung und Schutz des Privateigentums als wichtige Motivation für das Engagement und die Selbstverantwortung der Bürger. Dieses Modell ist später auch unter dem scherzhaften Namen „Nachtwächterstaat" bekannt geworden, und war immer wieder ein weltanschaulicher Zankapfel, bis hin zu der Frage, ob man überhaupt einen Staat braucht.

    Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Menschen können und benötigen beides: Die Integration in der Gesellschaft und die vielbeschworene „Selbstverwirklichung" als Individuum. Das ist wie bei Staren und anderen Lebewesen, die einen Schwarm bilden können: Die Fähigkeit zum Schwarm bedeutet für die Stare nicht die Aufgabe ihrer Individualität, denn auch sie können und benötigen beides, abhängig von der Jahreszeit und der Situation, in der sie sich befinden (siehe 4.3).

    Da bei den Menschen der Staat entwicklungsgeschichtlich eine relativ neue „Technologie" ist, gilt auch für ihn die übliche Regel für neue Technologien: Man kann sie mit Gewinn nutzen, aber auch missbrauchen. Das ist wie bei den Waffen, der Kernspaltung, der Genmanipulation, dem Internet, der Globalisierung u.v.a.

    Ein einfaches Beispiel dafür ist die Erfindung des Messers: Man kann damit Brot schneiden oder Menschen töten, abhängig von der für die Technologie „Messer" geltenden Ethik und Moral.

    Für die Frage, was eine gute Sozialordnung insgesamt ausmacht, einschließlich der damit verbundenen Wirtschaftsordnung, können uns beispielsweise die empirischen Untersuchungen von Daron Acemoglu und James A. Robinson weiterhelfen [1]. Sie haben sich jahrelang mit der Frage beschäftigt, warum sich unterschiedliche Nationen sehr unterschiedlich entwickelt haben und auch heute noch krasse Unterschiede zwischen arm und reich bestehen. Sie unterscheiden dabei zwischen inklusiven und extraktiven Gemeinschaften in der Gesellschaft, die vergleichbar sind mit symbiotischen und schmarotzenden Gemeinschaften in der Natur. Ich gehe in einer späteren Episode darauf genauer ein, werde aber stets die Bezeichnung „symbiotisch statt „inklusiv verwenden, weil für den Begriff „inklusiv" in der BRD eine andere Bedeutung üblich ist. Der Sinn solcher Untersuchungen und Überlegungen zur Gesellschaftsordnung liegt nach Eagleton [21] darin, dass ihr Ergebnis die Richtung aufzeigt, in der sich die Gesellschaft entwickeln sollte, auch wenn das Ziel selbst immer nur sehr schwer erreicht werden kann.

    Der Begriff „Sozialordnung" (oder auch: soziale Ordnung) wurde von dem Soziologen Max Weber (1864 – 1920) geprägt und von Émile Durkheim (1858 – 1917) weiter ausgearbeitet. Sie wird auf der Basis von Kollektivität erklärt, ist mit der Existenz von gesellschaftlichen Institutionen verbunden und beruht auf der Verbindlichkeit von sozialen Regeln. Ich verwende den Begriff Sozialordnung hier wegen seiner Herkunft (Weber, Durkheim, Hayek u.a.) meist synonym zum Begriff Gesellschaftsordnung, soweit ich nicht zwischen Sozialordnung und Wirtschaftsordnung unterscheiden muss.

    Durkheim hat schon im 19. Jhdt. eine wachsende wechselseitige Abhängigkeit von Individuen und Gesellschaft konstatiert, die er durch die fortschreitende Arbeitsteilung erklärt [19]. Die Individuen werden zwar laufend autonomer, sind aber wegen der zunehmenden Arbeitsteilung immer mehr auf die Zusammenarbeit (er nennt das bevorzugt Solidarität) in der Gesellschaft angewiesen. Bei frühen Gesellschaften entsteht Zusammenarbeit auch durch den Druck, gemeinsame Traditionen oder Anschauungen zu befolgen. Bei neueren Gesellschaften kommt aufgrund der Arbeitsteilung eine Art Gesellschaftsvertrag hinzu, mit Strukturen und Regeln, in die die Individuen kulturell und materiell eingebunden sind, denn die komplexe Arbeitsteilung und die zunehmend komplexeren Produkte und Dienstleistungen der entwickelten Industriegesellschaft kann der einzelne Mensch nicht mehr selbst erzeugen oder durchführen und in ihren Auswirkungen kaum noch überblicken (vgl. 1.17). Deshalb ist hier die Kooperation wichtiger als die Solidarität.

    Durkheim hat empirisch gearbeitet, denn der soziale Tatbestand war für ihn die Grundlage der soziologischen Analyse. Eine soziale Struktur existiert aus seiner Sicht unabhängig von denen, die sie erschaffen haben, sie ist für ihn ein „Emergenz-Phänomen. Sie wirkt als „Gesellschaft von oben (wie ein Ordnungsparameter, vgl. 1.23 und 4.1) auf die Individuen ein und kann von den Soziologen beobachtet und durch die funktionale Analyse der Wirkung und die historische der Entstehung erklärt werden [19]. Durkheim hat damit bereits in den 1920er Jahren Trends erkannt, die bis heute eine immer größere Rolle spielen.

    Die Sozialordnung und ihre Regeln gelten für alle beteiligten Individuen und Institutionen einer Gesellschaft. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass die Sozialordnung unabhängig von den Individuen existiert, diese aber den Strukturen und Regeln der Sozialordnung unterworfen sind. Ihre Nichtbeachtung ist mit Sanktionen verbunden. In der Gesellschaft bildet sich ein kollektives Bewusstsein, das den jungen Menschen durch Erziehung vermittelt wird und mit der Zeit die Kultur und die Moralvorstellungen der Gesellschaft entwickeln hilft.

    1.2 Zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft

    Die menschliche Gesellschaft entwickelt sich sowohl spontan im Rahmen der sozialen Interaktionen der Menschen und Institutionen als auch geplant als Ergebnis eines bewussten gesellschaftlichen Entwurfs. Das Wachstum der Weltbevölkerung auf 7 Mrd. Menschen wäre ohne die Erfindung der Landwirtschaft und die großen Innovationen der Industrialisierung nicht möglich gewesen.

    Das gesellschaftliche Konzept aus Sicht der Emergenz ist die spontane Sozialordnung. Hayek bezeichnete dies 1961 [43] als „… eine polyzentrische Ordnung, ungerichtet und ungeplant, die durch die Wechselwirkung vieler Individuen und vorgegebener Randbedingungen entsteht." Außerdem enthält sie Regeln in Form von Verboten. Wie alle Ergebnisse spontaner Selbstorganisation ist auch die spontane Sozialordnung zunächst wertfrei, d.h. weder gut noch böse. Aber wie sah es und sieht es mit der tatsächlichen Realisierung von Sozialordnungen in der menschlichen Gesellschaft aus? Hier kommen nicht nur die geistigen Fähigkeiten und die technischen Errungenschaften der Menschen ins Spiel, sondern auch ihre Fehler und Schwächen, die die Organisation der Gesellschaft massiv beeinflussen.

    Wann und wo hat es spontane Sozialordnungen in diesem Sinne gegeben? Alle menschlichen Sozialordnungen sind natürlich selbstorganisiert, weil von den Menschen selbst geschaffen. Im engeren Sinne spontan haben sich wahrscheinlich nur die Großfamilien und kleine Gruppen des Homo sapiens gebildet, vielleicht auch noch größere Gruppen wie Stämme. Auch heute noch können spontan Gruppen, Bürgerinitiativen oder kleine Vereine entstehen, um vorübergehend oder regelmäßig gemeinsam Musik zu machen, das Anliegen von Bürgern zu vertreten, Fußball zu spielen usw.

    Später kommen soziale Organisationen als Ergebnis eines bewussten gesellschaftlichen Entwurfs hinzu [43]. Damit sind die Menschen mit ihren geistigen Fähigkeiten die Urheber eines dramatischen Paradigmenwechsels in der Evolution, denn die Entwicklung der Lebewesen war davor überwiegend das Ergebnis emergenter selbstorganisierter Prozesse auf Basis der Gene, aber nicht das Ergebnis von geplanten Prozessen auf Basis geistiger Fähigkeiten. Die geistigen Fähigkeiten der Menschen sind wie jede Innovation mit Chancen und Risiken verbunden; ihre „Anwendung erfordert deshalb ethische Regeln. Aus den vielen „unmenschlichen Grausamkeiten der Menschen und ihrer Institutionen in ihrer Geschichte kann man erkennen, dass die Regeln und ihre Anwendung unzureichend waren und sind. Bei Tieren haben sich derartige Regeln zusammen mit der Evolution entwickelt und sind in den Genen „fest verdrahtet", z.B. die sog. Beißhemmung im Fall innerartlicher Aggression [62].

    Die Entwicklung der Menschen war sehr früh mit der Bildung von Großfamilien und Gruppen mit entsprechender Kooperation der Individuen verbunden. Wichtige Meilensteine dabei dürften gewesen sein:

    • Die gemeinsame Jagd, denn die Verteilung der Beute (insbes. des Großwilds) und die Benutzung von Jagdwaffen (seit etwa 2,5 Mio. Jahren) förderten die Zusammenarbeit (Kooperation). Dadurch wurde es auch möglich, größere Tiere zu erlegen, schwerere Gegenstände zu handhaben usw. Die Kooperation hilft allen Beteiligten und wird deshalb bei der Evolution mit der verbesserten Wettbewerbsfähigkeit kooperierender Gruppen belohnt.

    • Das Wissen dazu und die damit verbundenen sozialen Fähigkeiten waren eine frühe kulturelle Leistung der Menschen, noch vor der Entwicklung der Arbeitsteilung [76].

    • Die für die Jagd notwendigen Waffen ebnen auch die sozialen Unterschiede ein, zwischen starken und schwachen Individuen oder großen und kleinen Gemeinschaften.

    • Die Beherrschung und Nutzung des Feuers (seit etwa 1,5 Mio. Jahren).

    • Die Nutzung von dauerhaften Lagerstätten einer Gemeinschaft wie geschützte Höhlen (seit etwa 1 Mio. Jahren), und damit die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung [73].

    • Die Notwendigkeit der Bewältigung der sozialen Konflikte, die mit der Arbeitsteilung und dem dauerhaften Zusammenleben auf engem Raum verbunden waren.

    • Aber auch: Gelegenheit und Muße für spezielle handwerkliche und künstlerische Tätigkeiten infolge der verbesserten Lebensbedingungen.

    Die Arbeitsteilung bei der Jagd, bei der Aufteilung der Beute und das Zusammenleben in den Lagerstätten hatte eine spontane Selbstorganisation der dabei zweckmäßigen Aufgaben und Rollen zur Folge. Dies führte zu vielfältigen und teilweise uneigennützigen (altruistischen) Beziehungen in einer Gruppe, die man auch eusoziales Verhalten nennt.

    Leser: Was soll ich unter eusozialem Verhalten verstehen?

    Autor: Bitte ein klein wenig Geduld; in der nächsten Episode wird das ausführlich erläutert.

    Die frühen Jäger haben wahrscheinlich kleine Gemeinschaften gebildet, in denen sie weitgehend gleichberechtigt waren. Deshalb waren Verhaltensweisen und Regeln zur Eindämmung von übermäßiger Dominanz und von Betrug notwendig. Die Regeln führten mit der Zeit zu ersten kulturellen Werten einer solchen Gemeinschaft. Diese Entwicklung könnte vor etwa 250 000 Jahren begonnen haben.

    Wie bekommt man Profiteure und Parasiten in derartigen Gemeinschaften in den Griff? Die Spieltheorie kann sehr nützlich sein, um soziale Prozesse und Strukturen nachzuvollziehen und zu begreifen [76]. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass man mit der Spieltheorie auch nichtlineare Prozesse modellieren und simulieren kann, für die es keine Lösungen gibt, die mit mathematischen Funktionen beschrieben werden können.

    Eine bekannte, zentrale Fragestellung zum kooperativen Verhalten ist beispielsweise das sog. Gefangenendilemma. Die Simulationen dazu zeigen, dass die anfangs kooperative, später aber konsequente Strategie „Tit for Tat (in etwa „wie du mir, so ich dir) allen anderen Strategien überlegen ist [5, 76], vor allem den egoistischen Strategien. Entscheidend für ihre Wirkung ist aber, dass viele Kooperationszyklen durchlaufen werden, und dass die Strategie konsequent durchgehalten wird. Diese Strategie berücksichtigt nur das Verhalten von Individuen untereinander, aber nicht die Prozesse zwischen Individuen und ihren Gemeinschaften. Ein Schritt in diese Richtung sind die Experimente von Fehr und Gächter mit vielen Personen und unterschiedlichen Spielen, bei denen die Kooperation kritisch von der Möglichkeit abhängt, egoistisches Verhalten zu bestrafen („altruistic punishment") [152L].

    Zurück zur Arbeitsteilung: Sie machte in einer Rückkopplung die weitere Spezialisierung und Weiterentwicklung der Fähigkeiten der Individuen und der Gruppe möglich, und damit eine bessere Bewältigung des Lebens, mehr Unabhängigkeit von der Umwelt und verbesserte Konkurrenzfähigkeit mit anderen Gruppen:

    • Abstraktes Denken und erste Ansätze zum Gebrauch der Sprache könnten vor ca. 70 000 Jahren entstanden sein.

    • Das Gehirn des Homo sapiens hatte bereits vor ca. 50 000 Jahren eine Kapazität und eine Leistungsfähigkeit erreicht, die als Basis für die rasche Evolution der menschlichen Fähigkeiten und Kulturen ausreichend war.

    • Vor etwa 35 000 Jahren gab es beim Homo sapiens offenbar einen großen kulturellen Schub mit der Entwicklung der Sprache und künstlerischen Fähigkeiten wie Felsgemälden, Elfenbeinschnitzereien und einfachen Musikinstrumenten.

    Der Mathematiker und Sprachforscher Keith Devlin skizziert die mögliche Entwicklung der Sprachfähigkeit folgendermaßen: Am Beginn standen Wortpaare wie „ich Tarzan, du Jane" als sog. Protosprache für das Hier und Jetzt. Um zukünftige und gemeinsame Aktivitäten sinnvoll sprachlich ausdrücken zu können, war bereits die gesamte grammatikalische Struktur der Sprache nötig, erst recht bei der Planung und Koordination von unterschiedlichen Gruppen an unterschiedlichen Orten. Die Sprachstruktur war deshalb für die Entwicklung des Homo sapiens unverzichtbar und hat sich als genetisch angelegte Repräsentation (vgl. 1.8) evolutionär entwickelt.

    Zur Rolle der Landwirtschaft

    Vor etwa 10 000 Jahren wurde zunächst die Nutztierhaltung und später in mindestens drei weit voneinander entfernten Regionen der Welt der Ackerbau „erfunden". Das hatte eine erheblich verbesserte Lebensgrundlage zur Folge, und nach Josef Reichholf eine Steigerung der Produktivität pro Flächeneinheit um den Faktor 10 und mehr [88]. Ackerbau und Viehzucht könnten dort entstanden sein, wo Mangel herrschte, insbesondere an jagdbarem Wild, oder nachdem die Dichte der Bevölkerung zugenommen hatte. Damit begann die Herausforderung, ein „Revier" zu kontrollieren und zu verteidigen, dass zum Überleben ausreicht. Noch ohne staatliche Autorität mussten (Familien-)Clans ihren Besitz schützen, und dazu ggfs. Bündnisse mit anderen Clans schließen. Mit dem Ackerbau wurde die Vorratshaltung wichtig, die ebenfalls die Sesshaftigkeit verstärkte und den Schutz der Vorräte notwendig machte. Damit waren neue Herausforderungen an die Fähigkeiten der Gemeinschaft und der Individuen verbunden.

    Auf der Basis der zehnfach höheren Produktivität von Ackerbau und Viehzucht im Vergleich zur „Ökonomie der Jäger und Sammler bildeten sich Dörfer und Städte sowie vor etwa 5000 Jahren die ersten Staaten. Diese sog. „Neolithische Revolution verlief offenbar sehr rasch, als ein sich selbst verstärkender Prozess: Jede Verbesserung im Lebensunterhalt machte weitere soziale und handwerkliche Fortschritte möglich, und umgekehrt.

    Wie könnte dieser demografische Wandel abgelaufen sein? Als „Schöpferische Katastrophe" im Sinne Schumpeters [122L] oder als allmählicher horizontaler Transfer der neuen ökonomischen Kultur zu den Jäger- und Sammlergemeinschaften? Nach Debora Rogers waren die egalitären Gemeinschaften der Jäger und Sammler über zehntausende von Jahren sehr stabil. Wegen des großen Risikos beim Erfolg einer Jagd war Kooperation und Teilen der Beute überlebenswichtig für die Gemeinschaft. Es gab kaum privates Eigentum und die Bildung von zu viel persönlicher Macht wurde wahrscheinlich unterdrückt. Erst seit etwa 5000 Jahren entwickelten sich hierarchische Gemeinschaften als Folge der aufkommenden Landwirtschaft (Anm.: die gibt es nach den meisten Quellen schon seit 10 000 Jahren), des damit verbundenen Eigentums und der Arbeitsteilung. Der dadurch verbesserte Lebensstandard führte zu einer höheren Vermehrungsrate der hierarchischen Gemeinschaften. Insgesamt wurden sie den egalitären Gemeinschaften überlegen und es entstand ein Expansionsdruck und dadurch inhärent instabile Verhältnisse. In der Folge wurden die Territorien der egalitären Gemeinschaften allmählich von den hierarchischen Gemeinschaften erobert. Diese Alternative sei durch die Simulation entsprechender mathematischer Modelle bestätigt worden [118L].

    Jared Diamond sieht in seinem Buch zu den weltweiten Schicksalen menschlicher Gesellschaften [18] nach der letzten Eiszeit vor 13 000 Jahren vor allem klimatische und geografische Faktoren am Werk, die mit der Erfindung und Verbreitung von Landwirtschaft und später der Industrialisierung die sehr unterschiedliche Entwicklung maßgeblich beeinflusst haben. (Bei der Industrialisierung vernachlässigt er aber den Einfluss der Religionen.) Im Fall der Landwirtschaft war die nach Kontinenten und Regionen sehr unterschiedliche Verfügbarkeit von „domestizierbaren Pflanzen und größeren Säugetieren ausschlaggebend, sowie die „Diffusion der Nutzpflanzen, die in Eurasien innerhalb des gemäßigten Klimas weiträumig möglich war, in Amerika wegen des Nord-Süd-Verlaufs der meisten Gebirge aber nicht. Für die langfristige Wirkung der landwirtschaftlichen Nutzung war die Niederschlagsmenge ausschlaggebend: Im regenarmen Vorderen Orient führte die Übernutzung aufgrund der wachsenden Bevölkerung zu massiven Erosionsschäden, zur Versteppung und damit zur Vernichtung der landwirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft, geradezu zu einem ökologischen Selbstmord. Der Schwerpunkt erfolgreicher landwirtschaftlicher Kulturen verschob sich allmählich in das regenreichere und damit landwirtschaftlich robustere Westeuropa [18].

    In Japan dagegen gab es wegen seines regenreichen und gemäßigten Klimas noch mehr als 10 000 Jahre nach der Erfindung der Landwirtschaft in China und Korea eine sehr wohlhabende Jäger- und Sammlerkultur, die weltweit erstmals Keramikgefäße für die Vorratshaltung erfunden hatte und deshalb sesshaft werden konnte. Dies wurde auch begünstigt durch die isolierte Lage Japans und seine starke geografische Gliederung, die überall eine Vielfalt von Ernährungsmöglichkeiten geboten hat.

    Diamond bewertet die Folgen der Erfindung der Landwirtschaft eher negativ: Er kommt zu dem Schluss: „Für die meisten Menschen brachte die Landwirtschaft Infektionskrankheiten, Fehlernährung und eine verkürzte Lebenserwartung. Zu den allgemeinen Veränderungen zählte, dass sich das Los der Frau verschlechterte und die (hierarchische) Klassengesellschaft begründet wurde".[17]

    Man muss die Landwirtschaft als neue Technologie sehen und bewerten: Neue Technologien bringen stets Chancen und Risiken mit sich. Für ihre Auswirkungen ist entscheidend, wie die Gesellschaft damit umgeht, und das ist eine Frage der damit verbundenen sozialen und ethischen Regeln. Hinzu kommt, dass die Verweigerung oder Verhinderung einer neuen Technologie an einer Stelle der Welt die Entstehung und Anwendung an anderen Stellen nicht verhindern kann; „die Entwicklung geht weiter, sie findet nur ohne Dich statt."

    Als Beispiele können die Hochseeschifffahrt und die Anwendung des Schießpulvers für Waffen dienen: Im historischen China verboten bzw. nicht angewandt, im historischen Europa als Basis für eine weltweite Expansion weiterentwickelt, allerdings verbunden mit ständigen Eroberungskriegen und ohne begleitende Entwicklung einer angemessenen Ethik.

    Mit der inhärenten Instabilität und dem Expansionsdrang hierarchischer Gesellschaften wurde von Diamond noch 1995 sogar der moderne Kolonialismus „gerechtfertigt[17]. Beim Ausblick auf die Zukunft der Menschheit ist Diamonds Prognose sehr negativ. Soweit es den Umweltschutz und die Erhaltung der Arten betrifft, schreibt er: „War die Vergangenheit ein Goldenes Zeitalter der Unwissenheit, so ist die Gegenwart ein Eisernes Zeitalter vorsätzlicher Blindheit. Das Goldene Zeitalter hat es aber nie gegeben, denn auch die vorindustriellen Gesellschaften haben häufig und in vielen Regionen der Welt die Umwelt zerstört und Tierarten ausgerottet. Die vorsätzliche Blindheit kann vermieden werden, wenn wir unser großes Wissen angemessen nutzen, statt es von Ideologien und seichter Unterhaltung zumüllen zu lassen.

    Die „Erfindung von Ackerbau und Viehzucht wird auch immer wieder mit der Erfindung der Arbeit in Beziehung gesetzt: „Im Schweiße deines Angesichts …. Dabei wird angenommen, dass die Tätigkeit der Jäger und Sammler keine Arbeit war. Der Arbeit, obwohl oft wenig beliebt, kann man aber auch sehr positive Aspekte abgewinnen: Für Reichholf ist Arbeit genau die Fähigkeit, die die Menschen von höheren Tieren unterscheidet, und eine entscheidende Voraussetzung für seine weitere Entwicklung zum modernen Menschen [115L]. Das „extrem lange Leben" der Menschen sieht er als biologischen Ausnahmefall; Kindheit und Jugend als zwei unterschiedliche Phasen des Heranwachsens. Spezifisch für die Menschen ist auch die lange Lebensphase nach dem Ende der Vermehrungsfähigkeit. Sowohl die Jugend als auch das Alter seien besondere Chancen für die kulturelle Weiterentwicklung der Menschen.

    Bei der Rolle der Arbeit bezieht sich Reichholf auf einen Essay von Friedrich Engels von 1876: „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen[25]. Darin vertritt Engels im Sinne der Evolutionstheorie die Ansicht, dass die Arbeit den (Vor-) Menschen zum Menschen gemacht hat, und dass Arbeit somit zum Menschsein gehört: „Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums … aber sie ist noch unendlich mehr … sie hat den Menschen selbst geschaffen.

    Es bleibt aber die Frage: Wie hat sich die Fähigkeit zur Arbeit und die „Arbeitslust (Reichholf) entwickelt? Engels sieht den „entscheidenden Schritt darin, dass „vor mehreren hunderttausend Jahren bei der uneingeschränkten Fähigkeit zum aufrechten Gang die Hände für andere Tätigkeiten frei geworden sind. Aus Sicht der evolutionären Entwicklung dürfte das der „Keim für die weitere, sich selbst verstärkende Entwicklung gewesen sein. Was kam hinzu? Der verlängerte, adulte Spieltrieb? Die Vorsorge für den Winter? Oder einfach mehr freie Zeit durch die verlängerten Lebensphasen?

    Die wissenschaftliche Arbeit wird häufig mit kindlichem Spieltrieb von Erwachsenen verglichen, bei der Arbeit der Ingenieure liegt heutzutage der Vergleich „Lego für Erwachsene" nahe. Diese Metaphern dürften nicht so ganz falsch sein.

    Schon Engels hat darauf hingewiesen, dass die Arbeit auch zu mehr Gelegenheiten und Notwendigkeiten für die Kooperation der Menschen und für mehr Bewusstsein vom Nutzen der Kooperation geführt hat. Mit der Kooperation wuchs auch der Bedarf, sich durch Gesten und Laute zu verständigen. Je komplexer die Kooperation, umso wichtiger wurde eine Sprache, mit der die komplexen Prozesse abgestimmt und beschrieben werden können. Engels weist schon darauf hin, dass Haustiere die Sprache und die Emotionen ihrer menschlichen Partner soweit zu verstehen lernen, wie es ihrem tierischen „Vorstellungskreis entspricht. Aber den „Unterschied zwischen Affenrudel und Menschengesellschaft macht für Engels letztlich die Arbeit aus.

    Er kritisierte aber damals schon, dass „die Menschen sich daran gewöhnten, ihr Tun aus ihrem Denken zu erklären, statt umgekehrt, „…so entstand mit der Zeit jene idealistische Weltanschauung, die namentlich seit dem Untergang der antiken Welt die Köpfe beherrscht ….

    Zur Industrialisierung

    Die nächsten großen innovativen Schritte zur Verbesserung der Produktivität und der Lebensbedingungen in der menschlichen Gesellschaft beginnen Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Erfindung von Maschinen und der Nutzung von Wasserkraft und fossiler Energie im Rahmen der Industriellen Revolution. Dadurch wurde die „Produktivität in der menschlichen Gesellschaft nochmal enorm gesteigert. Eine zur Erfindung der Landwirtschaft vergleichbare Zahl dieser Produktivität ist schwer festzulegen, weil bei der Industrialisierung die Angabe einer „Produktivität je Flächeneinheit nur eingeschränkt Sinn macht. Ich versuche es trotzdem mit einigen Kennzahlen neuerer Technologien, für die die Fläche eine Rolle spielt:

    Eine Photovoltaikanlage liefert pro ha und Jahr in Südostbayern ca. 1300 Megawattstunden (MWh) elektrische Energie, hochgerechnet von Messungen an einer Dach-Anlage mit 10 Kilowatt Leistung. Windräder liefern 500 – 1 000 MWh, abhängig von Lage, Größe und Abstandsregeln. (Die energetische Amortisation ist für Photovoltaik-Anlagen in Deutschland nach etwa zwei Jahren erreicht, für Windkraftanlagen in einer deutlich kürzeren Zeit.) Zum Vergleich: Ein Wald erzeugt jedes Jahr pro ha bis zu 20 Ster nachwachsendes Holz (das entspricht ca. 40 MWh Energie), Energiemais ca. 40 t Mais-Trockenmasse (ca. 40 MWh) und ein Rapsfeld ca. 1200 l Rapsöl (ca. 10 MWh).

    Das macht zumindest beispielhaft die Größenordnung klar, um die es bei der Verbesserung der Produktivität durch die Industrialisierung aufgrund der Verfügbarkeit von Energie geht: Die als Beispiel bezifferte nachhaltige Erzeugung von Energie mittels Photovoltaik oder Windrädern übertrifft die Erzeugung mit Energiepflanzen um einen Faktor von etwa 30 bzw. 20 (in Deutschland; Stand 2017). Man erkennt an diesen Zahlen auch, dass die hoch subventionierte Erzeugung von Biogas keine Chance hätte, wenn es eine wirtschaftliche Lösung für die Speicherung photovoltaisch oder mit Windrädern erzeugter elektrischer Energie gäbe, beispielsweise in Form einer kostengünstigen Synthese von Methan oder Methanol mit Hilfe eines geeigneten Katalysators.

    In der BRD werden ca. 5% der Produktion elektrischer Energie in ca. 9000 Biogasanlagen erzeugt. Die Subventionen dafür betragen ca. 6 Mrd. € (Stand 2016). Eine „durchgestochene" Kalkulation der Umweltfreundlichkeit habe ich nicht gefunden.

    In den USA oder anderen Staaten in heißen, sonnigen Klimazonen könnten große Mengen Strom für die dort vordringliche Kühlung durch Klimaanlagen mittels Photovoltaik erzeugt werden, oder auch für die Meerwasser-Entsalzung (heute wird 1 l Öl für die Entsalzung von 1 l Wasser benötigt). In beiden Fällen ist dafür keine Speicherung der elektrischen Energie nötig.

    Ein weiteres Beispiel zur Industrialisierung zeigt auf, welche enorme Auswirkung die Nutzung von elektrischer Energie als Ersatz für bzw. die Verstärkung von menschlicher Arbeitskraft hat:

    Frage: Wie oft muss ein Bauarbeiter einen Zentner Zement (50 kg) in den 3. Stock eines Neubaus tragen (ca. 10 m hoch), bevor er damit die Arbeit verrichtet hat, die ein Baukran mittels 1 kWh elektrischer Energie bewältigt (Kosten pro kWh ca. 28 ct)? Antwort: 735 Mal. Diese Rechnung habe ich als Physiklehrer meinen Schülern der Mittelstufe oft vorgestellt; das Ergebnis hat sie immer ziemlich beeindruckt.

    Bei den technologischen Vorleistungen zur Industrialisierung sieht Diamond [18] Westeuropa bis etwa 1500 nur als Nutznießer von Entwicklungen im Vorderen Orient und in China, ohne dabei allerdings den Einfluss der katholischen Kirche zu berücksichtigen, die den Fortschritt in Wissenschaft und Technik viele Jahrhunderte lang gezielt unterdrückt hat. Von dem mit der Industrialisierung möglichen verbesserten Wohlstand haben zu Beginn vor allem die Besitzer der Maschinen und industriellen Unternehmen profitiert, später dann aber in einer Art „Kollateralnutzen" auch die gesamte Gesellschaft eines industrialisierten Staates und inzwischen allmählich auch die weltweite Gesellschaft. Die Entwicklung der industrialisierten Staaten war verbunden mit großen sozialen Umwälzungen, einem raschen Wachstum der Bevölkerung sowie einem beispiellosen wissenschaftlichen und künstlerischen Aufschwung.

    Beispiel Ammoniaksynthese [89]: Die Ernährung der Weltbevölkerung durch landwirtschaftliche Produkte war bis Ende des 19. Jahrhunderts für ca. 1,5 Mrd. Menschen ausreichend. Ein großer Engpass war die Versorgung der Nutzpflanzen mit verwertbarem Stickstoff, denn der Chilesalpeter in Südamerika ging zu Ende. Durch die Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens zur Synthese von Ammoniak und seine industrielle Anwendung konnte dieser Engpass beseitigt werden. Heute ist etwa jedes dritte Stickstoffatom in unsrer Nahrung industriell erzeugt worden.

    Wie jede neue Technologie hat auch die technische Ammoniaksynthese Nachteile: Ihr Bedarf an Primärenergie ist sehr hoch (über Nitrat-Kunstdünger wird unseren Nahrungsmitteln mehr (derzeit fossile) Energie zugeführt als durch die Photosynthese der Pflanzen) und sie erlaubt die unbegrenzte Produktion von Sprengstoff. Außerdem geraten durch Überdüngung Nitrate in Flüsse und Meere und reduzieren dort durch übermäßiges Algen- und Pflanzenwachstum den Sauerstoffgehalt des Wassers.

    Diamond sieht auch bei der Industrialisierung den Einfluss geografischer Faktoren [18], beispielsweise in der Entwicklung von Europa und China, zwei etwa gleich großer und klimatisch vergleichbarer Regionen. In Europa herrschte seit Jahrhunderten staatliche Zersplitterung, weil es durch die Alpen und andere geografische und kulturelle Faktoren schwer zu vereinheitlichen war [18]. Daraus ergab sich ein Pluralismus der Staaten, der mehr Chancen für die Entwicklung und Anwendung neuer Technologien bot, als ein europäischer Zentralstaat, weil die Staaten miteinander im wirtschaftlichen und militärischen Wettbewerb standen. Der militärische Fortschritt wurde durch die ständigen Religionskriege gefördert. Der wirtschaftliche Fortschritt konnte von der katholischen Kirche nicht verhindert werden, weil die industrielle Revolution im 18. Jhdt. in England begonnen hat, das sich schon im 16. Jhdt. von der katholischen Kirche abgekoppelt hatte.

    China war im Gegensatz dazu geografisch weniger gegliedert und seit Jahrtausenden zentral und einheitlich beherrscht. Das hat einerseits Innovationen gefördert, andererseits aber mehrfach zum Verbot ihrer Anwendung durch die zentralisierte Staatsmacht geführt. Beispielsweise wurde im 15. Jahrhundert die Hochseeschifffahrt verboten, in der China äußerst erfolgreich war, und die Werften für hochseetüchtige Schiffe zerstört. Auch die Herstellung mechanischer Geräte wurde verboten, und allgemein die Weiterentwicklung der Technik [18]. Das ist ein Beispiel von geopolitischer Bedeutung für die Nachteile zentralistisch und diktatorisch verwalteter Großreiche aufgrund des fehlenden Pluralismus.

    Mit dem Fortscheiten der Industrialisierung und ihren zunehmend komplexen Produkten, Systemen und Fertigungsprozessen entwickelte sich die Arbeitsteilung weiter zur Systementwicklung und -Fertigung mit dem Schwerpunkt der Zusammenarbeit im Team. Damit wurden die organisatorischen Aufgaben immer wichtiger, ebenso wie das dafür erforderliche Denken in Systemen. Da auch die Gesellschaft dadurch sehr viel komplexer geworden ist, geht es nicht nur um ein statisches Verständnis der Gesellschaft und der dabei verwendeten Begriffe, sondern um Strukturen, Prozesse und ihre dynamischen Gleichgewichte. Die Gesellschaft kann letztlich nur aufgrund der Kenntnis ihrer dynamischen, rückgekoppelten und nichtlinearen Prozesse verstanden werden. Spätestens bei diesem „Hub" in der modernen Gesellschaft haben die an statischen Begriffen orientierten Geisteswissenschaften den Anschluss verloren. Verstärkt und für jedermann sichtbar wurde diese Entwicklung seit dem Ende des letzten Jahrhunderts mit der weltweiten Umgestaltung der Arbeitswelt und des privaten Bereichs durch Computer und Netzwerke sowie die wachsende Automatisierung der Fertigung. Durch den Einsatz von autonomen und humanoiden Robotern wird die Gesellschaft zukünftig weiter umgestaltet, mit noch nicht absehbaren Folgen. Da auch die Gesellschaft aufgrund der wachsenden Komplexität der Technik und ihrer Produkte sehr viel komplexer geworden ist, ist ihr Management eine Aufgabe für Naturwissenschaftler und Techniker, die mit Komplexität umgehen können.

    Nach der marxistischen Hypothese des Historischen Materialismus sind den großen ökonomischen Innovationsschritten eins-zu-eins „gesetzmäßige Stufen in der Entwicklung der Gesellschaftsordnung zugeordnet: Die klassenlose Urgesellschaft, der Feudalismus (einschließlich Sklaverei, Leibeigenschaft usw.), der Kapitalismus und, nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus aufgrund seiner inhärenten Probleme, der „kommunistische Sozialismus als Vorstufe zum späteren Kommunismus (der nie erreicht wurde). Dabei haben die Marxisten aber nicht bedacht, dass es zusätzlich zur ökonomischen „Dimension" auch noch andere Dimensionen in der menschlichen Gesellschaft gibt: Die Motivation der Menschen, ihre Kultur, die Regierungsform, die Organisation der Unternehmen usw.

    1.3 Exkurs zur Eusozialität

    Eusoziales Verhalten einer Gruppe von Lebewesen ist gekennzeichnet durch uneigennütziges Verhalten, Arbeitsteilung, Zusammenleben mehrerer Generationen usw. Es ist die Grundlage für die Entwicklung der Kooperation und damit die der Gruppen und Staaten bei Tieren und Menschen. Bei den Menschen hat eusoziales Verhalten und die damit verbundenen sozialen Herausforderungen die Entwicklung des Gehirns sehr stark gefördert.

    Eusoziales Verhalten kennt man von den Insekten: den „Staaten" der Bienen, der Ameisen und der Termiten. Es ist gekennzeichnet durch das Zusammenleben einer Gruppe von Individuen der gleichen Art, die nicht notwendig miteinander verwandt sind, altruistisches Verhalten zeigen und eine Arbeitsteilung haben. In vielen Fällen kommt hinzu, dass nicht alle Individuen der Gruppe sich vermehren.

    Leser: Zwischenfrage: Was meinen Sie mit dem Zusatz „Exkurs"?

    Autor: Damit meine ich eine in den Text eingefügte kurze Ergänzung zur Vertiefung eines Themas, hier der Eusozialität. Wenn Sie sich für die Vertiefung nicht besonders interessieren, können Sie den Exkurs überspringen und gleich mit der nächsten Episode weitermachen. Die wichtigsten Begriffe und kurze Erklärungen dazu finden Sie auch im Glossar.

    Eusozialität scheint bei den Arten der wirbellosen Tiere sehr selten zu sein; sie ist nur in 15 der 2600 Familien bekannt, bei Wirbeltieren ist sie noch seltener [125]. Andererseits sind die eusozial lebenden Insekten ungemein erfolgreich und haben sich über die ganze Welt verbreitet. Besonders erfolgreich hat sich auch der Mensch als eusoziales Lebewesen entwickelt. Es wurde deshalb schon vorgeschlagen, das gegenwärtige Zeitalter nach ihm „Anthropozän" zu benennen. Auch der Übergang vom Einzeller zum Vielzeller hat eusoziale Aspekte: die Monopolisierung der Reproduktion der Zellen.

    Wie kann eine derartige Kooperation bei den Insekten entstehen und dauerhaft erhalten bleiben? Entscheidend ist der Nutzen sowohl für das Individuum als auch der für die Gruppe und die Art, und beides hängt in komplizierter Weise ab von der Lebensweise, der Nahrung und den Lebensbedingungen, sowohl in der Gegenwart als auch während der Entwicklung der Art in der Vergangenheit. Die Vorteile für die Gruppe sind die Arbeitsteilung, verbunden mit Spezialisierung und parallelen Arbeitsabläufen. Hinzu kommen die Vorteile des Pluralismus, insbes. die selbstorganisierten Prozesse der Futtersuche, der Steuerung des Klimas im Bau und der Verteidigung gegen äußere Feinde. Dabei beobachtet man immer wieder die Strategie, zunächst die Ressourcen sehr großzügig einzusetzen und später auf das Notwendige zu reduzieren.

    Beispiel: Bienen oder Ameisen schwärmen bei der Futtersuche zunächst individuell weit in alle Richtungen aus. Wird Futter gefunden, wird der Aufwand wieder auf die notwendigen Transporte verringert, z.B. mit der bekannten Ameisenstraße [15]. Bemerkenswert ist dabei, dass das ziemlich komplexe kollektive Verhalten durch relativ einfache Wechselwirkungen verursacht wird, den Schwänzeltanz der Bienen bzw. die Pheromonspur bei den Ameisen.

    Beispiel Bienenvolk: Da sich die Königin mit mehreren Drohnen paart, gibt es im Stock unterschiedliche Verwandtschaftsverhältnisse. Die Robustheit der Gesellschaft des Bienenstaats wird durch mehrere genetische Mechanismen gewährleistet, die interne Konflikte geringhalten: Chemische Signale der Königin sorgen dafür, dass die Arbeiterinnen ihre Aufgaben erfüllen und sich nicht vermehren können; Larven können nur durch eine Sonderbehandlung zu Königinnen werden; Arbeiterinnen können Larven nicht unterscheiden und deshalb keine bevorzugen; ein gewisses Konfliktpotential zwischen den Arbeiterinnen sorgt für eine gegenseitige Kontrolle usw.

    E.O. Wilson schreibt dazu: „It is the pattern of social interactions that creates the wisdom of the hives …"[125]. Bei Insekten haben sich die eusozialen Fähigkeiten genetisch entwickelt, bei höheren Lebewesen auf Basis der geistigen Fähigkeiten. Der zeitliche Vergleich ist ein Beispiel für den großen Unterschied der Evolutionsgeschwindigkeiten: Die Insekten haben ihren heutigen Stand der Eusozialität nach etwa 50 Mio. Jahren Entwicklung erreicht. Die Menschen haben einen wesentlich höheren Entwicklungsstand nach weniger als 1 Mio. Jahren erreicht; der größte Teil der menschlichen Entwicklung fällt in die letzten 100 000 Jahre.

    Auch die Entwicklung der Individuen profitiert von den Herausforderungen der Kooperation in der Gruppe: Bei Primaten wurde ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Größe und Komplexität des Großhirns und der Größe der sozialen Gruppe und Komplexität ihrer Beziehungen festgestellt. Besonders ausgeprägt sind die eusozialen Beziehungen bei den friedlicheren Verwandten der Schimpansen, den Bonobos [119]. Beim Homo sapiens wird die Komplexität der Beziehungen u.a. stark von der Paarbindung und der Monogamie bestimmt; beide stellen hohe Anforderungen an das Gehirn. Die Komplexität und die Intensität der Beziehungen bei Gruppen und Paaren machen immer wieder komplizierte Verhandlungen zwischen den Individuen notwendig, die offenbar einen großen Druck auf die Entwicklung des Gehirns ausgeübt haben [109].

    Beispiele sind die Bewältigung von Konflikten, die mit dem ständigen Zusammenleben auf engem Raum verbunden waren, und die Unterstützung der genetisch verankerten sexuellen Anziehung durch eusoziale Fähigkeiten, um eine jahrelange Partnerschaft möglich zu machen. Diese war für die immer längere Betreuung der Kinder notwendig. Zusammen mit den sozialen Kompetenzen wurde daraus die Liebe.

    Es gibt eine große Vielfalt von Beobachtungen und Erkenntnissen, dass bei Tier und Mensch der Egoismus und der Kampf ums Dasein von Natur aus nur einen kleinen Teil des Verhaltens ausmachen, und dass Symbiosen, Kooperation, Empathie und Altruismus eine größere Rolle spielen [119]. Warum ist dieser Teil unserer natürlichen Veranlagung in der modernen Gesellschaft oft nicht mehr zu erkennen?

    1.4 Emotionen und Körpersprache

    Emotionen bezeichnen die Gefühle eines Individuums, die sich auf eine ungewöhnliche Situation oder auf andere Individuen beziehen. Sie sind beim Homo sapiens entwicklungsgeschichtlich älter als die geistigen Fähigkeiten. Sie äußern sich im Gesichtsausdruck, der Körpersprache usw., sowie in automatisch ablaufenden Reaktionen auf evolutionär wichtige Ereignisse wie Flucht, Angriff u.ä.

    Mit Emotionen bezeichnet man Gefühle eines Individuums, die sich auf eine ungewöhnliche Situation oder auf andere Individuen beziehen. Eine präzise wissenschaftliche Definition für den Begriff und die Vielfalt der Emotionen gibt es nicht. Man vermutet, dass sich die neuronalen Träger von Emotionen in entwicklungsgeschichtlich älteren Teilen des Gehirns befinden, z.B. im sog. Limbischen System. Emotionen besitzen eine Schlüsselstellung für das artspezifische Verhalten höherer Lebewesen und werden als vorwiegend genetisch bedingt angesehen [76].

    Auf Basis von Emotionen wurde schon kommuniziert, lange bevor die geistigen Fähigkeiten des Gehirns ihren heutigen Stand erreicht und sich die Sprache entwickelt hatte: Gesichtsausdruck, Körpersprache (Haltung, Bewegungen), Veränderungen der Stimme usw. Deshalb ist das Erkennen von Gesichtsausdrücken beim Menschen gut entwickelt. Kinder haben diese Fähigkeit schon kurz nach der Geburt.

    Schon höhere Tiere kommunizieren mit Körperbewegungen und Lautäußerungen, die ihre emotionale Stimmung ausdrücken. Sie achten dabei auf kleinste Nuancen, die wir Menschen nicht wahrnehmen, weil wir primär mit der Sprache kommunizieren [61]. So können z.B. Hunde bei ihren Frauchen/Herrchen zuverlässig beobachten, ob sie/er beabsichtigt, mit ihnen spazieren zu gehen. Bei Konrad Lorenz [61] findet man dafür noch viele andere frappante Beispiele. Stimmungsäußerungen von Tieren sind aber nicht mit Absichten oder Aufforderungen verbunden; sie wirken auf andere Artgenossen nur, weil sie von ihnen erkannt und interpretiert werden [61]. Ausnahmen davon gibt es aber bei Haustieren wie Hunden, die es von den Menschen gelernt haben, Absichten kundzutun [61].

    Ein menschliches Gesicht soll 10 000 (wissenschaftlich) unterscheidbare Ausdrucksformen annehmen können. Für deren Untersuchungen gibt es eine Klassifizierung FACS (Facial Action Coding System). Auf dieser Basis werden meist sieben wichtige Emotionen unterschieden: Angst, Ekel, Wut, Freude, Verdruss, Überraschung und Missachtung. Diese Emotionen gibt es weltweit und unabhängig von der Kultur; sie sind ansatzweise schon bei höheren Tieren und sehr früh in der Evolution der Menschen entstanden. Aber auch hier gibt es kulturelle Unterschiede.

    Beispiel Körpersprache: In Mitteleuropa bedeutet Kopfnicken „Ja, in Griechenland und einigen anderen Ländern aber „Nein. Es wurde deshalb schon vermutet, dass dieser Unterschied zu den anhaltenden griechischen Finanzproblemen in der EU beigetragen haben könnte .

    Emotionen zu erkennen, beispielsweise am Gesichtsausdruck, ist aber nicht einfach. Das hat folgenden Grund: Obwohl sie in der Evolution entstanden, also biologisch bestimmt sind, sind sie nicht vollständig genetisch festgelegt, denn die Kultur hat die Emotionen stark beeinflusst. Das gilt besonders für die Menschen: Die geistigen Fähigkeiten werden benutzt, um die Emotionen zu kontrollieren und, wenn nötig, nicht zu sehr sichtbar werden zu lassen.

    Ein Beispiel dafür sollen die Japaner sein, bei denen es Ehrensache ist, keine Emotionen zu zeigen.

    Emotionen „auszuleben" und zu zeigen, kann sie verstärken.

    Beispiel: Der Stolz ist eine positive Selbstbewertung, bezogen auf eine Tat oder eine Haltung, und bezogen auf die dafür geltenden kulturellen oder persönlichen Werte. Stolz ist meist verbunden mit Freude. Wenn man sich erneut so verhält, könnte man erneut stolz sein und das positive Gefühl wieder empfinden. Dadurch entsteht eine positive Rückkopplung, die den Stolz verstärkt. Eine mögliche Folge davon ist auch die Verbesserung der Reputation und des sozialen Status in der Gemeinschaft, zumindest dann, wenn die Anderen das mitbekommen und akzeptieren. Stolz ist aber nicht gleich Übermut oder Hochmut. Übermut ist keine Emotion, sondern eine negative, oft gefährliche Einstellung von allgemeinem, meist nicht durch Erfahrung begründetem Selbstbewusstsein. Hochmut ist ähnlich dazu, betrifft aber mehr die herablassende Haltung Anderen gegenüber.

    Es ist nicht einfach, Emotionen absichtlich überzeugend darzustellen.

    Ein Beispiel ist das „künstliche" Lächeln, dass oft anders wirkt als das natürliche, ungezwungene Lächeln.

    Emotionen kann man als komplexe, größtenteils automatisch ablaufende, von der Evolution gestaltete Programme für Situationen ansehen, die in der Vergangenheit lebenswichtig waren und eine sofortige Reaktion nötig gemacht haben; z.B. die Flucht vor einem plötzlich auftauchenden Feind. Die Motivation zu einer bestimmten Handlung orientiert sich dabei an einem Vergleich der aktuellen Situation mit der notwendigen oder gewünschten Situation, sowie der erwarteten Auswirkung möglicher Handlungen. Im Notfall reagiert das Lebewesen primär auf emotionaler Basis, oft „Instinkt" genannt. Wenn genug Zeit dafür da ist, werden Emotionen und Handlungen durch die geistigen Fähigkeiten des Großhirns modifiziert.

    Beispiel: Die Emotion „Wut" führt bekanntlich u.a. zur Ausschüttung von Adrenalin und dient damit entwicklungsgeschichtlich der Vorbereitung auf die körperliche Höchstleistung für eine Auseinandersetzung. Der mimische Gesichtsausdruck für Wut ist übrigens bei den Menschen in allen Kulturen gleich [22].

    Das Ziel einer emotionalen Handlung kann auch sein, die Empfindung einer positiven Emotion zu erhalten oder zu vergrößern, oder das Erleben einer negativen Emotion zu verkürzen oder zu verringern. In diesem Zusammenhang sollte man beachten, dass Glück im Gegensatz zur landläufigen Erwartung kein dauerhafter Zustand ist, sondern die Folge einer positiven Phase der persönlichen Entwicklung. Außerdem wirkt bei starken Gefühlen die sog. Hedonische Adaption, auch „Gefühlsbremse genannt: Es gibt Prozesse in Gehirn und Körper, die „große Gefühle ziemlich schnell nivellieren. Sowohl großes Glücksgefühl als auch großes Leid gehen bald in einen Zustand der Normalität über. Die Geschwindigkeit der Anpassung kann man in gewissem Umfang durch bewusste Akzeptanz oder aber durch eine Blockade beeinflussen, besonders im Fall des Leids. Die Empfindung von Glück oder Unglück beruht deshalb sehr stark auf der Wahrnehmung der Änderung des eigenen Zustandes.

    Die Hedonische Adaption wird schon immer in Romanen, Filmen usw. systematisch missachtet, um dauerhafte große Gefühle und dramatische Geschichten zu konstruieren. Dies kann aber auch Rückwirkungen auf das reale Verhalten der Konsumenten haben, wie z.B. die erhöhte Zahl der „medial vermittelten Nachahmungs-Suizide nach Erscheinen von Goethes „Die Leiden des jungen Werther gezeigt haben.

    Wenn man die Dynamik des Glücks nicht berücksichtigt, können beispielsweise die eingeebneten Glücksgefühle einen Zustand der Leere oder Unzufriedenheit erzeugen. Dem kann man aber mit den Mitteln der Vernunft begegnen, oder auch dadurch, dass man sich neuen, sinnvollen Erlebnissen und Herausforderungen stellt. Drogen sind da nur das sprichwörtliche „kurieren am Symptom", und keine nachhaltige Lösung für die Gefühle. Ein paar Hinweise zum Glücksgefühl als Ergebnis einer Zustandsänderung findet man übrigens in [9]:

    • Die Häufigkeit des Glücks hat in Deutschland seit 2007 weder zu- noch abgenommen.

    • Wir empfinden Glück, wenn uns überraschend etwas Gutes widerfährt.

    • Glück wird durch körpereigene Botenstoffe wie Endorphine oder Oxytoxin „erzeugt"; diese müssen aber zunächst ausgeschüttet werden; sie werden anschließend auch wieder vom Körper abgebaut.

    1.5 Empathie

    Empathie ist die Bezeichnung für die Fähigkeit, die Gefühle anderer Individuen zu erkennen und sie nachempfinden zu können. Sie ist damit die interaktive soziale Dimension der Gefühle.

    Empathie ist einer der stärksten Motoren der Zusammenarbeit [76]. Was ist mit Empathie gemeint? Es ist die Fähigkeit, die Emotionen anderer zu erkennen und sich in ihre Gefühle versetzen zu können [76]. Die Empathie ist deshalb die entscheidende Wechselwirkung zwischen Individuen, um Emotionen zu kommunizieren. Sie „ist die soziale Dimension der Emotion[76]. Da Emotionen bei allen höheren Tierarten vorkommen, ist es wahrscheinlich, dass sie auch Empathie „können. Der Mensch ist aber auch hier nachweislich am weitesten entwickelt.

    Empathie wird oft mit sog. Spiegelneuronen in Verbindung gebracht. Das sind Nervenzellen im Gehirn, deren Funktion folgendermaßen beschrieben wird: Wenn ein Individuum bei einem anderen Individuum eine Körperbewegung aufmerksam beobachtet, wird im eigenen Gehirn diese Bewegung von den Nervenzellen „virtuell" nachvollzogen.

    Beispiel: Wenn ein Affe hört, wie ein Papier zerrissen wird, ohne dass er es sieht, werden bei ihm die gleichen Hirnbereiche aktiviert, die das Zerreißen von Papier steuern. Wenn der Affe das Geräusch hört, entsteht also in den Nervenzellen seines eigenen Gehirns ein Abbild der Tätigkeit, die nötig ist, um das Papier zu zerreißen.

    Dies Nachvollziehen betrifft deshalb nicht nur einzelne (Spiegel-) Neuronen, sondern ganze funktionelle Bereiche im Gehirn, die für die Handlung benötigt werden. Man sollte also nicht von Spiegelneuronen sprechen, sondern von funktionellen Nachahmungs-Bereichen des Gehirns. Alle Affen haben diese Nachahmungs-Fähigkeit, und auch die Menschen. Kinder haben diese Fähigkeit (im Sinne der Prägung; vgl. 1.26) gleich nach der Geburt, denn sie ist existenziell wichtig, um Handlungen ihrer Eltern und anderer Bezugspersonen richtig zu erkennen und zu lernen. Man hat Nachahmungs-Bereiche im menschlichen Gehirn schon bei Untersuchungen mit der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie beobachtet. Eine entsprechende Funktionalität gibt es offenbar auch für das Nachempfinden von Emotionen. Sie dürfte einen wesentlichen Teil der Empathie ausmachen.

    Beispiel: Bei emotional aufwühlenden Filmszenen vergießen auch viele Zuschauer Tränen, besonders weibliche. Frauen sollen im Mittel eine größere Fähigkeit zur Empathie haben

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