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Grenzverschiebung
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eBook599 Seiten7 Stunden

Grenzverschiebung

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Über dieses E-Book

Hans Sonntag macht Karriere, die ihn an verantwortungsvolle Positionen in der Justizverwaltung des Dritten Reichs führt. Immer weiter begleitet er dabei die Abschaffung des Rechtsstaates und die Aufgabe fundamentaler Rechtsgrundsätze, ohne für sich persönliche Konsequenzen zu ziehen und wird immer mehr zum Schreibtischtäter. Wie er sich anders verhalten könnte, wird ihm dabei mehrfach durch Vorgänge in seinem beruflichen Umfeld deutlich gemacht.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Apr. 2021
ISBN9783749731602
Grenzverschiebung

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    Buchvorschau

    Grenzverschiebung - Peter Mönnig

    Wustrau

    Hans Sonntag nahm seine leichte Jacke von der Garderobe und öffnete die Haustür.

    „Ich mache meine Runde", rief er seiner Frau Eva zu, die er im Wohnzimmer vermutete.

    Als eine Antwort ausblieb, trat er vor das Haus, zog die Tür zu und schlenderte über den neu angelegten, links und rechts von Rosenstöcken gesäumten Kiesweg zur Straße. Bis auf eine Pflanze, die den strengen Frost des letzten Winters nicht überstanden hatte, blühte der Rest in den schönsten Farben. Der Frühsommertag lud gerade dazu ein, einen Spaziergang zu machen, den Hans fast bei jedem Wetter um diese Zeit unternahm.

    „Ich hätte vielleicht doch einen Hut aufsetzen sollen", dachte er. Mit seinen 66 Jahren fühlte er sich körperlich gut. Sein Äußeres war ihm immer noch wichtig und bis auf sein Kopfhaar, was sich auf einen kleinen Kranz zurückgezogen hatte, war er mit sich eigentlich ganz zufrieden.

    „Ich werde schon keinen Sonnenbrand bekommen", murmelte er vor sich hin. Als er das Straßentor erreichte, drehte er sich kurz um und blickte auf das Haus, sein Haus, zurück, welches in der Mittagssonne lag.

    Der Erwerb des Anwesens vor gut zwei Jahren war für Hans ein Glücksfall gewesen. Er hatte mit seiner Frau in der Oranienburgerstraße in Berlin eine große und helle Sechszimmerwohnung in einem Gründerzeithaus bewohnt. Das Objekt war Ministerialbeamten vorbehalten, die sich hier zu günstigen Konditionen einmieten konnten. Von hier konnte er morgens zu Fuß zu seiner Arbeitsstelle, dem Reichsjustizministerium, gelangen. Die Gegend war geprägt durch einige gut besuchte Restaurants und auch die kulturellen Einrichtungen Berlins waren schnell zu erreichen. Da Hans jedoch im September 1942 die Pensionsgrenze erreichen würde, war klar, dass er die Wohnung innerhalb der vom Ministerium üblicherweise eingeräumten Karenzzeit von einem halben Jahr nach dem Ausscheiden aus dem Dienst verlassen musste.

    Hans ahnte, dass er das kulturelle Leben in der Stadt vermissen würde, gab jedoch trotzdem Evas Drängen nach, sich im ländlichen Bereich nach einem neuen Zuhause umzuschauen. Seit dem Frühjahr 1941 hatten sie daher, wenn es ihnen zeitlich möglich war, Objekte im Umland von Berlin aufgesucht, die zum Verkauf standen. Das Richtige war jedoch noch nicht dabei und sie waren bereits soweit, Abstriche von ihren Vorstellungen an ihren Altersruhesitz zu machen, als Sonntag im Herbst 1941 eine Besprechung mit Ministerialdirektor Quassowski, dem Leiter der Abteilung V im Ministerium, hatte, in dem es erneut um die Weiterentwicklung des Genossenschaftsrechts im Reich ging. Sonntag hatte bisher über die fachliche Ebene hinaus keinerlei Berührung mit Quassowski gehabt, umso erstaunter war er, als dieser nach Beendigung der Besprechung mit ihm ein Gespräch über persönliche Angelegenheiten begann.

    „Wann gehen Sie eigentlich in Ruhestand?" hatte Quassowski unvermittelt gefragt.

    „Im September nächstes Jahr", antwortete Sonntag einsilbig, weil er bereits seinen nächsten Termin im Kopf hatte.

    „Dann müssen Sie ja auch dann umziehen", legte Quassowski den Finger in die Wunde.

    „Ist der schon scharf auf unsere Wohnung? fragte Sonntag sich. „Meine Frau stammt von einem Bauernhof, erwiderte er. „Daher haben wir uns entschlossen, unseren Lebensabend in einer eher ländlich geprägten Gegend zu verbringen."

    „Wollen Sie denn im Berliner Umland bleiben oder zurück ins Westfälische, von wo Sie ja nach meiner Erinnerung herkommen?"

    „Nichts gegen meine Heimat, aber wir würden schon die Nähe zu Berlin vorziehen."

    „In welchem Umkreis suchen Sie denn?"

    „Ich habe ja seit zwei Jahren ein Auto, so dass wir räumlich etwas flexibler sind", antwortete Sonntag, der sich langsam fragte, worauf Quassowski hinauswollte.

    „Vielleicht kann ich Ihnen bei Ihrer Suche ja behilflich sein. Ich habe vor ein paar Tagen mit meiner Schwester gesprochen, deren Mann vor einem halben Jahr verstorben ist. Ihr gehört ein Haus, das sie jetzt veräußern will. Sie zieht es wieder in die Stadt."

    „Wo liegt denn das Anwesen?" fragte Sonntag sofort interessiert.

    „In Wustrau."

    „Wo ist denn das?" wollte er wissen, weil er den Namen des Ortes noch nie gehört hatte.

    „An der Südspitze des Ruppiner Sees, klärte Quassowski auf. „Ich kann mit meiner Schwester einen Besichtigungstermin vereinbaren, wenn Sie das wünschen. Oder ist Ihnen die Gegend bereits zu ländlich? fügte er grinsend hinzu.

    Die Männer vereinbarten, am nächsten Tag noch einmal miteinander zu telefonieren, da Sonntag zunächst mit Eva sprechen wollte. Zudem beabsichtigte er, sich einmal auf einer Karte genauer anzuschauen, wo dieses Wustrau denn lag. Abends berichtete er seiner Frau von dem Angebot, die, nachdem beide eine Karte des nördlichen Brandenburgs zu Rate gezogen hatten, nur meinte, dass man einmal hinfahren könne.

    Beide hatten es sich nach den enttäuschenden Erfahrungen der bisherigen Haussuche verboten, zu euphorisch zu sein. Hans hatte jedoch das Blitzen in den Augen seiner Frau gesehen und auch ihm schien, als würde hier einmal alles passen.

    Unter Vermittlung von Quassowski vereinbarten sie schon für das folgende Wochenende einen Besichtigungstermin. Am Samstag fuhren sie unmittelbar nach dem Frühstück los. Es war ein strahlender Herbsttag. Der leichte Wind wehte die Blätter von den Bäumen und sie fuhren durch bunte Wälder, nachdem sie Berlin in nordwestlicher Richtung verlassen hatten. Nach eineinhalb Stunden näherten sie sich ihrem Ziel. Quassowski hatte ihnen erklärt, dass sie zunächst im Ort nach dem „Zietenschloss", benannt nach dem Erbauer dieses herrschaftlichen Anwesens, Ausschau halten sollten. Sie entdeckten es nach kurzer Zeit, zumal der Ort klein und beschaulich war. Quassowski hatte beschrieben, dass sie jetzt nur noch der Uferstraße in nördlicher Richtung folgen mussten, um auf das Anwesen seiner Schwester zu treffen.

    „Es ist das Einzige mit einer Buchenhecke", hatte dieser noch hinzugefügt.

    „Das muss es sein", rief Eva, während beide nach einer Buchenhecke Ausschau hielten.

    Hans bremste das Auto ab und er hielt vor einem Einfahrtstor, welches die Buchenhecke zur Straßenseite unterbrach. Sie konnten keine Klingel entdecken und so öffneten sie das Tor und betraten das von der Straße nicht einsehbare Gelände. Das Grundstück machte einen sehr gepflegten Eindruck. Vor dem Haus befand sich ein großer Freiplatz und auf der rechten Seite des Gebäudes war eine Garage angebaut. Die Haustür lag etwas erhöht und war über eine kleine Steintreppe mit fünf Stufen zu erreichen. An der linken Gebäudeseite führte ein Weg entlang, der zu dem dahinterliegenden, zum See abfallenden Grundstücksteil führte. Das Haus verfügte über zwei Etagen, wie Hans zufrieden feststellte. Nach seiner Vorstellung konnte der eher repräsentative Bereich damit besser von den privaten Räumlichkeiten getrennt werden.

    Noch während sie sich dem Haus näherten, wurde die Haustür von einer etwa 70 Jahre alten Frau geöffnet, bei der es sich offensichtlich um Quassowskis Schwester handelte und die sich mit dem Namen Wengerer vorstellte. Diese begrüßte sie freundlich und sie begann sofort, ihnen das Innere des Hauses zu zeigen. Die Räume waren großzügig und lichtdurchflutet. Spätestens als sie durch den Wintergarten auf die Terrasse traten und durch den angelegten Garten mit altem Baumbestand auf den funkelnden See schauten, war Hans klar, dass Eva und er ihrem gemeinsamen Traum nahegekommen waren.

    Nach dem Rundgang tranken sie mit Frau Wengerer Kaffee und bekundeten sofort ihr Interesse an dem Erwerb des Objektes. In den nächsten Tagen wurden sie mit der alten Dame schnell handelseinig, wobei Hans etwas über das selbst gesetzte Budget hinausgehen musste. Zu gut hatte ihnen beiden – Eva war richtig begeistert gewesen – das Anwesen gefallen.

    Es war selbstverständlich, dass sie Frau Wengerer Zeit ließen, sich eine neue Bleibe zu suchen. Nach deren Auszug waren noch einige Umbauarbeiten vorzunehmen und Eva hatte sich der Gestaltung des Vorgartens angenommen. So zogen sie erst einen Monat nach Hans` Pensionierung ein.

    *

    Nach Verlassen des Grundstücks wandte er sich auf seinem Spaziergang nun nach links. Er hatte seine Lieblingsstrecke, die ihn vorbei an der Kirche des Ortes in das Wustrauer Luch führte, einer von Bächen durchzogenen Feuchtlandschaft, die sich in südlicher Richtung dem Ort anschloss.

    Als er gerade das neben der Kirche gelegene Pfarrhaus erreichte, wurde dessen Haustür geöffnet und Pfarrer Lemke trat heraus.

    Das Ehepaar Sonntag, obwohl aus dem katholischen Westfalen stammend, hatte schon kurz nach ihrem Einzug Besuch von Pfarrer Lemke bekommen, der sie herzlich in der Gemeinde begrüßte und schnell deutlich machte, dass ihm die Konfession der neuen Bewohner egal war, weil – wie er sich ausdrückte – „man ja doch an den gleichen Gott glaubt."

    Lemke zeigte sich über die berufliche Karriere Sonntags informiert. Vielleicht war das der Grund, warum er Hans zunächst bei aller Freundlichkeit doch etwas reserviert vorgekommen war. Die Männer fanden jedoch schnell Gefallen aneinander und es entwickelte sich recht rasch eine Freundschaft.

    „Ah, Hans, gut das ich dich treffe, begann Lemke. „Ich wollte dich noch einmal auf unser Gemeindefest am nächsten Wochenende hinweisen. Ihr kommt doch, oder?

    „Natürlich, wir freuen uns schon, antwortete Hans. „Eva hat sich schon überlegt, welchen Kuchen sie für das Buffet backen will. Auch einen Salat will sie noch mitbringen. Und ich schaue mal in meinem Keller, ob ich noch einige Flaschen Moselwein finde.

    „Die machen wir aber erst auf, wenn die Kinder mit ihren Eltern nach Hause gegangen sind, nicht wahr? bemerkte der Pfarrer grinsend. „Wo wir gerade bei Kindern sind: Habt ihr etwas von Christian gehört? fügte er nun wieder ernst hinzu.

    „Nein, noch nichts. Eva ist ganz krank vor Sorge", antwortete Hans.

    Christian, der sich bei der Wehrmacht befand, war das einzige Kind der Sonntags. Hans hatte es durch seine Beziehungen geschafft, dass sein Sohn nicht an der Ostfront eingesetzt wurde. Von dort kamen immer wieder Schreckensmeldungen. So waren seine Eltern froh gewesen, dass Christian in Frankreich stationiert war. Nun hatte sich die Situation jedoch auch dort erheblich verschlechtert. Christian gehörte dem Offiziersstab von Oberst Goth an, dem Kommandierenden des Grenadierregiments 916. Und genau in dem Abschnitt in der Normandie, in der das Regiment lag, war der Feind vor einer Woche gelandet.

    „Ich werde Christian in meine Gebete einschließen. Es wird schon gut gehen, fügte der Pfarrer hinzu. „Hans, ich muss jetzt leider weiter. Der alte Seeger aus dem Schleusenhaus ist gestern gestorben und ich muss mit der Witwe den Trauergottesdienst und den Ablauf der Beerdigung besprechen.

    Die Männer verabschiedeten sich und gingen auseinander. Hans kam auf seinem Weg nun an dem kleinen Lebensmittelladen des Ortes vorbei, der direkt an der Hauptstraße neben der Bäckerei lag.

    Er schaute auf die Auslage des Ladens. Auch wenn nun im Frühsommer das Warenangebot wieder deutlich angestiegen war, erreichte es nicht annähernd das Vorkriegsniveau.

    Die Versorgungslage war im letzten Winter spürbar schlechter geworden und man sah Berliner, die bis nach Wustrau herauskamen, um Lebensmittel zu besorgen. Hier auf dem Land waren Nahrungsmittel noch besser zu bekommen und da Hans sich - auch durch seine kirchlichen Aktivitäten – schnell in das Ortsleben eingefügt hatte, war es ihm immer recht einfach gelungen, frische Produkte von den umliegenden Bauern zu beziehen. Auch seinen geliebten Moselwein, den er Pfarrer Lemke für das Gemeindefest versprochen hatte, konnte er weiter problemlos besorgen, da ein Bruder eines Referenten im Ministerium Winzer an der Mosel war und der Referent einen schwunghaften Handel mit dieser inzwischen selten gewordenen Köstlichkeit unter den Kollegen betrieb.

    „Ich hätte mir doch einen Hut aufsetzen sollen," dachte Hans, als er die letzten Häuser des Dorfes hinter sich ließ und in das Luch hineinspazierte. Hier, wo er sich unbeobachtet fühlte, nahm er sein Taschentuch aus der Hosentasche, befeuchtete es leicht mit Wasser aus einem der Kanäle und legte es sich auf den erhitzten Kopf.

    Während er weitermarschierte, hing er seinen Gedanken nach. Es konnte ihm passieren, dass er sich bei seinen Spaziergängen verlief, weil er so vertieft war, dass er einfach immer weiter ging, ohne auf den Weg zu achten, den er einschlug. Auch jetzt bemerkte er das Storchenpaar nicht, welches auf einer nahegelegenen Wiese auf Nahrungssuche war. Seine Gedanken wanderten zu Christian und er hoffte, nicht zuletzt zu Evas Beruhigung, dass sie bald eine Nachricht von ihrem Sohn bekommen würden.

    „Dieser verdammte Krieg!" brach es plötzlich wie ein Gewitter nach einem schwülen Tag aus ihm heraus. Vor Eva versuchte er immer, möglichst gelassen zu wirken, gerade nach den Ereignissen der letzten Woche, aber auch er war innerlich angespannt und seine Sorge um Christian war in Angst umgeschlagen.

    Er schoss einen kleinen Stein, der vor ihm auf dem Weg lag, mit dem Fuß so heftig in den nahegelegenen Bach, dass ihm einer seiner Zehen schmerzte und das Taschentuch, welches er längst vergessen hatte, durch die ungelenke Bewegung von seinem Kopf auf den Boden fiel.

    „Dieser verdammte Krieg! wiederholte er, während er sich nach seinem Taschentuch bückte. „Dieser Einmarsch in die Sowjetunion war doch völlig unsinnig. Das wird uns noch Kopf und Kragen kosten. Dieser Größenwahnsinnige!

    Er versuchte, die Fassung wiederzuerlangen, blieb stehen, schloss die Augen und sog die Luft zwei- dreimal kräftig ein.

    „Und wenn das Alles schief geht? Mir kann man jedenfalls nichts anhaben. Ich habe mich immer korrekt verhalten und wir haben Schlimmeres verhindert, jawohl," versuchte er einen imaginären Gesprächspartner, oder etwa sich selbst, zu überzeugen.

    „Wenn so Herrschaften wie Freisler, unser toller Vorsitzender vom Volksgerichtshof, und Thierack, unser nicht minder toller aktueller Reichsjustizminister, schon früher das Sagen gehabt hätten, hätten sich aber einige ganz schön umgeschaut."

    Ihm war es inzwischen warm geworden und er zog die Jacke aus und legte sie sich über den Arm. Er bog nach links ab, überquerte eine kleine Brücke und wandte sich erneut nach links, um nach Wustrau zurückzukehren. Auf seinem Weg passierte er ein Feld, auf dem schon hoch das Getreide stand. Ein Bauer lief mit einem weiteren Mann über das Feld, betrachtete die Ähren und gab weniger mit Worten als mit Handzeichen Anweisungen. Hans schloss daraus, dass es sich wohl doch nicht um den Knecht des Bauern, sondern eher um einen Zwangsarbeiter handeln musste, der nicht genug Deutschkenntnisse besaß. Als er näherkam und den Mann besser betrachten konnte, passten auch dessen Gesichtszüge eher zu einem Osteuropäer als zu einem Einwohner der Mark Brandenburg.

    „Es könnte jetzt alles so sein, wie ich mir meinen Lebensabend immer erträumt habe, setzte er seine Grübeleien fort. „Genau dafür habe ich ja auch mein ganzes Leben lang hart gearbeitet. Und dann kommt dieser Hasardeur daher und schon muss man sich wieder Sorgen um die Zukunft machen. Nun gut, anfangs war ja noch alles in Ordnung. Es wurde höchste Zeit, dass einmal mit den roten Vaterlandsverrätern aufgeräumt wurde und wir wieder unsere Stellung in der Völkergemeinschaft einnehmen, die uns auch zusteht.

    Er stolperte leicht über eine Wurzel und wurde dadurch aus seinen Gedanken gerissen, die ihn mantrahaft in den letzten Monaten heimsuchten.

    „Und den Franzosen musste auch gezeigt werden, wer der Herr in Europa ist. Aber dann der Krieg mit der Sowjetunion. Das konnte nicht gutgehen. Wenn doch nur Nachricht von Christian käme!"

    Inzwischen hatte er auf seinem Weg wieder die ersten Häuser des Ortes erreicht, als ihm ein Mann entgegenkam, der leicht hinkte.

    „Der hat mir gerade noch gefehlt, dachte Hans, als der Mann schon vor ihm stehenblieb, den rechten Arm in die Höhe schnellen ließ und dabei überbetont laut: „Heil Hitler, Herr Ministerialdirektor! schmetterte.

    „Heil Hitler, Herr Schröder", antwortete Hans nur knapp, ohne dabei den Arm zu heben.

    Schröder war früher Schleusenwärter gewesen. An einem Tag war er, wie fast immer, am frühen Nachmittag bereits betrunken gewesen und hatte sich beim Holzhacken mit der Axt selbst in das Knie und den rechten Unterschenkel geschlagen. Die Verletzung war so schwerwiegend gewesen, dass sein rechtes Knie steif blieb, was zu seinem Hinken geführt hatte. Durch seine Sauferei und durch diese Verletzung hatte er seine Arbeitsstelle verloren und vegetierte mehr schlecht als recht in einer Kate neben den Forellenteichen am Ortsausgang vor sich hin. Mehr zum Zeitvertreib und weil er sich dort anerkannt fühlte, trat er sehr früh der „Bewegung" bei und war stolz auf seinen Mitgliedsausweis der NSDAP, der eine niedrige vierstellige Zahl trug.

    Schröders Selbstbewusstsein steigerte sich proportional zu dem Erstarken seiner Partei. Früher strich er devot und auch schon einmal bettelnd durch den Ort, doch als er davon erfuhr, dass Hitler Reichskanzler geworden war, erkannte er trotz seiner eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten seine Chance. Er setzte sich an einem kalten Februarmorgen 1933 auf sein Fahrrad, welches er nur mit seinem gesunden Bein antreiben konnte und fuhr nach Neuruppin, um der dortigen Bezirksparteileitung seine Dienste anzubieten. Selbst dort machte er jedoch keinen guten Eindruck. Man wollte ihn aber nicht vergraulen und man konnte ja auch immer Leute gebrauchen, die vor Ort die Situation etwas im Auge behalten konnten. So bat man ihn, sich in Wustrau etwas umzuschauen und Verdächtiges zu melden, insbesondere untergeschlüpfte Sozialdemokraten und Kommunisten aufzuspüren. Man steckte Schröder in eine Parteiuniform und als er dann auch noch einen schon getragenen, aber noch ganz passablen Wintermantel und neue Stiefel ausgehändigt bekam, war er bereit, seinen Auftrag zur vollsten Zufriedenheit auszuführen.

    Und die Parteiführung konnte sich auf Schröder verlassen. Nur wenige Wochen nach seinem Besuch in Neuruppin bemerkte er, dass sich bei Allgeyer, der in einer großen Schreinerei in der Gegend arbeitete und ortsbekannt mit der SPD sympathisierte, einige auswärtige Gestalten einfanden. Schröder hatte diese im Garten von Allgeyer rauchend und sich unterhaltend entdeckt, während er auf einem seiner Patrouillengänge war. Er war sich zunächst nicht sicher, ob er eine bedeutende Entdeckung gemacht hatte und wollte sich auch nicht blamieren. Daher entschloss er sich, die Szenerie zunächst nur weiter zu beobachten. Die Fremden waren tagsüber im Dorf nicht zu sehen, woraus Schröder schloss, dass diese Gestalten etwas zu verbergen hatten. Alleine traute er sich nicht, etwas zu unternehmen und in Neuruppin hatte man ihm ja auch deutlich gesagt, dass er nicht auf eigene Faust zuschlagen sollte, sondern seine Aufgabe nur in der Weitergabe von Informationen an die Parteileitung bestand. Als er an einem Morgen Allgeyer sah, der mit einer großen Menge Lebensmittel aus dem Dorfladen kam, befürchtete er, dass sich die Gruppe absetzen wollte. Er setzte sich sofort auf sein Fahrrad und fuhr erneut nach Neuruppin. Dort teilte er seine Beobachtungen einem Mitarbeiter der Bezirksleitung, einem kahlköpfigen, untersetzten Mann mit Hitlerbärtchen, mit. Dieser hörte sich Schröders Geschichte an und ließ ihn dann über drei Stunden auf dem Flur warten. Während dieser Zeit wurde, was Schröder nicht wusste, ein zuverlässiger Mitarbeiter losgeschickt, um Schröders Angaben zu überprüfen, da man dessen Schilderungen nicht ohne Weiteres für bare Münze nahm. Schon einige Male hatte dieser Typ sich nur wichtigmachen wollen.

    Das Hitlerbärtchen dankte Schröder nach Ende der Wartezeit nur kurz für seine Mitteilungen und entließ ihn mit dem Hinweis, sich ruhig zu verhalten. Als Schröder sich auf sein Fahrrad setzte, spürte er, wie er wütend wurde. Wie hatte man ihn eigentlich behandelt? Er machte wichtige Entdeckungen, teilte diese mit und musste drei Stunden auf dem Flur sitzen. Und zu trinken hatte er auch nichts bekommen.

    Er durchfuhr gerade Kalwe an der Ostseite des Sees als er von zwei Lastkraftwagen überholt wurde, auf denen bewaffnete SA-Einheiten saßen. Nun ging Schröder ein Licht auf. Aber er hatte doch wohl ein Anrecht darauf, dabei zu sein, wenn man diesem Gesindel habhaft werden würde. Er trat so heftig, wie es ihm seine Behinderung erlaubte, in die Pedale, um nicht das Beste zu verpassen. Außer Atem erreichte er die Straße, an der Allgeyers Haus lag und sah, dass vor dessen Grundstück die beiden Lastkraftwagen standen. Gerade in diesem Augenblick wurden Allgeyer und fünf weitere Männer, von denen einer eine blutende Kopfwunde hatte, mit vorgehaltener Waffe herausgeführt und unter Kolbenschlägen auf die Pritschen getrieben. Als auch die SA-Männer ihre Positionen wieder eingenommen hatten, entfernten sich die Fahrzeuge in einer großen Staubwolke.

    Nach diesen aufregenden Ereignissen versuchte Schröder aus seiner Denunziation Kapital zu schlagen, blieb jedoch erfolglos. Man bot ihm keine Arbeitsstelle auf der Bezirksleitung an, wie er es insgeheim gehofft hatte. Immerhin erhielt er von dort ein Dankesschreiben mit einer Karte, die Hitler in Parteiuniform zeigte und von diesem eigenhändig unterschrieben war. Diese Karte hängte er an die Wand seiner Behausung. Das Dankesschreiben legte er in einen Karton, in dem er seine wenigen persönlichen Gegenstände aufbewahrte.

    *

    „Schönes Wetter heute, nicht wahr", wandte sich Schröder nun an Hans, der sich eigentlich nur schnell an diesem vorbeidrücken wollte.

    „Ja, ja, ganz schön", erwiderte Hans in einem Ton, der auch für Schröder nur den Rückschluss zuließ, dass er kein Interesse an einer Unterhaltung hatte. Schröder wollte dies jedoch nicht bemerken.

    „Die Bezirksleitung möchte von mir eine Einschätzung, welche der auf den Bauernhöfen der Gegend eingesetzten Zwangsarbeiter eher zur Fabrikarbeit abkommandiert werden können, erklärte er wichtigtuerisch. „Der Führer ist der Auffassung, dass der Endsieg schneller zu erreichen ist, wenn möglichst viele Zwangsarbeiter, statt sich auf dem Lande dick und fett zu fressen, in den Fabriken schaffen.

    „Dann kommen Sie mal Ihrer Pflicht nach", antwortete Hans, der stehenbleiben musste, weil Schröder ihm den Weg versperrte.

    „Wir müssen an der Heimatfront sowieso eine härtere Gangart einschlagen, gerade auch gegenüber den Zwangsarbeitern, quatschte Schröder weiter, der nicht gewillt war, diese interessante Begegnung mit einer so hochgestellten Persönlichkeit, mit deren Bekanntschaft er sich in anderen Kreisen brüstete, so schnell zu beenden. „Haben Sie davon gehört, dass man in Gathenow eine Polin dabei erwischt hat, wie sie ein Wollknäuel geklaut hat. Da sieht man mal wieder den Charakter dieser Leute. Letzte Woche ist sie in Neuruppin vor Gericht gestellt worden. Bei einer derart verwerflichen Tat kann es nur eine Strafe geben, nämlich den Tod. Das Gericht hat das genau so gesehen und das Urteil ist nach dem Bericht in der Zeitung auch sofort vollstreckt worden.

    „Kann dieser Typ nicht endlich aufhören?" fragte sich Hans, dem - wenn auch aus anderen Gründen - das von Schröder angesprochene Urteil im Gedächtnis geblieben war.

    „Haben Sie letzte Nacht auch die Flugzeuge gehört?" redete Schröder einfach weiter.

    Tatsächlich war Hans gegen 2 Uhr wach geworden, weil er das tiefe Brummen der feindlichen Flugzeuge gehört hatte. In der letzten Zeit war dies fast jede Nacht so gewesen. Auch diesmal war die Hauptstadt wieder das Hauptangriffsziel gewesen, so dass er sehr froh war, nicht mehr in Berlin zu wohnen. In der Nähe ihrer ehemaligen Wohnung waren schon einige Bomben gefallen und hatten dort große Zerstörungen angerichtet. Aber selbst in Wustrau war zu spüren, dass der Krieg immer näherkam. Im März hatte es zwei Luftangriffe auf Oranienburg gegeben, wobei die dortige Volksschule getroffen worden war. Unter der Turnhalle dieser Schule befand sich einer der Luftschutzbunker der Stadt, in den sich viele Schüler geflüchtet hatten. Genau dieser Bunker bekam einen Volltreffer, dem er nicht standhielt. Keiner hatte überlebt.

    „Aus dem Radio habe ich erfahren, dass unsere Flak ganze Arbeit geleistet hat und nicht viel passiert ist", berichtete Schröder mit Stolz in der Stimme.

    „Du glaubst auch Alles, was man dir so erzählt", dachte Hans. Er hatte sich bei einem seiner Besuche in Berlin die mächtigen Flaktürme angesehen, die Hitler nach den ersten Bombenangriffen auf die Stadt errichten ließ. Im Gegensatz zu Schröder bezog er seine Informationen jedoch lieber von Augenzeugen, als den Angaben im Radio zu glauben. Und so hatte er heute Morgen mit einem ehemaligen Mitarbeiter in Berlin telefoniert, der ihm ein ganz anderes Bild von den Zerstörungen malte, als dies offiziell verkündet wurde.

    „Auf unsere Flugabwehr ist Verlass, wandte er sich an Schröder. „Deswegen hat es ja bis heute auch kaum größere Zerstörungen in unseren Städten und an unserer Infrastruktur gegeben. Dem Führer sei für seine Weitsicht und sein militärisches Geschick gedankt.

    Es trat eine kleine Gesprächspause ein, weil Schröder überlegte, was diese Infrastruktur sein könnte. Dies nutzte Hans aus:

    „Dann will ich Sie nicht weiter von Ihrer Aufgabe abhalten", erklärte er und drückte sich an Schröder vorbei, der sich immer noch fragte, was es mit dieser Infrastruktur auf sich haben könnte.

    Wenn Hans gedacht hatte, sein täglicher Spaziergang würde ihm guttun, musste er nach dem Gespräch mit Schröder feststellen, dass dem nicht so war. Ein guter Bekannter hätte bereits an seinem Gang und seinem Gesichtsausdruck seine innere Anspannung und Unruhe ablesen können und dies, obwohl er während seiner Arbeitsjahre im Ministerium gelernt hatte, niemals Emotionen zu zeigen und seine eigenen Gedanken und Gefühle weitestgehend für sich zu behalten. Nur einigen wenigen Menschen gestattete er einen Einblick in sein Seelenleben.

    Entgegen seiner Gewohnheit wählte er nicht den direkten Weg nach Hause, sondern bog noch einmal rechts ab, wo er kurze Zeit später den Ort erneut hinter sich ließ. Er erreichte den schmalen Fußweg, der sich am südlichen Seeufer durch ein Kiefernwäldchen schlängelte. An einer Stelle wichen die Bäume etwas vom Seeufer zurück. Hier war eine Badestelle, die von den Kindern und Jugendlichen im Sommer genutzt wurde. Auch jetzt hörte er aus einiger Entfernung das fröhliche Gelächter, welches gar nicht zu seiner eigenen Stimmung passte. Also drehte er wieder um und setzte sich auf eine Bank, an der er vorbeikam. Weder das Ruderboot, welches auf dem See trieb, noch die vielen Wasservögel, die sich dort tummelten, nahm er bewusst wahr. Er musste an Christian und dessen letzten Heimatbesuch denken.

    Von seinem Grundcharakter war Christian ein fröhlicher Mensch, doch bei seinem letzten Besuch zeigte er sich sehr verschlossen. Normalerweise hatte Hans sich mit seinem Sohn angeregt unterhalten können, auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren. Doch diesmal hatten sie kein geeignetes Gesprächsthema gefunden, so dass sie sich einige Male regelrecht angeschwiegen hatten.

    „Wo soll das alles noch hinführen?" hatte Christian am letzten Abend vor seiner Abreise vor sich hingemurmelt, während sie zu Tisch saßen. Hans hatte im ersten Moment gar nicht verstanden, musste aber feststellen, dass sein Sohn seiner Schilderung des letzten Besuches von Eva und ihm in Rheinsberg keine Beachtung geschenkt hatte. Christian erwartete offensichtlich keine Antwort auf seine Frage, die Unterhaltung erstarb jedoch jetzt vollends und es war nur noch das Geklappere des Bestecks zu hören.

    Am nächsten Morgen hatte Christian seine Sachen gepackt. Auf der Treppe vor dem Haus hatte er seine Mutter umarmt. Eva hatte geweint und ihrem Sohn etwas ins Ohr geflüstert, was Hans nicht verstehen konnte. Als Eva ihn freigegeben hatte, war Christian zu seinem Vater gekommen, der selbst jetzt die Distanziertheit, die er als Teil der Erziehung angesehen hatte, nicht überwinden konnte und seinem Sohn die Hand zum Abschied entgegenstreckte, obwohl er sich gewünscht hätte, ihn wie Eva umarmen zu können.

    Auf seiner Bank am Seeufer sitzend erinnerte er sich jetzt daran, wie Christian den Kiesweg zum Eingangstor gegangen und dadurch verschwunden war.

    Hans seufzte und kam langsam wieder in das Jetzt zurück. Wie lange er auf der Bank gesessen hatte, wusste er nicht. Das Ruderboot war längst verschwunden. Inzwischen waren Wolken aufgezogen und die Luft immer drückender geworden. Er stand auf und machte sich auf den Heimweg, wobei er plötzlich unruhig wurde und deswegen seine Schritte immer weiter beschleunigte. Eine Gruppe Jugendlicher aus dem Ort fuhr laut plappernd auf ihren Fahrrädern an ihm vorbei. Als er das Tor zum Grundstück öffnete, hatte er sich immer noch nicht beruhigen können. Seine Nervosität schien sogar auf die Bäume übergegriffen zu haben, die wild im Wind hin und her rauschten, als wollten sie vor dem aufziehenden Gewitter fliehen. Er ging seitlich am Haus vorbei, weil er Eva weiterhin im Garten vermutete. Als er sie hier nicht fand, ging er auf die Terrasse, wo er seine Frau durch die Fensterscheiben in einem Sessel sitzend im Wintergarten entdeckte. Als er eintrat, reagierte sie nicht. Er sah jedoch, dass sie geweint hatte.

    „Was ist passiert?" fragte er.

    Eva nahm den Brief auf, den sie vor sich auf dem Schoß liegen hatte und den Hans bisher nicht bemerkt hatte und hielt ihm diesen fast wie eine Anklage entgegen.

    „Nachricht von Christian, presste sie hervor. „Er ist verwundet und liegt bereits in Paris im Lazarett. Wie schlimm es ist, kann noch keiner sagen. Wo bist du nur so lange geblieben?

    Im Nachhinein wunderte er sich selbst über seine erste Reaktion. War es eine Abgestumpftheit, die er im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit aufgebaut hatte und die er nun auch im Privaten spürte? Er weigerte sich, dies zu akzeptieren. Oder war er ein Technokrat, der immer nur die nächsten Schritte vor Auge hatte, die getan werden mussten?

    „Wir müssen Schlegelbergers für heute Abend absagen."

    Münster

    I

    Der Verfall seines Vaters Anton Sonntag war schneller fortgeschritten, als Hans dies erwartet hatte. Als sein Bruder Stefan ihn am vergangenen Donnerstag telegrafiert hatte, dass ihr Vater einen Rückfall erlitten habe und nunmehr mit hohem Fieber zu Hause liege, hatte er sich auf eine Zeit der Unsicherheit eingestellt, auf dieses Gefühl zwischen Hoffen und Bangen. Doch schon am Samstag kam die endgültige Nachricht, dass sein Vater in der Nacht zuvor gestorben war.

    Schon letztes Jahr hatte es einmal sehr schlecht um den Vater gestanden, der sich jedoch zum Sommer hin nochmal erholt hatte. Als Hans im vergangenen Herbst nach Münster gefahren war, hatte er sich trotzdem bei dessen Anblick erschrocken. Seine Wangen waren eingefallen und er wirkte zerbrechlich, ja fast gläsern. Sein Verstand war jedoch vollständig klar, aber aus seinen Äußerungen war zu entnehmen, dass er keinen Lebensmut mehr hatte. Fast schon fordernd erklärte er, dass es Zeit werde, Wilhelmine zu folgen.

    Anton Sonntag hatte am „Alten Fischmarkt" im Schatten der Lambertikirche in Münster eine Apotheke geführt, die er selbst aufgebaut hatte. Trotz dieses beruflichen Erfolgs war er schon immer melancholisch, zeitweise sogar depressiv gewesen. Seine Frau Wilhelmine war das genaue Gegenteil. Lebensbejahend und humorvoll war sie für die fröhlichen Stunden im Familienleben verantwortlich und schaffte es auf ihre häufig ironische Art sogar, ihren Mann für einige Zeiten aus dem Verließ seiner Ängste zu befreien. Es wunderte daher weder Hans noch seine vier Geschwister, dass sich das Leben des Vaters nach dem plötzlichen Tod seiner Frau vor fünf Jahren immer weiter verfinsterte. Schon bald nach deren Tod klagte er vermehrt über Luftnot und sein Gang wurde schleppender, so als würde ihn der Alltag in die Knie zwingen.

    Stefan, der mit den Eltern unter einem Dach lebte, hatte sich redlich bemüht, den Vater aus seiner Mutlosigkeit, die manchmal in Todessehnsucht umschlug, herauszuholen, war jedoch immer wieder gescheitert und hatte schließlich jede Hoffnung aufgegeben.

    Als Apotheker hätte Anton Sonntag die Kenntnis und auch die Möglichkeiten gehabt, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, doch dafür fehlte ihm der Mut. Selbst darüber beklagte er sich und nannte sich selbst einen Feigling.

    Schon zu der Zeit, als seine Mutter noch lebte, hatte Hans das Gefühl gehabt, seine Heimatstadt Münster verlassen zu müssen. Zunächst hielt ihn jedoch die Verantwortung, die er seinem Bruder Stefan gegenüber fühlte, davon ab, eine endgültige Entscheidung zu fällen. Er wollte seinen Bruder nicht mit den sich abzeichnenden familiären Problemen allein lassen. Auf der anderen Seite war dies aus der Sicht von Hans auch der Preis, den Stefan dafür zahlen musste, dass er als Erstgeborener die Apotheke des Vaters weiterführen durfte, worauf dieser sich auch bereitwillig eingelassen hatte.

    Seine Eltern hatten Hans bereits vor dessen Abitur mitgeteilt, dass sie ihm ein Studium nur dann finanzieren könnten, wenn er dieses in Münster aufnehmen würde. Beide hatten wohl bereits geahnt, dass er lieber fortgegangen wäre. Hans war klar, dass dieses Angebot bereits einen Kompromiss zwischen seinen Eltern darstellte. Sein Vater hätte gerne gesehen, dass Hans eine Ausbildung in der Verwaltung angefangen hätte. Ein Studium auch seines zweiten Sohnes erschien ihm zu teuer, obwohl die finanziellen Verhältnisse der Familie geordnet waren und dies ohne weiteres erlaubt hätten. Anton Sonntag sah die finanzielle Situation jedoch immer nur als Momentaufnahme und befürchtete nahezu täglich den Absturz. Wie oft hatte Hans seinen Vater noch spät abends im Büro gesehen, wo er kopfschüttelnd über den Abrechnungen saß.

    Wenn Hans sich vorstellte, er würde sein Leben in einer Amtsstube der Stadtverwaltung absitzen müssen, graute es ihm und so schrieb er sich zum Wintersemerster 1898/1899 im Münster zum Studium der Rechts- und Staatswissenschaften ein.

    Er stürzte sich auf die Bücher, weil sein Wunsch, aus Münster wegzukommen, nicht kleiner geworden war und er nach bestandenem Examen eine neue Chance witterte. Das einzige Freizeitvergnügen, was er sich gönnte, waren die Besuche in dem Haus seiner Verbindung, in die er kurz nach der Aufnahme des Studiums eingetreten war. Er meldete sich in der Burschenschaft Franconia an, nicht, weil er sich mit der Auswahl sehr beschäftigt hätte, sondern weil einige seiner Kommilitonen, die er in den ersten Tagen seines Studiums kennenlernte, in dieser Burschenschaft verkehrten.

    Zum erstmöglichen Zeitpunkt meldete er sich zum Examen an, dessen Ergebnis ihm jedoch zeigte, dass Schnelligkeit vor Gründlichkeit gegangen war. Er war von sich selbst enttäuscht und die Vorhaltungen seines Vaters, der die Examensnote mit Hans` Aktivitäten in seiner Verbindung in Zusammenhang brachte, schmerzte ihn.

    Kurz nach dem Examen besuchte er in einer eher getrübten Stimmung einen Kommers im Verbindungshaus der Franconia. Wie sollte es jetzt weitergehen? Er fieberte zwar nach Veränderung, aber war dies auch für ihn realistisch?

    Im Laufe des Abends nahm Gustav Becker, der mit Hans das Examen gemacht hatte, neben ihm Platz. Gustav war schon älter, weil er das Studium weit weniger ernst genommen hatte als Hans und sich mehr der Beschaulichkeit des studentischen Lebens in Münster gewidmet hatte. Die Zeit in der Verbindung hatte ihn zudem im wahrsten Sinne des Wortes gezeichnet, denn quer über seine linke Wange verlief ein rot glänzender Schmiss, eine Erinnerung an eines seiner Fechtduelle, auf die er sehr stolz war und über die er immer wieder prahlerisch berichtete.

    Hans und Gustav hatten sich in der Burschenschaft kennengelerrnt und intensivierten ihre Beziehung als Gustav auch die Vorlesungen besuchte, die Hans belegt hatte.

    Jetzt kamen sie in Bierlaune ins Gespräch.

    „Wenn ich daran denke, dass ich in zwei Monaten wieder bei meinen Eltern einziehen soll, bekomme ich Bauchschmerzen", bemerkte Gustav.

    „Du kommst aus Berlin, nicht wahr? Was würde ich dafür geben, wenn ich in zwei Monaten auch in Berlin sein könnte!"

    „Berlin ist auf der einen Seite groß und mit vielen Beamten, aber auch arm und elendig in seinen verstreuten Arbeitergegenden, bemerkte Gustav mit einem Bier in der Hand. „Eine Hauptstadt eben mit Licht und Schatten. Nach der Reichsgründung, so erzählt mein Vater immer wieder, sei es schlimmer geworden, in Berlin zu leben. Heutzutage den Potsdamer Platz zu Fuß zu überqueren, kommt der Begegnung mit einem Kavallerieregiment der Franzmänner gleich. Das reinste Himmelfahrtskommando!

    „Trotzdem scheint es eine spannende Stadt mit vielen Möglichkeiten zu sein", merkte Hans an.

    „Wenn du es so siehst. Ich habe die Beschaulichkeit in der Provinz genossen. Und der Westfale ist ja auch für sein Bier bekannt, fügte Gustav hinzu, nahm sein noch halb volles Glas, setzte es an und trank es in einem Zug aus. „Wollen wir die letzten Tage noch einmal richtig genießen! Hey Fuchs, nochmal zwei Bier, aber ein bisschen dalli! raunzte er ein junges Verbindungsmitglied an, welches an diesem Abend zur Ordonanz eingeteilt war.

    „Mir kommt da gerade eine Idee! lallte Becker nach weiteren Bieren. „Wie wäre es, wenn du mit mir nach Berlin kommst. Vielleicht kann ich dann meinen Vater überreden, dass ich nicht mehr zu Hause einziehen muss, sondern wir beide in der Stadt logieren.

    „Ich habe aber keine finanziellen Mittel, um mir eine Wohnung zu leisten", antwortete Hans mutlos.

    „Aber du könntest bei meinem Vater Geld hinzuverdienen. Ich habe dir doch erzählt, dass er eine gutgehende Kanzlei in Charlottenburg hat. Es ist auch besser, wenn die dort für Referendare anfallende Arbeit auf zwei Köpfe verteilt wird", fügte er grinsend nicht ohne Hintergedanken hinzu.

    Plötzlich wurde Gustav bleich, sprang auf und rannte Richtung Toilette. Da Hans selbst einen Druck auf der Blase verspürte, folgte er ihm. Als er in den Toilettenraum kam, stellte er fest, dass Gustav einen anderen Druck verspürt hatte, da er mit beiden Händen die Griffe des in Kopfhöhe angebrachten Kotzbeckens umklammerte.

    Was an diesem Abend gedanklich als Spinnerei begonnen hatte, konkretisierte sich in den nächsten Wochen zu Hans` Erstaunen immer mehr. Gustav war hartnäckig geblieben und hatte bereits die Erlaubnis von seinem Vater eingeholt. Die schwierigsten Verhandlungen standen Hans jedoch noch bevor.

    Als er seinen Eltern seinen Wunsch mitteilte, in Berlin seine Referendarzeit abzuleisten, hatte sein Vater, was wenig verwunderlich war, erneut auf die finanzielle Situation hingewiesen. Hans hatte argumentiert, dass seine Karrierechancen in Berlin wesentlich höher wären und hatte schließlich um eine monatliche Zuwendung gebeten, die aus seiner Sicht angemessen und ohne Zweifel von seinem Vater zu stemmen war. Als er zudem darauf verwies, dass er bereits ein Arbeitsangebot habe, um sich etwas hinzuzuverdienen, stimmte sein Vater zu seinem Erstaunen seinen Plänen zu. Vielleicht hatte seine Mutter ihn auch überzeugt, dass man Hans sowieso nicht mehr lange in der häuslichen Umgebung würde halten können.

    Die Formalitäten waren schnell erledigt und so erreichte Hans Sonntag im Februar 1904 ein Brief aus dem preußischen Justizministerium, in dem ihm zum 01.05.1904 eine Referendarstelle beim Kammergericht in Berlin zugewiesen wurde. Es war in den verbleibenden Wochen noch viel zu erledigen, so dass Hans gar keine Zeit hatte, an seiner Entscheidung zu zweifeln. Immerhin musste er sich nicht um eine Unterkunft in Berlin kümmern. Gustav hatte eine Wohnung im dritten Stock eines Hinterhauses angemietet, welches in der Nähe der Schönhauserallee im Bezirk Prenzlauer Berg lag. Die Toilette war zwar, wie nicht nur in diesem Arbeiterviertel Berlins üblich, auf dem Treppenabsatz, aber Hans, der von zu Hause einen gewissen Luxus gewohnt und zunächst skeptisch war, konnte sich vor Ort schnell mit der Situation arrangieren, ja sie gefiel ihm sogar von Tag zu Tag besser.

    Nach der Entscheidung für den Ortswechsel befürchtete er, mit dem sich selbst errechneten Etat nicht auskommen zu können. Immerhin gab es auch noch einige Anschaffungen zu machen, soweit er nicht von seinem Elternhaus ausgestattet werden konnte. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er sich beim Planen des Umzuges und den damit einhergehenden Kosten selbst belogen hatte, nur um nicht noch aus finanziellen Gründen alles abzublasen.

    Seine Sorgen hatten sich jedoch, als er schließlich in Berlin angekommen war, schnell in Luft aufgelöst. Zwar waren seine Ausgaben vor Ort höher, als er sie kalkuliert hatte. Er konnte, ja musste häufiger als Gustav in der Kanzlei von dessen Vater arbeiten. Der alte Rechtsanwalt Becker hatte schnell erkannt, dass Hans gegenüber seinem Sohn der weitaus qualifiziertere Jurist war. Durch diese Arbeit verbesserte sich auch die Einnahmesituation von Hans erheblich, zumal der alte Becker nicht knauserig mit der Bezahlung war.

    Gustav hatte seinem Vater zudem einen höheren Mietzins für die Wohnung angegeben, als diese tatsächlich von beiden zu zahlen war und Gustav hatte mit Hans vereinbart, dass dieser weniger als die Hälfte der tatsächlichen Miete zu zahlen hatte, wenn er ihm „den Rücken etwas freihalten" würde. Damit meinte Gustav, dass Hans auch die Akten zu bearbeiten hatte, die Gustav von seinem Ausbilder zur Anfertigung eines Entscheidungsentwurfs bekommen hatte.

    Durch das Kammergericht war Hans einem Ausbilder beim Amtsgericht Tiergarten zugewiesen. Er stürzte sich in die Arbeit, die ihm Freude bereitete. Während er unter Schlafmangel litt, weil er bis spät in die Nacht über den Büchern gesessen hatte und morgens wieder früh aufstand, kam Gustav spät und meistens angetrunken von seinen abendlichen Vergnügungen in die Wohnung zurück und schlief morgens lange.

    Hans fühlte sich in Berlin schnell heimisch. Selbst die lautstarken Ehestreitigkeiten der Pasulkes, die unter Gustav und ihm wohnten, wie überhaupt die Wohngeräusche der anderen Mieter, deren Wohnungen zum Innenhof lagen, störten ihn nach kurzer Zeit nicht mehr.

    „Du bist schon ein rechtes Chamäleon", dachte er manchmal abends im Bett kurz vor dem Einschlafen.

    Er verspürte daher kein großes Verlangen, häufiger in seine Heimatstadt zurückzukehren. Gegenüber seiner Familie, die ihn immer wieder bedrängte, verwies er auf seine viele Arbeit, die weite Reise und seine eingeschränkten finanziellen Mittel. Es bedurfte schon eines besonderen Anlasses, um ihn zu einer Reise nach Münster zu bewegen.

    Ein solcher Anlass war die Hochzeit seiner Lieblingsschwester Caroline. Sie war eigentlich das Nesthäkchen, hatte jedoch das sonnige Gemüt ihrer Mutter geerbt, während Hans` ältere Schwestern, Wilhelmine und Gisela, eher hochnäsig und herablassend auftraten.

    Es wunderte Hans daher nicht, dass Caroline die erste der Schwestern sein sollte, die heiraten würde. Es passte zu ihr, dass sie sich – entgegen dem erklärten Willen ihrer Eltern - nicht unter den Söhnen der Kaufleute in Münster nach einem geeigneten Ehemann umschaute. Anton Sonntag hatte zunächst, wie schon bei Wilhelmine und Gisela, versucht, für Caroline einen Bräutigam zu finden, den er für standesgemäß hielt und der auch den finanziellen Anforderungen an einen Ehemann genügen konnte. Während bei Wilhelmine und Gisela deren eher spröde Art noch nicht zu dem erhofften Erfolg geführt hatte, waren die Kandidaten, die für Caroline in die engere Wahl gezogen worden waren, von dieser so vor den Kopf gestoßen worden, dass sie schnell das Weite suchten. Mit so einem renitenten und selbstbewussten Frauenzimmer wollten sich die gutbehüteten, eitlen Münsteraner Kaufmannssöhne nicht ein ganzes Leben auseinandersetzen müssen.

    Allein der Umstand, wie Caroline selbst die Wahl ihres Ehemanns in die Hand nahm, imponierte Hans. Sie schwärmte von einem Leben auf dem

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