Theorie der Zivilität
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Über dieses E-Book
Volker von Prittwitz
Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin
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Buchvorschau
Theorie der Zivilität - Volker von Prittwitz
Gewidmet
Maijaleena Mattila (1947 – 2007)
Wir verschwinden nicht in der Ewigkeit, weder im Himmel noch auf der Erde.
Wir ziehen ein in die Herzen unserer Liebsten und von dort kommunizieren
wir mit der Welt, in jeder einzelnen Tat der Menschen.
(Unbekannte Quelle aus dem Finnischen)
Lieber Leser, liebe Leserin,
Zivilität ist gegenseitiger Respekt. Dabei achten die Beteiligten gegenseitig ihre Würde und Freiheit, betrachten sich, abgesehen von funktionalen Unterschieden, als gleichgestellt und sind sich ihrer gemeinsamen Verantwortung bewusst. Von diesem Credo der zivilen Moderne geht die Theorie der Zivilität aus, offen für die Bedeutung sozialer Bedingungen, aber kritisch gegenüber der Vorstellung, der Mensch ließe sich auf Kultur, Gruppenidentität, Ökonomie oder Macht reduzieren. Dementsprechend können Sie dieses Buch als Diskurs lesen – oder als Einführung in: A) die allgemeine Zivilitätstheorie grundlegender Begriffe, Typologien und Erklärungsmodelle, B) die besondere Zivilitätstheorie einzelner Zivilitätsmedien, so Recht, Staat, Politik, Wirtschaft, Spiel, Sport und Kunst, C) Herausforderungen und Perspektiven, so öffentliches Handeln, zivil-moderne Verwaltung, demokratische Wahlen, Korruption, Separatismus, Ethik, Außenpolitik, intertemporale Politik und Menschheitslernen.
In dem Text wird Respekt ausgedrückt, ohne routinemäßig zu gendern – eine sprachliche Botschaft. Die gemeinnützige Civility gUG, Berlin, eröffnet mit dem Buch ihre Buchreihe und plant Veranstaltungen zu zivilitätstheoretischen Themen. Dafür danke ich der Gesellschaft und allen, die sie unterstützen. Dieser Dank gilt im Besonderen Felix Zachau für die sorgfältige und anregende Betreuung der Publikation des Texts. Dankbar bin aber auch allen, die frühere Textfassungen mit mir diskutiert und so zur Weiterentwicklung der Theorie beigetragen haben.
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich eine gute Lektüre,
Berlin, im August 2023
Volker Prittwitz
Inhalt
Lieber Leser, liebe Leserin
Abbildungen und Tabellen
A) Allgemeine Zivilitätstheorie
1) Wissenschaft ohne Theorie?
2) Zivilisation und Zivilität
3) Rational Choice, Kapazitätstheorie und Framing
4) Beziehungslogiken
4.1 Freund-Feind-Logik
4.2 Machtlogik
4.3 Logik des Eigeninteresses
4.4 Logik gegenseitiger Bindung
4.5 Die Logiken im Vergleich
5) Interaktionstypen
5.1 Krieg
5.2 Herrschaft
5.3 Horizontale Koordination
5.4 Zweidimensionale Koordination
5.5 Mehrdimensionale Koordination
5.6 Die Interaktionstypen im Vergleich
6) Räumliche Zivilität
6.1 Beziehungsdichte (Intensität)
6.2 Beziehungen zwischen Territorien
6.3 Von der Ein- zur Mehrebenigkeit
6.4 Beziehungsumfang (Extensität)
7) Zeitliche Zivilität
8) Gesellschaftsmodelle
8.1 Zivile Moderne
8.2 Halbe Moderne
8.3 Vormoderne
8.4 Weltgesellschaft
9) Erklärungsmodelle
9.1 Rahmenmodell
9.2 Reproduktion von Zivilität
9.3 Dynamische Zivilitätsveränderungen und Brüche
9.4 Wie entsteht, wie endet Krieg?
B) Besondere Zivilitätstheorie
10) Familie und Nachbarschaft
11) Religion und Wissenschaft
12) Spiel und Sport
13) Recht
13.1 Grundlagen
13.2 Rechtsbereiche
14) Staat
14.1 Herrschen Staaten?
14.2 Staatsformen
15) Politik
15.1 Politikbegriff
15.2 Bereiche und Formen von Politik
15.3 Das parteipolitische Spektrum
16) Wirtschaft
16.1 Unilateralismus und Marktfreiheit
16.2 Kapitalismus-Kritik und „Realer Sozialismus"
16.3 Ordoliberalismus
16.4 Warum Marktwirtschaft kein faires Verfahren ist
16.5 Keynes und Postkeynesianismus
16.6 Wirtschaftskoordination auf einem Planeten
16.7 Rebound-Effekte und Koordinationsversagen
17) Kunst
C) Herausforderungen und Perspektiven
18) Öffentliches Handeln
18.1 Zwei Begriffe von Öffentlichkeit
18.2 Funktionsanforderungen nach dem Policy Cycle
18.3 Erfolgsbedingungen öffentlichen Handelns
18.4 Erfolgsbemessung
18.5 Strategisches Handeln
19) Öffentliche Verwaltung
19.1 Bürokratie
19.2 Die Rede von Verwaltungsreformen
19.3 Ein zivil-modernes Verwaltungsmodell
20) Politische Öffentlichkeit
20.1 Begriff
20.2 Ambivalenzen und Rückfälle
20.3 Perspektive Weltöffentlichkeit
21) Demokratische Wahlen
21.1 Funktionen und Grundstruktur
21.2 Wahlsysteme im Vergleich
22) Herausforderung Korruption
22.1 Netzwerke
22.2 Was ist Korruption und wie erklärt sie sich?
22.3 Korruptionsbekämpfung durch Autokratien?
23) Separatismus und Staatsgründung
23.1 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
23.2 Fallvergleich uni- und multilateraler Staatsgründung
24) Ethische Orientierungen
24.1 Von Moral und Zivilreligion zu Ethik
24.2 Alternativen zu fehlender Zivilität
24.3 Wie umgehen mit autokratischer Gewaltherrschaft?
24.4 Ethik offener Zivilität
24.5 Ethik gesicherter Zivilität
24.6 Ethik entfalteter Zivilität
24.7 Gendern? Wie lässt sich Respekt ausdrücken?
25) Außenpolitik im globalen Rahmen
25.1 Traditionelle Außenpolitik
25.2 Feministische Außenpolitik
25.3 Zivilitätsgeleitete Außenpolitik
26) Intertemporale Zivilität
26.1 Wie umgehen mit Denkmälern?
26.2 Historische Privilegien
26.3 Schutz oder Respekt vor Vergangenheit?
26.4 Intertemporale Kooperation
26.5 Beeinflussen sich Vergangenheit und Zukunft?
27) Einwände
27.1 Die Bestimmtheit durch Kulturen (Kulturalismus)
27.2 Identitätspolitisches Denken
27.3 Der Wert von Denktraditionen
28) Menschheitslernen
Literatur und Links
Abbildungen und Tabellen
Abbildung 1: Rahmenmodell der Zivilitätsveränderung
Abbildung 2: Reproduktion geringer Zivilität
Abbildung 3: Reproduktion hoher Zivilität
Tabelle 1: Zivilitätspotentiale der Beziehungslogiken
Tabelle 2: Zivilitätspotentiale von Interaktionstypen
Tabelle 3: Reichsgedanke versus Föderalismus
A) Allgemeine Zivilitätstheorie
1) Wissenschaft ohne Theorie?
Grau, treuer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum, spricht Mephisto in Faust 1 (Goethe 1808) und Karl Marx` elfte Feuerbach-These (Marx 1845) lautet: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Demnach zählt Praxis, nicht Theorie, eine folgerichtig erscheinende Auffassung; denn mit dem Aufstieg der durch qualifizierte Arbeit bestimmten Leistungsgesellschaft (Homo faber) wird alles an seinen praktischen Effekten gemessen; Theorie (vom altgriechischen theoria: Anschauung, Betrachtung, Erkenntnis) steht demgegenüber seit der griechischen Antike für freies erkenntnisorientiertes Denken im Zeichen möglicher Muße – ein scheinbarer Widerspruch.
Die Auffassung, Praxis habe gegenüber Theorie strikten Vorrang, so Marx`Feuerbach-These, bestimmt nicht nur (in goldenen Lettern) das Eingangs-Foyer der Humboldt-Universität Berlin; sie ist auch allgemein sozialwissenschaftlich einflussreich. So arbeiten Wissenschaftszentren in Deutschland nach der Leitformel angewandter Grundlagenforschung: interdisziplinär und praxisorientiert. Viele Forschungsnetzwerke, so die sozialwissenschaftliche Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung, sind strikt praxisorientiert ausgerichtet – eine wichtige Begründung für das Einwerben öffentlicher und privater Mittel. In der Politikwissenschaft schließlich wird noch nicht einmal versucht, Theorie übergreifend zu bilden, womit die Disziplin kein theoretisches Profil aufweist.
Dieser Zustand gilt nicht als prekär; denn politikwissenschaftliche Absolventen und Absolventinnen haben auch ohne ein klares inhaltliches Studienprofil Jobchancen in einem breiten Tätigkeitsspektrum (Hahne 2021). Wer gewohnt ist, Politik umgangssprachlich zu behandeln, empfindet schon allgemeinere Begriffe und Typologien der Politik als theorielastig und wissenschaftlich lässt sich ohne übergreifende theoretische Rahmungen leichter selbstbestimmt arbeiten.
Das häufige Theorie-Bashing der Sozialwissenschaften hat allerdings auch dunkle Seiten: Ohne eine gemeinsame Theoriegrundlage lassen sich keine wissenschaftlichen Rätsel lösen, denn diese müssen erst einmal als solche anerkannt sein – ein Theorieergebnis. Folglich fehlt es massiv an wissenschaftlicher Erkenntnis und Erkenntnisdynamik zu Gesellschaft und Politik. Zudem bilden selbst Studierende der Politikwissenschaft ihre Vorstellungen von Politik häufig allein daraus, was sie in Medien, sozialen Netzwerken und privaten Gesprächen mitbekommen, nicht aber aus politikwissenschaftlichen Kontroversen; Politikwissenschaft hat also erkenntnisorientiert nur geringe Autorität.
Damit aber entsteht ein fatales Ungleichgewicht: Während sich naturwissenschaftlich begründete Technologie stürmisch entwickelt, ja ein neues Zeitalter, das Anthropozän, hervorgebracht hat, dümpelt Politik erkenntnis-, orientierungs- und handlungsschwach vor sich hin: Die Menschheit fliegt zum Mars und baut Quantencomputer; sie kann sich aber nicht effektiv koordinieren – ein gefährliches Unvermögen angesichts von Krieg und Aufrüstung, angesichts der anthropogenen Überhitzung der Erde und der raschen Entwicklung künstlicher Intelligenz. Die Menschheit droht, mitsamt ihren technologischen Spitzenleistungen in ihren Untergang zu rasen, unfähig sich selbst überhaupt als Menschheit wahrzunehmen, sich sozial und politisch zu analysieren und darauf gestützt, klug und energisch zu handeln.
Angesichts dessen wird Theoriebildung existentiell: Wir müssen entscheidende Rätsel der Menschheitsentwicklung als sozialwissenschaftliche Rätsel entdecken und eine stürmische Erkenntnisdynamik zu deren Lösung in Gang zu setzen – im Sinn des Wissenschaftstheoretikers Karl Popper, der in seinem Hauptwerk Logik der Forschung den Satz zentral stellte: Die Erfahrungswissenschaften sind Theoriensysteme (Popper 1934, 31).
Demnach geht es wissenschaftlich um erkenntnisorientierte Theoriebildung. Nur dadurch kann Wissenschaft ihre besonderen Potentiale entfalten, was letzten Endes gesamtgesellschaftlicher Praxis zugutekommt. Dabei hat wissenschaftliche Theoriebildung drei Anforderungen zu erfüllen:
1. Überprüfbarkeit: Anders als die spekulative Theorie des Hoch- und Spätmittelalters, etwa eines Meister Eckhart (Harrington 2018), müssen Aussagen moderner Wissenschaft logisch und empirisch überprüfbar sein – eine methodische Anforderung.
2. Erkenntnisorientierung: Wissenschaft soll, anders als Alltagsdenken, möglichst umfassend gültige und möglichst genau bestimmte, sprich möglichst gehaltvolle, Aussagen entwickeln (Popper 1969, 85/86). Dabei geht es nach dem Muster des mathematischen Ausklammerns (Faktorisierens), das aus einer Summe oder Differenz ein Produkt macht, vor allem um verallgemeinerbare Erklärung. Wissenschaft soll zu Erkenntnis beitragen.
3. Kommunikation: Wissenschaft soll Theorie diskutieren, dabei kritisch prüfen und vergleichend würdigen. Dazu muss Theorie offen zugänglich und Wissenschaft fähig und willens zum theoretischen Diskurs sein.
Diese drei Wissenschaftsanforderungen bedingen und verstärken sich gegenseitig. So lassen sich Theorien umso leichter prüfen, je allgemeingültiger und genauer sie gefasst sind (Popper 1969, S. 86); Theoriebildung korrespondiert insofern mit wissenschaftlicher Methodik. Theoriebildung und Methodik ihrerseits erleichtern wissenschaftliche Diskurse, die wiederum Theorie- und Methodenentwicklung anregen. Durch diese Wechselwirkungen entsteht die charakteristische Erkenntnisdynamik idealtypischer Wissenschaft.
Nun mögen Sie einwenden: Die Sozialwissenschaften haben Inhalte und Bedingungen, die sich von denen der Naturwissenschaften unterscheiden – ein Argument, dem ich folge: Anders als Gravitation, Strahlen und Steine können sich Akteure frei entscheiden; sie interpretieren Sachverhalte subjektiv, verhalten sich wert- und interessengeleitet und handeln willentlich. Dabei kann es auch um Aussagen und Rahmenbedingungen von Wissenschaft selbst gehen, womit wissenschaftliche Objektivitätsprobleme entstehen – besondere Komplexität, die wissenschaftliche Theoriebildung im Sinne Poppers enorm erschwert.
Dennoch zeigen qualitative und quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung (Behnke u.a. 2006) sowie entwickelte sozialwissenschaftliche Theorieansätze, darunter die Spieltheorie (von Neumann 1928, von Neumann/Morgenstern 1944; Axelrod 1984; Elster 1989; Scharpf 2000; Binmore 2013), die Systemtheorie (Parsons 1937, 1951; Easton 1965; Luhmann 1984), die Theorie funktionaler Differenzierung (Luhmann 1984; Schimank 1996, 2005) und sozialpsychologische Theorien: Auch die Sozialwissenschaften sind theoriefähig.
In diesem Sinn und Geist lege ich hiermit die Theorie der Zivilität vor. Diese geht vom Begriff der Zivilisation zum Begriff der Zivilität über.
2) Zivilisation und Zivilität
Menschen leben seit Jahrtausenden in Zivilisationen – soweit wir wissen, beginnend in Mesopotamien, Indien und China. In Europa ist das Wort Zivilisation (abgeleitet von den lateinischen Worten civis: Bürger und civilitas: Bürgerstand, Umgänglichkeit) seit dem 17. Jahrhundert üblich (Miliopoulos 2007). Es bezeichnet primär technische, wirtschaftliche und soziokulturelle Formen und Produkte entwickelten Zusammenlebens. Damit hat der Zivilisationsbegriff Erkenntnis- und Orientierungspotentiale verträglichen Zusammenlebens.
Im europäischen Kolonialismus, der mit Kolumbus` Amerikareisen (ab 1492) begann und im frühen 20. Jahrhundert endete, kehrte sich der Begriff allerdings gegen Dritte. So wurden Völker in Afrika, Asien, Australien, Süd- und Nordamerika, ohne Versuch, deren Lebensformen zu verstehen, als unzivilisiert diskriminiert und oft grausam verfolgt (für Nordamerika Henningsen 2009). Anstatt Erkenntnissuche beförderte der Begriff der Zivilisation also arrogantes Unverständnis, Ausbeutung, Unterdrückung und Völkermord.
Ein Erklärungsmoment dafür liegt im Absolutismus, in dem der fürstliche Staat absolute Herrschaftsmacht nach innen wie außen beanspruchte. Der dadurch geprägte Zivilisationsbegriff bezog sich nicht auf die allgemeine Bevölkerung, geschweige denn auf Dritte, sondern auf verfeinerte Umgangsformen der höfischen Gesellschaft unter Fragen wie: Wie isst man zivilisiert? (Tischsitten) Wie kleidet man sich? Wie spricht man zivilisiert? Wie verhält man sich hygienisch? Wie geht man mit Gewaltsymbolen und Sexualsymbolen um? (Elias 1939)
Dieses Zivilisierungsverständnis gehobener Lebensart mit absolutem Machtanspruch bildete eine Art Sprungbrett für weltweiten Kolonialismus und Imperialismus überall dort, wo es Macht erlangte. So strotzte selbst noch die Modernisierungstheorie der 1950er und 1960er Jahre, in der der American Lifestyle als Höhepunkt von Modernisierung aufgefasst und propagiert wurde (Rostow 1960), vor Überheblichkeit gegenüber anderen Kulturen.
In erkennbarem Gegensatz dazu differenzierte der kanadische Politologe Samuel Huntington in seinen Texten unter dem Titel The Clash of Civilizations (Huntington 1993, 1996) unterschiedliche Kulturen beziehungsweise Zivilisationen. Hierzu zählte er die sinische Zivilisation (Kernstaat China), die japanische Zivilisation (einziger Staat Japan), die hinduistische (Kernstaat Indien), die islamische, die orthodoxe (Kernstaat Russland), die lateinamerikanische, afrikanische und die westliche Zivilisation (USA, Europa, Australien). Er relativierte also das westliche Zivilisationsmodell und hob andere eigenständige Zivilisationen als aktuelle oder mögliche Konkurrenten hervor.
Huntingtons Clash of Civilisations-These, wonach (primär religiös geprägte) Zivilisationen zunehmend konflikthaft aufeinanderstoßen, hat Wissenschaft und Medien jahrzehntelang beschäftigt; diese These übersieht allerdings völlig gemeinsame Menschheitsaspekte. So weist die gesamte Menschheit eine annähernd identische Genomstruktur auf. Auch grundlegende Bedürfnisse des Menschen wie Trinken, Essen, Wohnung, physische und psychische Sicherheit, Anerkennung sowie kulturelle Entfaltungsmöglichkeit gleichen sich. Dazu kommen globale Muster wie Arbeitsteilung, Migration, globale Kommunikations- und Navigationssysteme sowie globale Koordinationsformen in Wissenschaft, Sport und Politik. Vor allem aber ist die Menschheit mit existentiellen Herausforderungen konfrontiert, so der Klimaproblematik und der Gefahr, sich in einem mit Massenvernichtungswaffen geführten Krieg selbst zu zerstören. Angesichts dessen steckt die Zivilisations-Forschung in einem begrifflichen Dilemma: Einerseits muss der kolonialistisch belastete Zivilisationsbegriff kritisch reflektiert werden; andererseits sind gemeinsame Herausforderungen der Menschheit als Zivilisationsherausforderungen zu thematisieren. Als Ausweg aus diesem Dilemma betrachte ich den Begriff der Zivilität.
Das Wort Zivilität und seine Adjektivform zivil bezeichnen im Deutschen traditionell Nichtmilitärisches (Er kommt in Zivil) und Nichtstaatliches (Zivilgesellschaft); die Begriffe Zivilcourage und Zivilgesellschaft heben auf individuelles Verantwortungsbewusstsein ab. Das englische Wort civility und das französische Wort civilite stehen für einen gesitteten Umgang miteinander; das lateinische civilitas (Bürgerschaft als Versammlung Gleichberechtigter und Freier) verbindet wechselseitigen Respekt mit Gleichstellung, Freiheit und Verantwortungsbewusstsein jenseits funktionaler Kompetenzunterschiede.
Im Anschluss an diese Wortbedeutungen lässt sich Zivilität wie folgt definieren:
Zivilität ist gegenseitiger Respekt. Dabei achten die Beteiligten gegenseitig ihre Würde und Freiheit, betrachten sich, abgesehen von funktionalen Unterschieden, als gleichgestellt und sind sich ihrer gemeinsamen Verantwortung bewusst.
In diesem Sinn ist Zivilität ein qualitativer Einstellungs- und Verhaltenssatz. Der Begriff lässt sich aber auch quantitativ als Grad gegenseitigen Respekts interpretieren. Demnach zivilisieren sich Beziehungen mit zunehmendem gegenseitigem Respekt, während sie sich mit abnehmendem oder zusammenbrechendem gegenseitigem Respekt entzivilisieren.
Hierbei steht das Wort Respekt, anders als im Sinne einseitiger Hochachtung oder Verehrung, für die Achtung, die jeder Mensch jedem anderen menschlichen Wesen entgegenbringen soll – eine Bedeutung, die durch das Adjektiv gegenseitig verdeutlicht werden soll. Dabei eingeschlossen ist die Fähigkeit, zumindest aber der Versuch, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale der anderen zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden (Empathie). Schließlich binden sich Akteure, die sich gegenseitig respektieren, selbst in ihrem Verhalten, sodass sie die Integrität anderer praktisch achten und auch selbst vor Übergriffen anderer geschützt sind.
Akteure, die sich gegenseitig respektieren, betrachten sich grundsätzlich als gleichgestellt, auch im Bewusstsein ihrer möglichen Funktions- und Stellungsunterschiede. Hierbei sind sie sich ihrer gemeinsamen Verantwortung bewusst; denn nur in diesem Bewusstsein lässt sich gegenseitiger Respekt schützen und entwickeln, wird Zivilität handlungsfähig.
Ausgehend von diesem Zivilitätsbegriff können wir uns mit der Zivilitätstheorie beschäftigen. Hierzu skizziere ich zunächst drei Denkansätze, die der Theorie zugrunde liegen: Rational Choice-Ansatz, Kapazitätstheorie und Framing.