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Wie funktioniert die Welt?: 50 Fragen unserer Zeit
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eBook722 Seiten8 Stunden

Wie funktioniert die Welt?: 50 Fragen unserer Zeit

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Über dieses E-Book

Wie funktioniert die Welt? Diese Frage hat sich wohl jeder Mensch schon einmal gestellt. Sie lässt sich nie eindeutig und objektiv beantworten. Doch sie kann der Ausgangspunkt für eine Reihe weiterer Fragestellungen sein: Wie ist das Universum entstanden? Wie hat sich das Leben auf der Erde entwickelt? Was treibt uns Menschen letztlich an? Worin unterscheiden sich Wissenschaft und Glaube? Wie entsteht Geld und wie ist der Wohlstand in der Welt verteilt? Welches sind die größten Umweltprobleme? Wie verändern Digitalisierung und künstliche Intelligenz unser Leben?

Dieses Sachbuch gliedert sich in 50 Kapitel, die jeweils einer Leitfrage folgen. Aufgrund der breit gefächerten Themenvielfalt stellt es einen umfassenden Wissensschatz zur Verfügung, prägnant und gut verständlich geschrieben. Es möchte zum Nachdenken anregen und Handlungsimpulse vermitteln.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum16. Aug. 2021
ISBN9783740777616
Wie funktioniert die Welt?: 50 Fragen unserer Zeit
Autor

Albin Meyer

Albin Meyer interessiert sich schon seit seiner Jugend für die Frage, wie die Welt funktioniert. Er sammelte nach dem Informatikstudium an der ETH Zürich über 20 Jahre lang Berufserfahrung als Ingenieur. In seiner Freizeit erarbeitete er sich über viele Gebiete hinweg ein breites Wissen, das er in diesem Buch unter Mitarbeit von Fachexperten präsentiert. Auf der Website wie-funktioniert-die-welt.ch veröffentlicht der Autor diverse Erklärvideos.

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    Buchvorschau

    Wie funktioniert die Welt? - Albin Meyer

    1 Was ist der Unterschied

    zwischen Wissenschaft

    und Glaube?

    Evolutionäre Erkenntnis

    In der heutigen Zeit der Fake News und Verschwörungserzählungen ist es zentral, den Unterschied zwischen Wissenschaft und Glaube zu diskutieren. Diese beiden Gegensätze stehen schon seit der Antike in einem Spannungsfeld.

    Neue Erkenntnisse in der Wissenschaft erschüttern regelmäßig die herrschenden Weltbilder und stellen das Selbstverständnis der Menschen infrage. Der Psychologe Sigmund Freud sprach in diesem Zusammenhang von drei zentralen Kränkungen der Menschheit. Die erste war die Feststellung von Nikolaus Kopernikus, dass die Erde nicht das Zentrum des Weltalls ist. Die zweite erfolgte durch die Evolutionstheorie von Charles Darwin, welche nichts Geringeres sagt, als dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung ist, sondern von den Tieren abstammt. Die dritte Kränkung besteht in Freuds psychoanalytischer Erkenntnis, dass der Mensch keinen vollen freien Willen besitzt, sondern stark vom Unbewussten getrieben ist.

    Auch die Relativitätstheorie und die Quantenphysik führten zu großen Neuorientierungen in den Wissenschaften. Der Forschungsprozess ist ein evolutionärer Vorgang: Anhand von Theorien entstehen Modelle der Welt, die durch neue Erkenntnisse erweitert und immer wieder grundlegend verändert werden. Zum Beispiel war man sich in der Antike einig, dass die Erde die Form einer Scheibe habe. Später ging die Wissenschaft davon aus, dass die Erde zwar eine Kugel sei, aber trotzdem das Zentrum der Welt bilde. Der nächste Schritt war die Feststellung, dass die Erde um die Sonne kreist. In der Wissenschaft bestehen immer Lücken, die nach neuen Erkenntnissen verlangen. Weil wir die Welt nicht von außen, sondern von innen her beobachten, können wir nie objektiv urteilen. Die Erkenntnisse der Quantenphysik weisen sogar darauf hin, dass womöglich gar keine objektive Realität existiert.

    Da die Wissenschaft nie die ganze Welt restlos erklären kann, springt an manchen Orten der Glaube ein. Die Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Glaube ist ein zentraler Diskussionspunkt in der Wissenschaftstheorie, die einen Teilbereich der Philosophie bildet. Die Theorien des Philosophen Karl Popper und des Mathematikers Thomas Bayes sind diesbezüglich von großer Bedeutung. Diese möchte ich nun genauer betrachten.

    Karl Popper entwickelte in seinen Werken den Falsifikationismus.¹ Dieser schlägt vor, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zwar durch Tests überprüfbar sein sollen, aber trotzdem nie zu 100 Prozent bewiesen werden können. Theorien müssen immer die Möglichkeit bieten, durch neue Experimente widerlegbar zu sein. Das Gravitationsgesetz von Isaac Newton ist hierfür ein gutes Beispiel: Es erklärt mit dem Begriff der Schwerkraft, warum Gegenstände, die man loslässt, immer auf die Erde fallen. Falls es jedoch eines Tages eine Versuchsanordnung gäbe, in welcher ein freies Objekt ohne äußere Einflüsse in der Luft schweben würde, wäre Newton widerlegt. Ein anderes Beispiel ist die Evolutionstheorie: Bis jetzt stimmen alle Fossilienfunde mit den wissenschaftlichen Erklärungen überein. Falls jedoch eines Tages menschliche Überreste und Dinosaurierknochen in derselben Gesteinsschicht entdeckt würden, dann wäre die Erkenntnis, dass die Dinosaurier lange vor uns gelebt hatten, widerlegt.

    Verschiedene Wissenschaftsphilosophen, beispielsweise Thomas Kuhn, diskutierten die Theorien Poppers kritisch und änderten oder erweiterten sie entsprechend.² Kuhn sieht die Forschung immer im Rahmen eines temporär gültigen Paradigmas, welches sich jedoch langfristig durch wissenschaftliche Revolutionen verändern kann.

    Ein weiteres wichtiges Merkmal wissenschaftlicher Arbeit ist die Berücksichtigung der wahrscheinlichkeitstheoretischen Erkenntnisse von Thomas Bayes.³ Er beschäftigte sich mit der Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten, wenn ein bestimmtes Vorwissen bereits vorhanden ist. Bayes’ Kernaussage ist: Die Wahrscheinlichkeit einer Aussage A erhöht sich unter der Bedingung, dass eine zweite Aussage B als bekannt und wahr eingestuft werden kann. Folgendes Beispiel verdeutlicht die dahinterstehende Überlegung: „Tom ist ein scheuer Student. Studiert er Mathematik oder Wirtschaft?" Die meisten Menschen tippen auf Mathematik, weil Wirtschaftsstudierende in der Regel geselliger sind als mathematisch begabte Menschen. Aber mit wissenschaftlichen Methoden müsste man berücksichtigen, dass zehnmal mehr Menschen Wirtschaft studieren als Mathematik. Die Wahrscheinlichkeit, dass Tom Wirtschaft studiert, ist unter dem Strich größer!

    Früher wandten Wissenschaftler gerne die Methode der Induktion an. Auf der Basis einer Beobachtung von Einzelfällen erfolgte der Schluss auf ein allgemeingültiges Gesetz. Die Induktion ist heute jedoch sehr umstritten; der Philosoph David Hume war einer ihrer ersten Kritiker. Ich möchte die Problematik anhand eines einfachen Beispiels verdeutlichen: Ein Truthahn erhält am ersten Tag seines Lebens Futter von einem Bauern, am folgenden Tag bekommt er wieder seine Nahrung. Dies könnte ein induktiver Beweis dafür sein, dass der Truthahn jeden Tag gefüttert wird. Aber eines Tages erscheint der Bauer nicht mit dem vollen Fressnapf, sondern mit dem Messer, um ihn zu schlachten.

    Wissenschaft hinterfragt sich stetig selbst. Fehler dürfen gemacht werden. Wissenschaftler tragen verschiedene Aussagen und Theorien zusammen, diskutieren sie und verknüpfen sie zu Modellen. Erkenntnisse basieren immer auf verschiedenen Pfeilern, sie werden evolutionär und mit viel Neugier laufend erweitert und verändert. Dieser Vorgang verläuft kollaborativ und mündet in einem globalen Konsens unter Forschern. Im Gegensatz dazu stellt ein Glaube alleinstehende Behauptungen auf, welche nicht widerlegbar sind und zeitlos gültig sein sollen. Es gibt viele verschiedene Glaubenssysteme, die sich gegenseitig widersprechen, wie zum Beispiel Religionen.

    Auch wenn die Wissenschaftstheorie keine eindeutige Grenze ziehen kann, so ist es trotzdem meistens möglich, den Unterschied zwischen wissenschaftlichen Fakten und glaubensbasierten Meinungen zu sehen. George Orwell zeigt diesen Unterschied in seiner Dystopie „1984" sehr anschaulich auf: Obwohl 2 + 2 = 4 ein wissenschaftlicher Fakt ist, kann Big Brother die Menschen dazu bringen, an 2 + 2 = 5 zu glauben. Ich kann weitere Beispiele präsentieren: Astronomie und Chemie sind Wissenschaften, während Astrologie und Alchemie auf Glauben basieren. Die Aussage, dass es sich bei CO2 um ein Treibhausgas handelt, ist ein Fakt. Die Forderung, Abgaben auf den CO2-Ausstoß zu erheben, ist hingegen eine Meinung.

    Plausibilität von Studien und Statistiken

    In Studien werden Statistiken häufig an den eigenen Nutzen angepasst. Der englische Premierminister Winston Churchill sagte einst, dass er nur der Statistik vertraue, die er selbst gefälscht habe. Manchmal bekämpft die privatwirtschaftliche PR-Maschinerie Wissenschaft mit „Wissenschaft: Einzelne Wissenschaftler erhalten Geld dafür, dass sie unabhängige Wissenschaftler diffamieren, welche wirtschaftsfeindliche Publikationen veröffentlichen. Ein gutes Beispiel hierfür sind bezahlte Stellungnahmen zum Thema „globale Erwärmung: Leugner des menschengemachten Klimawandels „kaufen" sich einzelne Wissenschaftler, die die gesamte Forschung mit großen Schlagzeilen in Frage stellen (siehe Kap. 44). Auch Coca-Cola ging auf diese Weise vor, als es darum ging, Veröffentlichungen über die Schädlichkeit des Zuckers ins Lächerliche zu ziehen.⁴ Die Tabakindustrie wiederum gab jahrelang eigene Studien in Auftrag, die die Unschädlichkeit des Rauchens beweisen sollen.⁵

    In verschiedensten Publikationen dienen Statistiken zur Untermauerung der eigenen Ideologie. Der Autor Hans Rosling, der sich angeblich nur auf Fakten bezieht, liefert unfreiwillig selbst ein gutes Beispiel dafür. Als zentrales Element für seine optimistische Interpretation der Weltsituation verwendet er in seinem Buch „Factfulness" und auf der Plattform gapminder.org eine grafische Darstellung der globalen Einkommensverteilung: Auf der Y-Achse wird die Zahl der Menschen dargestellt, auf der X-Achse das tägliche Einkommen. Ich habe seine Vorgehensweise etwas näher unter die Lupe genommen: Rosling verwendet auf der X-Achse eine logarithmische Skala, sodass eine Glockenkurve entsteht (siehe Abbildung 1 links).⁶ Jeder Schritt nach rechts auf der X-Achse bedeutet eine Multiplikation um den Faktor 5. Anhand dieser Darstellung folgert er, dass die meisten Menschen im Mittelmaß leben und nur wenige Menschen in Armut oder Reichtum. Er betrachtet dieses Diagramm als Beweis für seine These, dass es keine Kluft zwischen Arm und Reich gäbe und somit die heute vorherrschende neoliberale Politik für die ganze Welt nur von Vorteil sei.

    ABBILDUNG 1 Globale Einkommensverteilung. Links mit einer logarithmischen Skala auf der X-Achse, rechts mit einer linearen Skala.

    Verwendet man jedoch auf der X-Achse eine lineare Skala, so sieht die Kurve ganz anders aus (siehe Abbildung 1 rechts).⁷ Hier bedeutet jeder Schritt eine Addition um 100. Die zweite Darstellung zeigt deutlich, dass sich die meisten Menschen in Armut befinden, während nur wenige im Mittelmaß und sehr wenige im Reichtum leben. Diese Kurve lässt einen großen Unterschied zwischen Arm und Reich erkennen: Sie entspricht der Tatsache, dass 90 Prozent der Menschen wenig verdienen, während die reichsten 10 Prozent mittlere bis sehr große Einkommen erwirtschaften (siehe Kap. 46). Dieses Beispiel demonstriert, wie derselbe Datensatz mit verschiedenen Darstellungen völlig unterschiedlich interpretiert werden kann.

    Die niederländische Datenkorrespondentin Sanne Blauw bietet mit dem Buch „The Number Bias" eine gute Einführung in das Reich der Zahlen. Sie zeigt, dass mit Hilfe von Statistiken Korrelationen, also Zusammenhänge, erkannt werden können, deren Interpretation jedoch schwierig ist. Während des Ersten Weltkriegs führten Wissenschaftler im Rahmen einer Studie IQ-Tests (Intelligenzquotient) bei amerikanischen Soldaten durch. Das Ergebnis der Tests lag im Durchschnitt bei Afroamerikanern tiefer als bei Weißen. Die Intelligenz korrelierte mit der Hautfarbe. Dies muss kritisch betrachtet werden. Unter anderem stellen sich folgende Fragen: Haben alle Teilnehmer dieselben Bedingungen erhalten? In welche Kategorie wurden Mischlinge eingeteilt? Die Kausalität, also der Grund für diese Korrelation, ist noch viel schwieriger zu erklären.⁸ Rassisten sahen in dieser Studie einen biologischen Beweis für die Dominanz der Weißen. Ich würde aus dieser Studie eher schließen, dass Afroamerikaner im Durchschnitt eine schlechtere Schulbildung erhalten als Weiße und somit in der amerikanischen Gesellschaft nicht gleichberechtigt behandelt werden.

    Für eine repräsentative Studie spielt die Anzahl der Probanden und die konkrete Auswahl der Individuen eine große Rolle. Die erwähnte Studie beschränkte sich jedoch auf die Gruppe junger männlicher amerikanischer Soldaten und kann daher wenig repräsentativ sein. Auch die Art der Fragestellung kann das Ergebnis beeinflussen: Werden neutrale oder suggestive Fragen gestellt? Welches Wissen wird bei einem IQ-Test vorausgesetzt?

    Die Glaubwürdigkeit von Studien hängt stark von deren Validität ab. Um die Wirkung eines Arzneimittels zu testen, führen klinische Studien neben einer Patientengruppe gleichzeitig eine Kontrollgruppe ein, die ein Placebo erhält. Nur wenn der Erfolgsunterschied zwischen der Patientengruppe und der Kontrollgruppe groß genug ist, so wird die Studie als valide, also glaubwürdig, bezeichnet, was aber noch lange nicht als Beweis gilt.

    Skepsis ist ein essenzieller Bestandteil der Wissenschaft, wie Popper schon erkannte. Doch wie lässt sich die Qualität einer Studie beurteilen? Generell gilt: Seriöse Studien werden immer einem Peer-Review unterzogen. Dadurch findet eine Kontrolle durch andere unabhängige Wissenschaftler statt. Veröffentlichungen in renommierten Schriften wie „Nature, „Scientific American oder „MIT Technology Review" sind glaubwürdiger als Abhandlungen von privat finanzierten Instituten. Je öfter eine Fachpublikation in anderen Beiträgen referenziert wird, desto mehr wird ihr vertraut.

    Wissenschaftliche Erkenntnisse stützen sich nicht auf eine einzige Studie oder Statistik. Eine Sammlung zahlreicher Studien zum selben Thema gibt viel mehr Gewissheit. Mit Hilfe solcher Metastudien kann die Plausibilität von Thesen zuverlässig überprüft werden. Der kausale Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs wurde nach unzähligen Studien von der Öffentlichkeit anerkannt, was einen Sieg der Wissenschaft gegen die Tabaklobby bedeutete.⁹ Der größte Feind der Wissenschaft ist die menschliche Natur. Wir vertrauen eher den eigenen Gefühlen und Erlebnissen als der Rationalität und Statistiken (siehe Kap. 10).

    Interdisziplinarität und Wissenschaftsjournalismus

    Vor einigen Jahrhunderten trugen Universalgelehrte wie Leonardo da Vinci, Johann Wolfgang von Goethe oder Charles Darwin zur Erweiterung des Wissens der Menschheit bei. Heute gibt es viele Spezialisten, die intensiv über ihren Themen brüten, aber nicht mehr den Blick für das große Ganze haben. Kein Wunder, das Gesamtwissen ist inzwischen so immens, dass kein einzelner Mensch eine Übersicht gewinnen kann. Deshalb sind interdisziplinäre Projekte, in denen Teilnehmer aus verschiedenen Bereichen zusammen an einem Thema arbeiten, heutzutage umso wichtiger. Ich glaube, dass es unter anderem an der zunehmenden Spezialisierung liegt, weshalb die Menschheit etwas hilflos scheint im Umgang mit globalen Problemen wie Klimakrise, Armut und Pandemien.

    Der Journalist David Epstein schreibt in seinem Buch „Range", dass Generalisten, die interdisziplinär arbeiten können, begehrt sein müssten, weil sie Wissen aus unterschiedlichen Fachgebieten miteinander kombinieren können und so entscheidend zu Innovationen beitragen. Aber die HR-Abteilungen der Unternehmen suchen selten solche Menschen, was mehrere Gründe hat. Einerseits sind generalistische Tätigkeiten schwer beschreibbar und kaum in Schubladen zu stecken. Anderseits erfordert die aus marktwirtschaftlicher Sicht effiziente Arbeitsteilung Spezialisten.¹⁰

    Damit sich die breite Öffentlichkeit ein Bild der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse machen kann, ist eine interdisziplinäre journalistische Berichterstattung von zentraler Bedeutung. Im deutschsprachigen Gebiet bekannte Wissenschaftsjournalisten sind Harald Lesch und Mai Thi Nguyen-Kim. Die Corona-Pandemie zeigte anschaulich auf, wie notwendig die Aufbereitung von Wissen durch professionelle Journalisten ist. Dennoch vertrauen viele Menschen blauäugig den Meinungsbeiträgen einzelner selbsternannter Fachleute im Internet oder gar abstrusen Verschwörungserzählungen. Heute verbinden wir mit den Begriffen „Skepsis und „Querdenken immer seltener wissenschaftliches Nachfragen und kreatives Nachforschen, sondern viel eher irrationales Zweifeln und Misstrauen.

    Glaube

    Wo die Wissenschaft an ihre Grenzen gelangt, springt der Glaube ein. Die Fähigkeit, glauben zu können, ist für den Menschen äußerst wichtig und sinnstiftend. Glaube bietet Orientierung, Halt und Trost und kann eine Gruppe zusammenschweißen.

    Anhänger des Christentums sind schon seit Jahrhunderten davon überzeugt, dass die Erzählungen in der Bibel wahr seien, auch wenn sie sich untereinander über gewisse Interpretationen streiten. Glaube lässt sich nicht widerlegen. Aus diesem Grund muss der satirische Glaube an das Fliegende Spaghettimonster im Himmel ebenfalls akzeptiert werden, obwohl es noch nie gesichtet wurde: Man kann nicht ausschließen, dass es eines Tages erscheinen wird. Im Gegensatz dazu lässt sich Wissen widerlegen. So kann ein Glaube Jahrtausende überleben, während sich die Wissenschaft laufend verändert.

    Viele Menschen erzählen von mystischen Erfahrungen. Manche haben mit Engeln, manche gar mit Gott gesprochen. Solche Geschichten lassen sich ebenfalls nicht widerlegen. Das Merkwürdige ist, dass es zahlreiche unterschiedliche, auch einander widersprechende Selbsterfahrungen gibt. Es handelt sich um subjektive Erlebnisse, die nicht auf die Allgemeinheit übertragbar sind. Sie gehören ins Gebiet der Spiritualität.

    Religionen basieren immer auf Glauben. Die christliche Kirche förderte im Mittelalter die Wissenschaften, solange sie den Glauben nicht anzweifelten. Als Kopernikus jedoch das heliozentrische Weltbild ausarbeitete und erklärte, dass sich die Erde um die Sonne dreht, wurde seine Arbeit verboten. Der Universalgelehrte Galileo Galilei, der dieselbe Ansicht vertrat, musste seinen Lehren sogar vor dem Inquisitionsgericht abschwören. Der Legende nach murmelte er am Schluss dieser Verhandlung: „Und sie dreht sich doch!" Urheber dieses starren Wissenskorsetts war der Theologe Thomas von Aquin. Im 13. Jahrhundert definierte er mit seinen sogenannten Gottesbeweisen, in welchem Rahmen sich Wissenschaft bewegen dürfe. Erst die Auflärung im 18. Jahrhundert ermöglichte echten wissenschaftlichen Fortschritt. Heute muss die Wissenschaft die Evolutionstheorie energisch gegenüber Anhängern des Schöpfungsglaubens verteidigen (siehe Kap. 7).

    Menschen glauben nicht nur an Religionen, sondern auch an Symbole oder an abstrakte Begriffe wie etwa „Geld oder „Liebe (siehe Kap. 9). Ich finde es bemerkenswert, dass der Theologe Karl Barth schon 1931 in einem Aufsatz schrieb, dass Kommunismus, Faschismus und „Amerikanismus" ebenfalls Religionen seien.¹¹

    Auch der gesamte Esoterikbereich basiert auf Glauben (siehe Kap. 28). Die Homöopathie ist das beste Beispiel für die Unmöglichkeit, einen Glauben zu widerlegen: Wenn eine Behandlung zur Besserung führt, spricht man vom „Erfolg; wenn der Zustand gleich bleibt, sucht der Homöopath eine andere, „passendere Verabreichung; und wenn es dem Patienten schlechter geht, handelt es sich um eine erwünschte „Erstverschlimmerung". Die Homöopathie lässt somit gar keine Möglichkeit zu, eine Therapie als gescheitert zu bezeichnen.

    Das Erbringen von Opfern ist ein wichtiges Konzept, um den Glauben noch zu steigern. In bestimmten Kulturen werden Tiere getötet, um für die Milde der Götter zu beten. Die Inkas opferten manchmal sogar ihre Kinder auf dem Altar!¹² Wenn solch wertvolle „Ressourcen" auf brutale Art und Weise zerstört werden, müssen die Götter wohl tatsächlich existieren, dachte man damals. Heute opfern wir unsere Söhne nicht mehr den Göttern, sondern in unnötigen Kriegen. Ein Soldat, der im Krieg sein Bein verliert, opfert es für die Nation oder für das Vaterland, vielleicht auch für den Antikommunismus. Für den Betroffenen ist es im Nachhinein schwierig, sich einzugestehen, dass er sein Opfer für eine unnötige Sache erbracht hat. In der Folge würden auch seine Kampferlebnisse und sein Schmerz keinen Sinn mehr ergeben. Viele Kriegsveteranen leiden deshalb an psychischen Problemen.

    Eine besondere Form des Glaubens sind Märchen. Diese fantastischen Erzählungen beeinflussen Kinder stark, weil sie ihnen Halt geben. Die Brüder Grimm gehören mit Geschichten wie „Frau Holle, „Rotkäppchen, „Hänsel und Gretel, „Dornröschen, „Aschenputtel und „Schneewittchen zu den bekanntesten Autoren im deutschsprachigen Raum. In den USA wachsen die Kinder mit anderen Märchen auf, wie etwa „The Wizard of Oz". Manche Entwicklungspsychologen denken, dass sich diese kulturellen Differenzen in der Erwachsenenwelt durchaus bemerkbar machen.

    Was ist der Unterschied zwischen Wissenschaft und Glaube? Wissenschaftliche Ergebnisse sind rational überprüfbar, Glaube nicht. Der Glaube hilft, die Welt zu erklären, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse nicht ausreichen oder ignoriert werden.


    1 (Popper, 1973), ganzes Buch

    2 (Chalmers, 2007), p. 89

    3 (Dennett, 2017), p. 167 und (Kahneman, 2011), p. 193

    4 (Balser & Ritzer, 2016), p. 249

    5 (Blauw, 2019), p. 103

    6 (Rosling, 2018), p. 138

    7 http://staff.math.su.se/hoehle/blog/2018/07/02/factfulness.html (letzter Aufruf 04.03.2021)

    8 (Blauw, 2019), p. 46

    9 (Blauw, 2019), p. 131

    10 (Epstein, 2019), p. 213

    11 https://lassalle-kreis.de/content/karl-barth-1886-1968#_edn34 (letzter Aufruf 04.12.2020)

    12 (Dawkins, 2006), p. 327

    2 Wie baut sich der Mensch

    sein persönliches Weltbild

    auf?

    Was ist ein Weltbild?

    Jeder Mensch baut sich unbewusst sein eigenes Weltbild zusammen und passt es im Laufe des Lebens kontinuierlich an. Es enthält subjektive Wertvorstellungen und Erklärungen über die wahrgenommene Welt. Ein Weltbild stellt, wie der Name sagt, immer eine Abbildung der echten Welt dar. Die einzig wahre Realität gibt es wahrscheinlich nicht, wie die Quantenphysik vermuten lässt.

    Diese Abbildungen der Welt stellen immer nur Abstraktionen der Wirklichkeit dar. Da kein Mensch alles wissen kann, helfen solche Vereinfachungen immens. Mit Hilfe von Wörtern können sich Individuen auf einer weniger exakten Ebene austauschen. Mein Lieblingsbeispiel als IT-Experte ist der Begriff „Computer. Wenn ich eine Person frage, ob sie wisse, was ein Computer sei, so lautet die Antwort sehr wahrscheinlich „Ja. Dabei haben die meisten Menschen keine Kenntnis darüber, wie die unzähligen Transistoren eines Prozessors zusammengeschaltet sein müssen, damit ein Computer funktioniert. Dasselbe gilt für viele weitere Begriffe, wie zum Beispiel „Auto, „Gebäude oder „Reißverschluss. Die einzelnen Bestandteile eines Autos sind nur wenigen Fachleuten bekannt. Die für die Haustechnik verlegten Rohre und Kabel sind ebenfalls meist kein Thema für die Bewohner eines Gebäudes. Ein Reißverschluss ist zwar äußerst praktisch, aber wer kann dessen Funktionsweise schon aus dem Stegreif erklären? Weitere wichtige Bestandteile von Weltbildern sind abstrakte Begriffe wie „Liebe, „Geld, „Normen oder „Nation". In der Philosophie beschäftigt sich das Universalienproblem intensiv mit dem Wesen von Abstraktionen und abstrakten Begriffen (siehe Kap. 9).

    Wie entstehen Weltbilder und Ideologien?

    Ich frage mich immer wieder, wie Menschen ihr Weltbild aufbauen. Wie bilden sie sich eine politische Meinung? Auf welche Weise gerät jemand auf eine kriminelle Schiene? Warum beginnt ein Mensch, an eine Religion oder an Verschwörungserzählungen zu glauben?

    Der Psychologe Erik Erikson stellte die These auf, dass das persönliche Weltbild mehr oder weniger während der Jugendzeit mit der eigenen Identitätsentwicklung gefestigt wird (siehe Kap. 11). Den größten Einfluss übt wohl das Umfeld aus, vor allem Eltern, Lehrer, Verwandte, Freunde, Bekannte und Prominenz. Erwachsene nehmen oft nur noch Informationen auf, die in ihr fertiges Weltbild passen und die ihre persönlichen Erwartungen und Interessen erfüllen. Die Kognitionspsychologie nennt diese Form der selektiven Wahrnehmung Confirmation Bias. Der Begriff umschreibt die menschliche Neigung zur Filterung und Interpretation von Informationen. Er erklärt unter anderem, weshalb Individuen oder Gesellschaftsgruppen an tief verankerten Weltanschauungen festhalten, sogenannten Ideologien.

    Glaubenssätze, Denkmuster und Vorurteile

    Glaubenssätze sind übernommene, aber nicht hinterfragte Überzeugungen. Denkmuster sind unbewusst automatisierte Abläufe in unserem Denken. Sowohl Glaubenssätze als auch Denkmuster beeinflussen unsere Entscheidungen im Alltag enorm. Ich mag den Begriff „innere Bilder, den der Neurobiologe Gerald Hüther für die Bezeichnung dieser Phänomene nutzt. Es handelt sich um synaptische, neuronale Verschaltungsmuster, die im Laufe des Lebens, vor allem in den ersten drei Jahren, ins Gehirn „eingebrannt werden. Sie rufen je nach Situation bestimmte Reaktionsmuster hervor, teils sogar begleitet von entsprechenden Hormonausschüttungen. Diese inneren Bilder können sowohl individuell als auch kollektiv existieren, wie es zum Beispiel bei Religionen der Fall ist.¹³ Passend zu dieser Theorie haben Hirnforscher in den USA festgestellt, dass bei Demokraten und Republikanern während politischer Debatten unterschiedliche Hirnregionen aktiv sind.¹⁴ Weltbilder und Ideologien sind somit neurobiologisch verankert und deshalb schwer zu ändern.

    Vorurteile gehören ebenfalls in diese Kategorie. Sie vereinfachen unser Weltbild. Ich nenne ein Beispiel: Wenn die Medien über einen Mord berichten und der Täter bereits verhaftet wurde, ist die öffentliche Meinung jeweils schon gemacht. Erst recht, wenn die Polizei mitteilt, dass es sich bei dem Festgenommenen um einen Ausländer handelt. Rechtlich gesehen gilt jedoch die Unschuldsvermutung. Ein Beschuldigter ist nur dann ein Täter, wenn der richterliche Schuldspruch dies bestätigt. Vorurteile können generell zu fatalen Missverständnissen führen. Zum Beispiel wird die Aussage „Die Mehrheit der Terroristen sind Muslime manchmal fälschlicherweise interpretiert als „Die Mehrheit der Muslime sind Terroristen.

    Rassismus basiert auf Vorurteilen. Hier werden Menschen aufgrund von Stereotypen wie Hautfarbe oder Augenform schubladisiert und diskriminiert. Die Rassentheorie ist aus wissenschaftlicher Sicht längst widerlegt, weil die verschiedenen Ethnien sich genetisch zu ähnlich sind, als dass man von menschlichen „Rassen" sprechen könnte. Beim Rassismus handelt es sich um eine in der Gesellschaft verankerte strukturelle Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer ursprünglichen Herkunft.¹⁵

    Zeitgeist und Meinungsklima

    Gesellschaftliche Normen können je nach Zeitalter und geografischem Kontext völlig unterschiedlich sein (siehe Kap. 13). Man spricht deshalb auch vom „Zeitgeist oder „Meinungsklima. Ein Beispiel: Die Pfahlbauer aus der Jungsteinzeit besaßen eine Lebenserwartung von 20 bis 30 Jahren. Bei ihnen entsprach es der damaligen Norm, dass Mädchen schon mit zwölf Jahren Mutter wurden. Das wäre heute undenkbar! Platon und Aristoteles empfahlen, dass Frauen mit 16 bis 20 das erste Mal Kinder bekommen sollten, während der Mann mindestens bis 30 warten sollte. Auch diese Sichtweise gilt gegenwärtig nicht mehr.

    Ein zentraler Glaubenssatz im heutigen Zeitgeist des Westens drückt sich in der Verehrung der Arbeit aus. Seit den philosophischen Ausführungen von John Locke und der Etablierung einer protestantischen Arbeitsethik nach der Reformation identifizieren sich die Menschen mit ihrer Arbeit. Manager, Bauern und Ärzte, die 60 Stunden pro Woche arbeiten, gelten als fleißige, vorbildliche und anständige Menschen. Teilzeitarbeitende, Künstler und Studenten hingegen werden nicht selten als „faule Säcke" bezeichnet. Care-Arbeit wie Haushalt, Kindererziehung und Pflege der Angehörigen wird ebenfalls viel zu wenig geschätzt. Mich dünkt, dass Fleiß wichtiger zu sein scheint als Sinn.

    Während im Westen Individualismus und Selbstverwirklichung im Vordergrund stehen, ist in Südamerika und Asien das Gemeinschaftsleben zentral. Nicht von ungefähr kommt aus Lateinamerika der Ausdruck „Buen vivir" (gutes Leben)! Je nach Region können unterschiedliche Normen dominieren. Das zeigt sich auch bei der Wahl der Religionszugehörigkeit oder des Lieblingsfußballklubs. In München aufgewachsene Menschen sind in der Regel katholisch und Anhänger des FC Bayern München.

    Paradigmen verändern sich mit der Zeit. Der Begriff „Shifting Baseline" bezeichnet die Verschiebung von Vergleichsmaßstäben. Ein gutes Beispiel hierfür bildet das Links-Rechts-Spektrum in der Politik. Die politische Linke hat sich seit Ende des Kalten Krieges langsam, aber stetig zur Mitte verschoben. Heute fordert die in Deutschland als ganz links eingestufte Sahra Wagenknecht die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft zurück, welche in den 1950er Jahren durch Konrad Adenauer und Ludwig Erhard mit Hilfe der bürgerlichen Parteien CDU und CSU gelebt wurde. Der Wandel von der sozialen Marktwirtschaft zum angelsächsisch geprägten Neoliberalismus wurde um die Jahrtausendwende herum durch Sozialdemokraten vollzogen, in Deutschland durch Gerhard Schröder, in England durch Tony Blair. Das war 50 Jahre zuvor noch undenkbar! Das politische Meinungsklima hat sich stark verändert, heute herrscht ein anderes politisches Paradigma.

    Exkurs: Körperlich bedingte Einschränkungen

    der Wahrnehmung

    Der menschliche Körper umfasst viele Schnittstellen, um mit der Außenwelt zu kommunizieren und zu interagieren. Für die Wahrnehmung besitzt er verschiedene Organe. Evolutionär bedingt unterliegen diese einigen physischen Einschränkungen. Mit den Augen können wir nur einen kleinen Ausschnitt des Frequenzspektrums der elektromagnetischen Strahlen sehen, wir nennen ihn „Licht". Spezielle Kameras erkennen noch andere Frequenzbereiche, wie zum Beispiel Infrarot- und Ultraviolettstrahlung. Sie zeigen uns, was wir alles verpassen. Im sichtbaren Bereich kann unser Gehirn unsere visuelle Wahrnehmung beeinflussen, sodass optische Täuschungen entstehen. Gewisse Signale nehmen wir nur unbewusst wahr. Beispielsweise enthalten manche Filme ganz kurze, nicht bewusst wahrnehmbare Botschaften in Form von Einblendungen, welche eine Reaktion auslösen sollen, wie etwa den Kauf eines bestimmten Produkts.

    Neben elektromagnetischen Wellen nehmen wir auch Schallwellen wahr. Unsere Ohren hören jedoch nur einen bestimmten Frequenzbereich. Fledermäuse können viel höhere Töne wahrnehmen. Einige Tiere besitzen außerdem einen stärkeren Geruchssinn als Menschen, zum Beispiel Hunde. Bestimmte Vögel können sogar Magnetfelder wahrnehmen.

    Aufgrund unserer Körpergröße können wir nur Materie in einem bestimmten Größenbereich direkt wahrnehmen. Im mikroskopischen und makroskopischen Bereich benötigen wir Instrumente wie Mikroskope oder Fernrohre. Im Rahmen des Transhumanismus werden wir in Zukunft laufend weitere technologische Hilfsmittel einsetzen, um unsere körperlichen Einschränkungen zu durchbrechen (siehe Kap. 49).

    Selektive Wahrnehmung und Vergleiche

    Der Mensch vergleicht sich immer mit Artgenossen derselben Gruppe, der sogenannten Ingroup. In einem reichen Land wie der Schweiz vergleiche ich mich gerne mit anderen Schweizern, aber nicht mit Bewohnern Afrikas. Wenn in Deutschland ein Teenager den Eltern vorjammert, dass alle anderen ein Smartphone besäßen, nur er selbst nicht, so nützt es nichts, wenn die Eltern sagen, in Indonesien besäßen die wenigsten in diesem Alter ein solches Gerät.

    Nicht nur beim Menschen, auch bei Affen sind Vergleiche mit anderen Individuen an der Tagesordnung, wie folgendes Beispiel zeigt: Primatenforscher sperrten zwei Kapuzineraffen in separate Käfige, um ihr Verhalten zu beobachten. Einer der Affen erhielt eine Gurkenscheibe und aß sie mit Genuss. Als jedoch der andere Affe eine Traube bekam, war der erste nicht mehr zufrieden mit einer weiteren Gurkenscheibe. Im Gegenteil, er ärgerte sich sehr über diese Ungerechtigkeit, er wollte auch eine Traube haben.¹⁶

    Eifersucht entsteht hauptsächlich gegenüber ähnlich situierten Artgenossen. An der Armutsgrenze lebende Menschen empfinden es häufig als ungerecht, wenn andere bedürftige Personen mehr Hilfe erhalten als sie selbst. Wie Millionäre und Milliardäre ihr Vermögen angehäuft haben oder gar Steuern hinterziehen (siehe Kap. 35), interessiert sie nicht so sehr, das ist jenseits ihrer Vorstellungskraft. Detektive, die Sozialhilfeempfänger überwachen, sind bei der Bevölkerung beliebter als Steuerdetektive, obwohl Letztere viel mehr unterschlagene Gelder entdecken. In der Psychologie wird diese Schwäche „Radfahren" genannt: Gegen oben ist man gebückt, nach unten wird getreten. Politische Propaganda nutzt diese menschliche Schwäche bei der Präsentation von Sündenböcken geschickt aus (siehe Kap. 41).

    Die Medien berichten regelmäßig über Fälle des Sozialhilfebetrugs. Und ja, es kommt tatsächlich vor, dass Menschen in einer prekären Situation ein paar Hundert Euro zu viel öffentliche Leistungen beziehen, sehr zum Ärger der Leute, welche redlich arbeiten gehen und trotzdem knapp bei Kasse sind. Figuren wie der deutsche Politiker Thilo Sarrazin schüren fleißig das Gerücht, dass sozial Randständige vom Staat mehr Geld erhielten als redlich Arbeitende, weshalb sie keinen Ansporn hätten, sich einen Job zu suchen.¹⁷ Einige Leute empören sich darüber, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 350.000 Euro verdient, obwohl Spitzenmanager in der deutschen Privatwirtschaft über das Zehnfache erhalten.¹⁸ Deshalb wählen manche Arbeiter mit niedrigen Einkommen aus Wut neoliberale und rechtspopulistische Politiker, die versprechen, die Leistungen der öffentlichen Hand abzubauen.

    Selektive Wahrnehmung bedeutet, dass nur bestimmte Informationen durchdringen, die zur persönlichen Situation passen. Zum Beispiel filtert persönliche Betroffenheit die Aufnahme von Informationen enorm. Über Hurrikane, die regelmäßig in den USA große Schäden verursachen, wird in europäischen Medien intensiv berichtet. Taifune, die in China dieselben verheerenden Auswirkungen haben, sind hingegen kaum der Rede wert, denn Europa identifiziert sich aus kulturellen Gründen mehr mit den USA als mit China.

    Im Alltag gibt es zahlreiche Situationen, die von selektiver Wahrnehmung geprägt sind. Ein klassisches Beispiel: Als frischgebackener Vater sah ich plötzlich viele Eltern mit kleinen Kindern in der Stadt spazieren gehen. Und immer, wenn ich hungrig unterwegs bin, erblicke ich neidisch überall Menschen mit Snacks in den Händen. Ein anderes Beispiel sind Presseberichte über Einzelschicksale: In Italien fiel Ende der 1970er Jahre ein Säugling in einen Brunnen und das Ereignis erschien weltweit in der Presse. Dank der großen medialen Aufmachung identifizierte sich die halbe Welt mit diesem Baby. Im Libanon herrschte damals Krieg. Trotzdem verfolgten sogar die Menschen im Libanon das Schicksal des Säuglings, während in ihrem Land Tausende von Menschen im Krieg starben.¹⁹

    Für uns Menschen ist es schwierig, die Auswirkungen von Handlungen adäquat abzuschätzen. Wenn ein berühmter verheirateter Politiker mit einer anderen Frau fremdgeht, wird die Nachricht in den Medien tagelang als großer Skandal aufgebauscht, obwohl es eigentlich seine Privatsache ist und sich nicht auf die Bevölkerung auswirkt. Wenn derselbe Politiker jedoch einen Krieg mitverantwortet oder soziale Programme drastisch kürzt, so ist das häufig keine Erwähnung wert. Wenn linksradikale Demonstranten Sachschäden verursachen, indem sie Fenster einschlagen und Autos demolieren, empören sich die Leute viel mehr, als wenn ein rechtsradikaler Mob wahllos Menschen spitalreif prügelt. Letzteres ist in der Öffentlichkeit weniger sichtbar, pflegen doch die Opfer ihre Wunden im Spital oder zu Hause.

    Mir fällt immer wieder auf, dass Angst ein sehr irrationales Gefühl ist. Viele Menschen haben große Furcht, bei einem Terroranschlag, im Krieg oder durch ein Verbrechen zu sterben. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, im täglichen Verkehr tödlich zu verunfallen oder an Krankheiten wie Arterienverkalkung oder Krebs zu sterben, massiv höher. Auch die Angst vor australischen Haifischen und kanadischen Bären ist viel zu groß im Vergleich zu den tatsächlichen Todesfällen. Menschen fürchten sich viel mehr vor einem Flugzeugabsturz als vor einem Verkehrsunfall, obwohl Letzteres viel wahrscheinlicher ist. Warum ist das so? Die Autoren Steven Levitt und Stephen Dubner erklärten dieses Phänomen in ihrem Buch „Freakonomics": Grundsätzlich haben Menschen mehr Angst vor plötzlichen Ereignissen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, wie etwa ein Terroranschlag oder ein Flugzeugabsturz.²⁰ Eine Arterienverkalkung entsteht langsam und könnte durch eine gesunde Lebensführung verhindert oder eingedämmt werden. Die meisten haben mehr Angst vor dem Fliegen als vor dem Autofahren, weil sie das Auto selbst steuern.

    Ängste sind ein wichtiger Bestandteil von Weltbildern. Die Menschen werden ganz generell vor allem in jungen Jahren sowohl durch psychologisch erklärbare Mechanismen als auch durch äußere Einflüsse geprägt.


    13 (Hüther, 2015), p. 87 und p. 134

    14 https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0052970 (letzter Aufruf 04.12.2020)

    15 (Sow, 2018), p. 84

    16 https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/gerechtigkeitssinn-affen-wollen-nicht-mitgurken-handeln-a-265985.html (letzter Aufruf 04.12.2020)

    17 (Sarrazin, 2010), p. 86

    18 https://praxistipps.focus.de/angela-merkel-gehalt-und-vermoegen-der-bundeskanzlerin_115138 (letzter Aufruf 04.12.2020)

    19 (Taleb, 2007), p. 79

    20 (Levitt & Dubner, 2005), p. 152

    3 Kann uns die Philosophie

    im Alltag helfen?

    Philosophie als Basis aller Wissenschaften

    Philosophie ist die Basis aller Wissenschaften. Sie bildet sozusagen eine Metaebene, indem sie sich mit Wissen auseinandersetzt, also Inhalte und deren Sinn kritisch hinterfragt. Philosophische Texte sind immer im Kontext ihrer Entstehungszeit zu lesen. Alte Klassiker wie Immanuel Kant oder Karl Marx dürfen nicht wörtlich genommen werden, sondern müssen in ihrem Zeitgeist interpretiert werden. Als Kant über „das Ding an sich" schrieb, war Quantenphysik noch unbekannt. Zu Marx’ Zeiten waren Umweltverschmutzung und Feminismus kein Thema.

    Die Griechen prägten die europäische Philosophie stark. Sie begann mit Sokrates, der die Mäeutik („Hebammenkunst") als Gesprächstechnik einsetzte. Sein Schüler Platon entwickelte die Ideenlehre. Die Stoiker sind heute noch bekannt für ihre Gelassenheit.

    Doch auch außerhalb Europas sinnierten die Menschen schon lange über Sinn und Sein. So sollten die asiatischen Lehrtraditionen wie Buddhismus, Hinduismus, Taoismus, Konfuzianismus und Shintoismus ebenfalls beachtet werden, genauso wie der Schamanismus diverser Urvölker. Grundsätzlich kann sich jeder Mensch, unabhängig von Herkunft und Bildung, zwischendurch in ruhigen Momenten Gedanken über die Welt machen, auch wenn im hektischen Alltag kaum Zeit und Energie dafür bleiben. Vor allem Disziplinen wie Logik, Ethik und Erkenntnistheorie sind unsere ständigen Begleiter, meistens ohne dass wir es bemerken.

    Die aktuelle Strömung des „Neuen Materialismus" fordert eine Verschmelzung von Geistes- und Naturwissenschaften, um der globalisierten Gesellschaft und den neuesten physikalischen Erkenntnissen Rechnung zu tragen. Ihre Vertreter plädieren dafür, dass sich nicht nur Menschen, die eine philosophische Ausbildung besitzen, mit Grundsatzfragen auseinandersetzen. In der Tat beschäftigen sich immer mehr Naturwissenschaftler mit Philosophie. Zum Beispiel schlug der Biochemiker Frederic Vester vor, eine Kombination von kreisförmigem asiatischem und linearem abendländischem Denken anzuwenden.²¹ Der Physiker Stephen Hawking vermutet, dass es keine objektive Realität gibt. Der Physiker Fritjof Capra beschreibt die Berührungspunkte zwischen Wissenschaft und Spiritualität.²² Richard Dawkins ist Evolutionsbiologe und beschäftigt sich intensiv mit Religionskritik und Reduktionismus.

    Exkurs: Rationalismus und Empirismus

    Eine zentrale Frage in der Philosophie ist, wie der Mensch zu Erkenntnissen gelangt: durch Denken oder durch Erfahrung?

    René Descartes war ein Vertreter des Rationalismus. Diese philosophische Richtung lässt nur das vernünftige Denken als Quelle der Erkenntnis zu. Dementsprechend lautet Descartes’ erste Gewissheit: „Cogito ergo sum („Ich denke, also bin ich). Seine Philosophie basiert auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Isaac Newton. Descartes dachte, es gebe bestimmte Naturgesetze, die von Gott definiert seien. Sein mechanistisches Weltbild gilt zwar heute als widerlegt, trotzdem ist seine reduktionistische Philosophie weiterhin verbreitet.

    Thomas Hobbes ist einer der bekanntesten Namen des Empirismus. In dieser philosophischen Anschauung bildet Erfahrung die Grundlage jeder Erkenntnis. Hobbes ist bekannt für seine Darstellung des Staates als „Leviathan", eine riesige Macht. Er verfasste seine Überlegungen während des englischen Zivilkriegs und ging deshalb davon aus, dass die Menschen sich ohne starken Staat aufgrund ihres Naturinstinkts immer bekämpfen würden. Zudem forderte er als einer der Ersten, dass die Kirche dem Staat unterzuordnen sei.

    Immanuel Kant brachte später Rationalismus und Empirismus miteinander in Einklang.

    Ethik

    Aristoteles beschäftigte sich als einer der ersten Philosophen der Antike mit ethischen Fragestellungen. Ethik bildet die Metaebene der Moral. Sie sagt – im Gegensatz zur Moral – nicht, was gut und was schlecht ist, sondern wie man dazu kommt, etwas als gut oder schlecht zu beurteilen.²³ Ethik ist zeitlos und ortsunabhängig, während Moral je nach Zeitalter und Land variieren kann und durch Religionen und gesellschaftliche Normen festgelegt wird. Grundsätzlich beantwortet Ethik die Frage: „Was will ich tun? Moral hingegen beantwortet die Frage: „Was soll ich tun?

    Im Gegensatz zu den fixen Vorgaben in heiligen Schriften fordert eine aufgeklärte, evolutionäre und humanistische Ethik moralische Vorschriften, die je nach Zeit und Ort angepasst werden. Der Humanismus ist eine philosophische Strömung, welche den Menschen und seinen Umgang mit der Umwelt in den Mittelpunkt stellt. Dieses anthropozentrische Weltbild entstand während der Auflärung und wird wissenschaftlich und religionskritisch gepflegt.

    Ein wichtiges ethisches System ist der Utilitarismus. Bekannte Vertreter waren die liberalen Philosophen Jeremy Bentham und John Stuart Mill. Handlungsleitend ist im Utilitarismus die folgende Überlegung: Wie lassen sich der Nutzen und das Glück in der Summe für alle betroffenen Personen maximieren? Die utilitaristische Ethik birgt einige Probleme in sich, da es fraglich ist, ob die positiven Gesamtauswirkungen einer Handlung jemals objektiv bestimmt werden können, sei es durch das Individuum, sei es durch die Gesetzgebung.²⁴ Folgende Geschichte veranschaulicht eine weitere Problematik: „Eine Gruppe von Verbündeten wird mit dem Tod bedroht, wenn sie nicht einen bestimmten Mann ausliefert. Wohl wissend, dass der Mann unschuldig ist und in den sicheren Tod geht, liefern sie ihn gegen seinen Willen aus, um die Übrigen zu retten." Ist eine solche Handlung wirklich ethisch vertretbar?

    Der Utilitarismus diente den Europäern zur Legitimation der Kolonialisierung, indem sie sich auf den Gesamtnutzen für die Menschheit beriefen. In neuerer Zeit wird die utilitaristische Ethik angewandt, um beispielsweise die Akzeptanz von Verkehrsregeln zu erhöhen. Vorschriften schränken die Autofahrenden ein, aber der dadurch erlangte Nutzen, möglichst unversehrt von A nach B zu gelangen, wird als wichtiger eingeschätzt. Erwähnenswert scheint mir die Feststellung zu sein, dass Bentham einer der ersten Denker war, der das Wohl von Tieren in seinen Theorien berücksichtigte.

    Einen völlig anderen Ansatz wählte Immanuel Kant. Mit der sogenannten Deontologie postulierte er die praktische Notwendigkeit eines freien Willens, der sich in der Vernunft manifestiere. Der Mensch sei hiermit in der Lage, moralisch korrekt zu handeln. Rein theoretisch bräuchte es keine Gesetze mehr, wenn alle Menschen ihr Maximum an Vernunft aufbringen würden, um den „kategorischen Imperativ zu erfüllen, der folgendermaßen lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Mit anderen Worten: Wenn ein Europäer einen Lebensstil pflegt, für den gemäß ökologischem Fußabdruck die Ressourcen dreier Erden benötigt werden, und alle Menschen so handeln würden, so widerspricht das der Ethik Kants, weil ein solch allgemeines Gesetz nur den Gebrauch einer Erde erlauben würde.

    Die große ethische Frage lautet: Kann der Einzelne im Alltag zur Verbesserung der Welt beitragen oder müssen alle zusammen mit Hilfe gemeinsamer Vereinbarungen anpacken? Sowohl aus deontologischer als auch aus utilitaristischer Sicht muss der Rechtsstaat gewisse Vorschriften definieren und überwachen, um die Menschen zum vernünftigen Handeln zu „zwingen". Die Rechtsphilosophie diskutiert dabei die Frage, wie detailliert diese Regeln ausformuliert werden müssen und wo auf Eigenverantwortung gesetzt werden kann (siehe Kap. 36).


    21 (Vester, 1985), p. 52

    22 (Capra & Luisi, 2014)

    23 (Pieper, 2007), p. 28

    24 (Höffe, 2008), p. 32

    4 Wie beeinflussen

    Quantenphysik und Relativitätstheorie

    die Suche nach

    der Weltformel?

    Klassische mechanistische Physik

    Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dachten die Wissenschaftler, mit Hilfe der klassischen mechanistischen Physik die Funktionsweise der ganzen Welt reduktionistisch erklären zu können. Den Kern bilden die drei Sätze von Isaac Newton sowie die Wärmelehre. Die Euklidische Geometrie aus der Antike diente zur Beschreibung des dreidimensionalen Raums. Doch dann falsifizierten Quantenphysik und Relativitätstheorie all diese Annahmen. Trotzdem sind die alten Erkenntnisse im alltäglichen Bereich weiterhin sinnvoll nutzbar. Nur in mikroskopischen und astronomischen Größenordnungen müssen andere Erklärungen verwendet werden. In der klassischen Physik herrscht weiterhin Determinismus. Es lässt sich zwar alles theoretisch voraussagen, aber nicht zwingend numerisch berechnen (siehe Kap. 5).

    Quantenphysik

    Die Quantentheorie stellte die klassischen Erkenntnisse der Physik zumindest im mikroskopischen Bereich auf den Kopf. Ein zentrales Element ist hierbei die Unschärferelation von Werner Heisenberg. Sie besagt, dass im mikroskopischen Bereich entweder die Geschwindigkeit oder die Position eines Teilchens exakt ermittelt werden kann, nicht aber beides zugleich. Je genauer der Wert für die Geschwindigkeit gemessen wird, desto ungenauer der Wert für die Position und umgekehrt. Aus diesem Grund werden quantenphysikalische Ereignisse mit Wahrscheinlichkeiten beschrieben und nicht mit eindeutigen Aussagen, denn die verschiedenen Möglichkeiten überlagern sich. Ein Teilchen kann sich gleichzeitig an mehreren Orten befinden. Diese Erkenntnis nennen die Physiker Dualismus zwischen Teilchen und Wellen. Teilchen, also Materie und Energie, treten immer in fixen, „diskreten" Abständen, genannt Quanten, auf, während Wellen eine stetige Erscheinung sind. Im mikroskopischen Bereich sind Teilchen immer gleichzeitig auch Wellen. Je größer die Objekte werden, desto kleiner wird dieser quantenphysikalische Effekt.

    Das bekannteste Experiment zur Veranschaulichung ist der sogenannte Doppelspalt. Die Versuchsanordnung sieht folgendermaßen aus: Wenn Licht durch einen Spalt strahlt, so lässt sich auf der gegenüberliegenden Leinwand ein der Spaltform entsprechender Lichtfleck beobachten. Wenn jedoch ein zweiter Spalt geöffnet wird, so werden nicht etwa zwei Spaltflecken projiziert, sondern ein Interferenzmuster aus vielen regelmäßigen Streifen, was den Wellencharakter der Photonen beweist. Mit großen Objekten wie Bällen, also in der makroskopischen Welt, funktioniert dieses Prinzip jedoch nicht mehr. Die Grenze zwischen mikroskopischer und makroskopischer Welt ist fließend und wird heute noch genauer erforscht.²⁵

    Dass es eine solche Grenze geben muss, zeigt uns das Gedankenexperiment „Schrödingers Katze". Der Physiker Erwin Schrödinger erzählt von folgender Versuchsanordnung: Eine Katze befindet sich in einer verschlossenen Kiste, zusammen mit einer tödlichen Giftlösung und einem instabilen Atomkern, der innerhalb einer bestimmten Zeit mit gewisser Wahrscheinlichkeit zerfällt. Sobald ein Geigerzähler den Zerfall misst, löst er die Freigabe des Gifts aus und die Katze stirbt. Der außenstehende Experimentator erhält erst beim Öffnen der Kiste Gewissheit, ob das Tier noch lebt oder tot ist. Der Zerfall des Atomkerns ist ein quantenphysikalischer Vorgang und nur mit Wahrscheinlichkeiten und überlagerten Zuständen beschreibbar. Dies hat zur Folge, dass die Katze in diesem Gedankenexperiment gleichzeitig sowohl tot als auch lebendig sein müsste, solange die Kiste verschlossen bleibt. Da dies jedoch der Alltagserfahrung mit makroskopischen Objekten wie Tieren widerspricht, muss es eine Grenze zwischen mikro- und makroskopischer Welt geben, auch wenn sie nicht genau gezogen werden kann, sondern fließend ist.

    Ein wichtiges Werkzeug der Quantenphysik ist die Schrödingergleichung. Es handelt sich um eine sogenannte Wellengleichung, also um eine mathematische Formel, die es erlaubt, zeitliche Zustände zu beschreiben. Je nach physikalischen Eigenschaften des Objekts, zum Beispiel eines Atoms, wird diese Gleichung unterschiedlich parametrisiert. Für die meisten Elemente müssen mit Hilfe von numerischen Verfahren Näherungen für die Wellenfunktionen berechnet werden. Diese werden durch Algorithmen beschrieben, mit welchen von Natur aus gewisse Probleme nicht berechenbar sind: In der Quantenphysik muss mit reellen Zahlen gerechnet werden, welche manchmal eine unendliche Anzahl Stellen nach dem Komma aufweisen. Je exakter gerechnet werden soll, desto mehr Rechenzeit wird benötigt. Eine ganz exakte Lösung kann deshalb nie ermittelt werden.

    Determinismus auf makroskopischer Ebene wird durch die Quantentheorie nicht widerlegt. Gleichzeitig wird jedoch ein indeterministisches Verhalten von Geschwindigkeit und Ort der Teilchen im mikroskopischen Bereich aufgezeigt, wobei die Wahrscheinlichkeiten wiederum deterministisch sind.

    Sowohl Physiker als auch Vertreter der Existenzphilosophie wie Jean-Paul Sartre beschäftigten sich mit der Interpretation der Erkenntnisse aus der Quantenphysik. Die sogenannte Kopenhagener Deutung geht davon aus, dass Wellenfunktionen erst bei der Messung auf genau einen Ort eines Teilchens kollabieren. Dies hätte zur Folge, dass keine eindeutige Realität existiert.²⁶ Allerdings steht Schrödingers Katze im Widerspruch zu dieser Annahme. Daher geht eine andere Deutung davon aus, dass die Wellenfunktionen auch ohne Messung spontan kollabieren können. Eine weitere Interpretation geht gar davon aus, dass die Wellenfunktionen nie kollabieren, sodass immer gleichzeitig verschiedene Zustände möglich sind. Mit dieser Annahme wären Paralleluniversen möglich. Je nach Interpretation der Quantenphysik könnte sogar die Vergangenheit theoretisch durch Beobachtung verändert werden; man nennt dieses Phänomen „Alternate Stories. Das klingt sehr abenteuerlich, und deshalb gibt es im Esoterikbereich immer wieder Angebote von Scharlatanen, die mit Hilfe der Quantenphysik übernatürliche Phänomene zu erklären versuchen und mit dem Begriff „Quantenheilung das große Geld machen wollen.

    Relativitätstheorie

    Albert Einstein veröffentlichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Relativitätstheorie, welche aus einem speziellen und einem allgemeinen Teil besteht. Seine Herleitungen und Ausführungen sind äußerst kompliziert und werden wohl nur von sehr wenigen Menschen verstanden. Ich als Laie gehöre nicht dazu, kann aber die daraus folgenden Erkenntnisse gut nachvollziehen, dank populärwissenschaftlicher Literatur von Physikern wie Stephen Hawking.

    Die spezielle Relativitätstheorie umfasst folgenden Satz: Je schneller sich Materie bewegt, desto langsamer läuft für diese Materie die Zeit. Wenn ein Objekt mit Lichtgeschwindigkeit fliegt, so vergeht überhaupt keine Zeit. Es gibt also keine absolute Zeit im Universum. Jedes Materieteilchen besitzt seine eigene Zeit. Es gibt kein Jetzt. Diese Erkenntnis lässt mich in philosophische Gedanken abschweifen: Ich kenne viele Menschen, die an ein Leben nach dem Tod oder an Wiedergeburt glauben. Für mich spielt das jedoch keine Rolle, denn das Wort „nach" gibt es in Bezug auf das ganze Universum nicht. Jedes Lebewesen ist einfach, existiert im Universum, in seiner eigenen Zeit.

    Die bekannteste Formel der speziellen Relativitätstheorie lautet: E = mc². Sie weist darauf hin, dass Materie potenziell in sehr hohe Energie umgewandelt werden kann. Eine Veranschaulichung liefert uns die enorme Kraft nuklearer Waffen. Umgekehrt kann Energie in Masse umgewandelt werden. Masse und Energie sind streng genommen sogar äquivalent.

    Die allgemeine Relativitätstheorie befasst sich grundsätzlich mit Gravitation, ist jedoch nicht kompatibel mit der Quantenphysik und wird deshalb nur im makroskopischen Bereich angewendet. Den Kern bildet das sogenannte Raum-Zeit-Kontinuum. Hawking leitete daraus seine Keine-Grenzen-Theorie ab: „Das Universum ist zwar endlich, besitzt jedoch keine Grenzen."²⁷ Dies ist etwas schwer vorstellbar, jedoch am ehesten vergleichbar mit der Erdoberfläche, welche auch endlich ist, aber keine Grenzen aufweist. Nur handelt es sich beim Universum um einen gekrümmten Raum

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