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Resonanz von Körper und Geist: Zur Philosophie des Geistes im chinesischen Denken
Resonanz von Körper und Geist: Zur Philosophie des Geistes im chinesischen Denken
Resonanz von Körper und Geist: Zur Philosophie des Geistes im chinesischen Denken
eBook443 Seiten4 Stunden

Resonanz von Körper und Geist: Zur Philosophie des Geistes im chinesischen Denken

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Über dieses E-Book

Die Sinologin und Medizinwissenschaftlerin Dominique Hertzer führt anhand von chinesischen Originaltexten eine faszinierend neue Perspektive in die Diskussion um das Verhältnis von Leib und Seele und den freien Willen ein. Sie stellt ein Konzept vor, das älter ist als die Ursache-Wirkungsbeziehung: die Verbindung durch Resonanz.

Im Laufe des Buchs entsteht ein verblüffend genau ausgearbeitetes Netz verschiedener Resonanzbeziehungen, die ebenso das einzelne Individuum bestimmen wie sie in der gesamten Natur wirksam sind. Die konkrete Dynamik und Wirkungsweise der Resonanzen wird anhand der Körper-Geist-Beziehung in der chinesischen Philosophie und Medizin überzeugend ausgearbeitet und verdeutlicht.

Denn im chinesischen Denken steht nicht der "eine Geist" oder die "eine Seele" dem Körper gegenüber. Vielmehr wird das Verhältnis von Körper und Geist in Gestalt einer fünffachen Auffächerung des Geistes (wushen) in Relation zu den korrespondierenden Aspekten des Körpers (wuzang) verhandelt.
Es stellt sich heraus: Die Freiheit des Willens gründet nicht im Individuum. So mag der Blick auf das chinesische Denken auch an dieser Stelle eine neue Perspektive zu eröffnen, die die Diskussion von festgefahrenen Standpunkten befreit.

Ein wichtiges Buch für alle, die sich beruflich mit Menschen beschäftigen - unverzichtbar für Philosophen sowie Therapeuten der Psychosomatik, Psychotherapie, Psychiatrie oder Chinesischen Medizin.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. Aug. 2018
ISBN9783746959207
Resonanz von Körper und Geist: Zur Philosophie des Geistes im chinesischen Denken

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    Buchvorschau

    Resonanz von Körper und Geist - Dominique Hertzer

    1  Einleitung

    „So kann ich auch den menschlichen Körper als eine Art Maschine ansehen, die aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut zusammengepasst ist, und auch geistlos all die Bewegungen ausführt, wie sie jetzt unwillkürlich, also ohne den Geist ablaufen."¹ (Descartes)

    „Den Essenz-Geist haben wir vom Himmel erhalten, die körperliche Form haben wir von der Erde bekommen."

    „Warum können die Menschen klar sehen und genau hören? Wie kommt es, dass das Körpergewicht gehalten werden kann und die 100 Gelenke gebeugt und gestreckt werden können? Wie kommt es, dass jemand weiß von schwarz unterscheiden kann, Hässlichkeit von Schönheit unterscheiden kann? Wie kommt es, dass man Ähnlichkeiten und Unterschiede erkennen und falsch von richtig unterscheiden kann? Dies ist so weil die Lebenskraft diese Aktivitäten anfüllt und der Geist sie lenkt.² (Huainanzi)

    Die Freiheit des Willens ist nicht vom Diskurs über das Verhältnis von Leib und Seele zu trennen

    Die Frage nach der Freiheit des Willens und der Unabhängigkeit des Bewusstseins (vom Gehirn) gewinnt gerade vor dem Hintergrund der auf allen Ebenen voranschreitenden Materialisierung und Ökonomisierung der gegenwärtigen Gesellschaft zunehmend an Brisanz. Die Frage nach der Freiheit des Willens ist letztlich nicht vom Diskurs über das Verhältnis von Leib und Seele zu trennen, der im Abendland auf eine lange philosophische Tradition zurückblicken kann. Insofern gehört die Diskussion über das Verhältnis von Leib und Seele weder der Vergangenheit an noch handelt es sich dabei um einen rein theoretischen Diskurs. Es spielt vielmehr eine nicht zu unterschätzende Rolle im täglichen Umgang mit anderen Menschen, sei es in einem beruflichen oder in einem privaten Kontext. So haben Mediziner und Psychologen, allen voran der Psychologe Jochen Fahrenberg, anhand verschiedener Studien zur Annahme über den Menschen aufgezeigt, dass beispielsweise im Hinblick auf das Verhältnis von Arzt und Patient sowie den gesamten therapeutischen Prozess die persönliche Leib-Seele Vorstellung des Arztes durchaus nicht abstrakter Natur ist.³

    Relevanz des Leib-Seele Verhältnisses im medizinischen Alltag

    Vielmehr basiert die alltägliche klinische Arbeit – und dies trifft ebenso auf China wie das Abendland zu – auf bestimmten unbemerkt vollzogenen Vorentscheidungen, die in der Regel vom Behandler nicht mehr reflektiert werden. Diese Vorentscheidungen (oder auch Vorurteile) – also betrachte ich die Psyche eines Menschen beispielsweise als Ergebnis materieller Vorgange und als Epiphänomen des Körpers oder betrachte ich sie als eine vom Körper weitgehend unabhängige Entität – sind eine grundlegende Weichenstellung für das weitere therapeutische Vorgehen. Fahrenberg konnte die Relevanz des Leib-Seele Problems auch für andere Berufsgruppen aufzeigen, die sich hauptsächlich mit dem Menschen beschäftigen, wie beispielsweise die Juristen.

    Ferner haben inzwischen auch die Neurowissenschaften den Leib-Seele-Diskurs an sich gezogen. Das im Jahr 2004 von verschiedenen Neurowissenschaftlern herausgegebenen „Manifest der Hirschforscher" beabsichtigte, das Gehirn mithilfe neuer Technologien, vor allem bildgebender Verfahren, innerhalb von zehn Jahren vollständig zu entschlüsseln. Primäres Ziel war es, alle geistigen, bewussten und unbewussten Prozesse ursächlich auf das Gehirn zurückzuführen, um schließlich ein neues, wissenschaftlich fundiertes Menschenbild zu gestalten:

    Manifest der Hirschforscher von 2004

    „Die Daten, die mit modernen bildgebenden Verfahren gewonnen wurden, weisen darauf hin, dass sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen – zum Beispiel Imagination, Empathie, das Erleben von Empfindungen und das Treffen von Entscheidungen beziehungsweise die absichtsvolle Planung von Handlungen. Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davonausgehen, dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind."

    Die Vorstellung vom Menschen als reine Materie oder – theoretisch – auch als reiner Geist wurzeln wiederum im philosophischen Leib-Seele Diskurs, der im Abendland primär von einer dualistischen Auffassung geprägt ist.

    Dualistische Auffassung: Trennung des Geistigen und Körperlichen

    Wesentliches Merkmal einer dualistischen Auffassung ist, dass die geistige und die materielle Ebene unabhängig voneinander zu existieren vermögen, beispielsweise in Gestalt einer unsterblichen Seele, die den Körper überlebt. Eine andere Möglichkeit ist, dass eine der beiden Ebenen – im Sinne eines Monismus – ihren ontologischen Ursprung in der anderen Ebene findet. So ist die gegenwärtig oftmals vertretene, naturwissenschaftliche Überzeugung, dass das Bewusstsein aus dem Gehirn hervorgeht Ausdruck eines materiellen Monismus, da das Bewusstsein keine unabhängige Existenz aufzuweisen vermag, sondern sich auf die „Materie" Gehirn zurückführen lässt.

    Memorandum der reflexiven Neurowissenschaft

    Das Manifest der Hirnforscher hat sein Ziel bislang nicht nur verfehlt, sondern sogar innerhalb der Neurowissenschaften große Kritik hervorgerufen, die in dem Memorandum „reflexive Neurowissenschaft" einen neuen theoretischen Ansatz zur Lösung des Leib-Seele Problems fordert, unter Federführung der Philosophie.⁵ Eine wesentliche Rolle spielt hierbei freilich die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens, denn sollte das Bewusstsein nur durch die Strukturen und Vernetzungen des Gehirns bedingt sein, so wäre die Freiheit des menschlichen Willens in höchstem Maße eingeschränkt. Insofern ist die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele weder eine rein philosophische noch gar theoretische Frage, denn die Auswirkungen eines solch materiellen Menschenbildes sind in medizinischer, politischer und ethischer Hinsicht kaum abzusehen. Als Beispiel seien hier nur die neurologischen Gutachten vor Gericht genannt, die die verschiedensten Straftäter ihrer Verantwortung für ihre Taten entheben sollen, mit der Begründung, dass die Struktur ihres Gehirns ihnen gar keine andere Wahl als die der Straftat gelassen habe.⁶

    Seinszusammenhang und Kausalzusammenhang von Leib und Seele

    In der abendländischen Philosophie gehört das Verhältnis von Leib und Seele zu den wichtigsten Themen überhaupt und die meisten Philosophen haben sich dazu mehr oder weniger ausführlich geäußert. Dabei wurde das Verhältnis von Leib und Seele sowohl im Hinblick auf ihren Seinszusammenhang wie auf ihren Kausalzusammenhang untersucht. Peter Bieri hat das traditionelle Leib-Seele Problem anhand von drei Sätzen formuliert, die alle für sich genommen wahr erscheinen, aber in Kombination miteinander in direktem Widerspruch zueinanderstehen:

    Das Leib-Seele Problem in drei Sätzen

    1.  Mentale Phänomene sind nicht physische Phänomene.

    2.  Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam.

    3.  Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen.

    Diese drei Sätze reflektieren wesentliche Positionen des ontologischen Dualismus, wie er für das Abendland charakteristisch ist, und die gerade im Hinblick auf die Ursache-Wirkungsbeziehung zwischen dem Bereich des Physischen und Mentalen eine wichtige Rolle spielen. In dem intensiven philosophischen Diskurs des Abendlandes, der um eine Lösung dieser Widersprüche kreist, treten vor allem die folgenden drei Fragen hervor, die auch den Ausgangspunkt für die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist im chinesischen Denken sein sollen:

    Drei Fragen zum Verhältnis von Leib und Seele

    1. Inwieweit vermag das Seelische unabhängig und getrennt vom Leiblichen zu existieren?

    2. Welche Rangordnung existiert zwischen Leiblichem und Seelischem und inwieweit vermögen sie sich gegenseitig zu beeinflussen?

    3. Welcher Art ist die Verbindung zwischen Leiblichem und Seelischem und wo wird sie verortet?

    Polare versus dualistische Auffassung von Leib und Seele

    Das diesem Kapitel vorangestellte Zitat aus dem Huainanzi steht nun exemplarisch für eine in der Chinesischen Geistesgeschichte und Medizin gleichermaßen vertretene Überzeugung, dass weder Geist noch Seele jemals isoliert vom Körper zu existieren vermögen. Im chinesischen Denken wird das Verhältnis von Seelischem und Leiblichem generell als Polarität von Geist (shen 神) und Körper (xing 形) verhandelt, das sich dadurch auszeichnet, dass die beiden Pole einander bedingen und ergänzen. Diese polare Auffassung von Körper und Geist steht ganz im Gegensatz zu der eben dargestellten dualistischen Auffassung von Leib und Seele, wie sie lange und oft im Abendland vertreten wurde.¹⁰

    Die Pole sind über das qi miteinander verbunden

    Insofern gleicht das Verhältnis von Körper und Geist dem von yin 陰 und yang 陽, in welchem die beiden Pole – vermöge der verbindenden Lebenskraft qi 氣 – einander bedingen und niemals getrennt voneinander zu existieren vermögen. Dieses Verhältnis der Polarität gehört zu den wesentlichen Grundvoraussetzungen in der Chinesischen Medizin und Philosophie, was auch in der westlichen Forschung zu diesem Thema seinen Niederschlag gefunden hat. Doch geht man über den Allgemeinplatz, dass die Lebenskraft (qi 氣)die beiden Pole miteinander verbindet hinaus und stellt die Frage, wie die gegenseitige Wechselwirkung zwischen Körper und Geist im Einzelnen aussieht und wie sie zustande kommt, so finden sich hierzu bislang nur wenige Untersuchungen.

    Resonanz (ganying 感應) statt Ursache - Wirkungsbeziehung

    Wir werden sehen, dass das Phänomen der Resonanz (ganying 感應)dabei eine ganz zentrale Rolle spielt. Interessanterweise wurde in den letzten Jahren die Frage nach der „Resonanz" im Rahmen der abendländischen soziologischen Forschung von Hartmut Rosa in seinem Buch Resonanz der Weltbeziehungen detailliert erörtert und die vorliegende Untersuchung verdankt seinen Ausführungen ihre Inspiration. Das Resonanzverständnis ist im chinesischen Denken jedoch ein ganz anderes und vermag insofern eine neue, im Abendland bislang ungedachte Perspektive auf das Wirken und das Phänomen der Resonanz zu eröffnen. Es ist ferner sehr erstaunlich, dass die Frage nach der Resonanz auch in der Forschungsliteratur zur Chinesischen Medizin bislang sehr vernachlässigt worden ist.¹¹ Allzu häufig hat das westliche Denken mit seiner (naturwissenschaftlich geprägten) Frage nach Ursache und Wirkung, welches wir seit dem Eindringen des Westens vor über 150 Jahren auch häufig in der chinesischen Literatur finden, den Aspekt der Resonanz nahezu vollkommen verdrängt. Denn die Ursache für die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist zu finden ist etwas anderes als die Resonanzbeziehungen zwischen den beiden zu untersuchen.

    Fünffache Auffächerung des Geistes

    Bei näherer Betrachtung zeigt sich ferner, dass die Ebene des Geistig-Seelischen im chinesischen Denken nicht im Sinne einer Einheit – also des „einen Geistes oder der „einen Seele –, sondern in Gestalt einer fünffachen Auffächerung des Geistes (wushen 五神, „die fünf Lebensgeister") den verschiedenen korrespondierenden Aspekten des Leibes gegenübersteht. Die kosmische Dimension des Geistes konkretisiert sich im menschlichen Individuum in Gestalt der Hauch- und Körperseele (hun 魂 und po 魄), dem Denken (yi 意), dem Willen (zhi 志)und der leitenden Funktion des Geistes (shen 神) selbst.

    Die wushen 五神 „fünf Lebensgeister und die „fünf Speicherorgane (wuzang 五臟)

    Genau hier setzt nun die Frage nach der Resonanzbeziehung zwischen den „fünf Lebensgeistern" (wushen 五神) mit ihren körperlichen Korrelaten an, in Gestalt der fünf Speicherorgane (wuzang 五臟)Herz, Leber, Lunge, Milz und Nieren. Dabei gilt es zu untersuchen, ob eine körperliche Erkrankung oder die Schwäche eines Organes, wie beispielsweise der Leber, unmittelbar oder unbedingt eine Schwäche der Hun-Seele zur Folge haben wird. Oder ist eine geschwächte Willenskraft immer Ausdruck einer mangelnden Essenz (jing 精)in den Nieren? Bilden die Speicherorgane die kausale Ursache für die geistigen Kräfte eines Menschen oder sind sie vielmehr eine Ermöglichungs-Bedingung für diese? Damit ist gemeint, dass die Speicherorgane die Voraussetzung für die geistigen Kräfte bilden, aber nicht ursächlich für ihre Entstehung verantwortlich sind. Sind die geistigseelischen Aspekte hierarchisch höher einzustufen als die mit ihnen korrelierenden Speicherorgane und vermögen sie letztere zu kontrollieren? Und wie steht es schließlich mit der Freiheit des menschlichen Willens im Rahmen dieser Resonanzbeziehungen?

    Neue Perspektive auf die Freiheit des Willens?

    Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Diskussion zum Verhältnis von Gehirn und Geist sowie der Frage nach der menschlichen Willensfreiheit, mag der Blick auf das chinesische Denken vielleicht auch an dieser Stelle eine neue Perspektive zu eröffnen, die die Diskussion von den festgefahrenen Standpunkten befreit.

    Vorgehensweise

    Textliche Grundlage aus der Philosophie und Medizin

    Als textliche Grundlage für dieses Unterfangen werden uns vor allem klassische chinesische Texte aus dem Bereich der Philosophie – primär des Daoismus, aber auch des Konfuzianismus – dienen, ebenso wie medizinische Texte, allen voran natürlich das Huangdi Neijing 黃帝内經 (Innerer Klassiker des gelben Kaisers). Viele Textstellen wurden hierzu von mir erstmals aus dem Klassischen Chinesisch ins Deutsche übersetzt, mit dem Ziel den Text selbst zum Sprechen zu bringen, ohne die Texte dabei in ein vorgefertigtes Interpretationsschema zu zwängen. Dies hat zur Folge, dass dem Leser einiges ungewohnt oder neu vorkommen mag und verschiedene Ausführungen nicht unbedingt der gängigen „TCM-Theorie" entsprechen. Denn im Folgenden wird primär auf die Klassischen Chinesischen Texte zurückgegriffen, die vielmehr ein energetisch-dynamisches Verständnis der Chinesischen Medizin reflektieren und weniger ein Denken in Syndromen oder eine Ursache-Wirkungs-Beziehung erkennen lassen.

    Nachdem wir im Chinesischen Kontext von den wushen 五神, den „fünf Lebensgeistern wie von den „fünf Speicherorganen (wuzang 五臟)sprechen, werde ich, wenn es um das prinzipielle Verhältnis der beiden geht, von „Körper und Geist sprechen. Wenn hingegen die Vielgestaltigkeit des Geistig-Seelischen und Körperlichen ausgedrückt werden soll, werde ich vom Verhältnis „des Seelischen und Leiblichen reden.

    Wesen und Wirken des Geistes shen

    Ausgangspunkt (Kapitel 2) wird die ursprünglichen Bedeutung des Begriffes shen 神 sowie der philosophische Diskurs (Kapitel 3) über sein prinzipielles Wesen und Wirken sein, wie er uns vor allem in den daoistischen Texten begegnet, da letztere eine unmittelbare Verbindung zur Chinesischen Medizin aufweisen. Bereits hier steht die Frage nach dem grundlegenden Verhältnis von Körper und Geist im Mittelpunkt.

    Korrelative Kosmologie

    Um die konkrete Dynamik der fünf Lebensgeister verstehen zu können, werden wir im Anschluss einen Blick auf die „korrelative Kosmologie" werfen (Kapitel 4), welche spätestens seit Beginn der Han-Zeit die wichtigste Theorie zur Erklärung der Welt im Sinne eines sich selbst generierenden und erhaltenden Organismus darstellte.

    Wechselwirkungen zwischen Makround Mikrokosmos

    Im Zentrum stehen hier die Wechselwirkungen zwischen dem Makrokosmos (Natur) und dem Mikrokosmos (Mensch), die letztlich Ausdruck der zyklischen Veränderungen von yin 陰 und yang 陽 sowie den fünf Wandlungsphasen (wuxing 五行)sind. Denn die prinzipielle Dynamik der fünf Wandlungsphasen sowie die Korrelationen, die zwischen Mensch und Natur bestehen, setzen den Referenzrahmen für die Aufgaben und Funktionen der Speicherorgane, sowohl auf der körperlichen als auch auf der geistigseelischen Ebene. Hier spielt wiederum das eben erwähnte Phänomen der Resonanz (ganying 感應) eine ganz entscheidende Rolle. Denn nur über die Resonanz erklärt sich, dass und warum die Korrelationen, welche die einzelnen Wandlungsphasen zu den verschiedenen Dingen und Situationen des Weltgeschehens aufweisen, weder willkürlich gesetzt noch zufällig ausgewählt sind, sondern Ausdruck einer jeweils einzigartigen Dynamik sind.

    Spezifische Dynamik der Speicherorgane und fünf Lebensgeister

    Nachdem uns primär die Wechselwirkungen und Zusammenhänge zwischen Körper und Geist interessieren, werden wir uns intensiv mit der Frage auseinandersetzen, wie die spezifische Dynamik der jeweiligen Speicherorgane und der ihnen zugeordneten Lebensgeister im Einzelnen aussieht (Kapitel 5).

    Funktionelle Bestimmung der wushen 五神

    Dabei wird zu zeigen sein, dass eben diese, für die einzelnen Speicherorgane unterschiedliche und charakteristische Dynamik gleichermaßen auf einer körperlichen wie einer geistigen Ebene wirkt. Denn die „fünf Lebensgeister" (wushen 五神)können nicht aus einer ontologischen Bestimmung („was sind sie?), sondern primär aus ihrer funktionellen Bestimmung („was tun sie) verstanden werden: also welches ist ihre charakteristische Aufgabe?

    Des Weiteren werden wir auf der einen Seite die Wechselwirkungen der seelisch-geistigen Aspekte untereinander betrachten und auf der anderen Seite das (hierarchische) Verhältnis zwischen den fünf Lebensgeistern und den jeweiligen Speicherorganen bestimmen.

    Rolle der sieben Emotionen

    Dabei soll unser Augenmerk darauf gerichtet sein, wodurch oder woran die fünf Lebensgeister primär erkranken können – allem voran den sieben Emotionen (qiqing 七情)– und wie sie im Krankheitsfall gezielt zu beeinflussen sind (Kapitel 6).

    Prävention von Erkrankungen: „Pflege des Lebens" (yangsheng)

    Hier spielt vor allem die Prävention von Erkrankungen eine wichtige Rolle, die ein Thema der „Pflege des Lebens" (yangsheng 養生 ist. Wir werden sehen, wie die fünf Lebensgeister am besten zu kultivieren sind und auf welchem Wege ihre Resonanzfähigkeit gestärkt werden kann (Kapitel 7). In der Zusammenschau gilt es schließlich die Resonanzbeziehung von Körper und Geist im Hinblick auf eingangs gestellten, drei großen Fragen des Leib-Seele Problems zu untersuchen und die Freiheit des menschlichen Willens aus der Perspektive des Chinesischen Denkens zur reflektieren.

    1.1  Technische Hinweise

    Die Umschreibung chinesischer Termini erfolgt in der Pinyin-Umschrift. Chinesische und alle anderen fremdsprachigen Begriffe sowie Titel und Hervorhebungen im Text werden kursiv geschrieben. Chinesische Eigennamen werden nicht kursiv, aber in der Pinyin-Umschrift wiedergegeben. Einzelne chinesische Begriffe, die nicht eindeutig zu übersetzen sind, wie z.B. yin und yang oder qi werden bei ihrem ersten Auftreten erklärt, aber es wird keine Übersetzung dafür angegeben, im Folgenden wird immer auf den chinesischen Begriff in der Pinyin-Umschrift Bezug genommen.

    Die bibliographischen Hinweise in den Endnoten erfolgen prinzipiell mit der Nennung von Autor bzw. Titel und Jahreszahl. Klassische chinesische Titel, Sammelwerke, Lexika und Zeitschriften werden mit dem Titel und der Jahreszahl zitiert, alle weiteren bibliographischen Daten sind im Literaturverzeichnis enthalten.

    Alle Klassischen Chinesischen Zitate werden, wenn nicht anders erwähnt, nach der Textdatenbank von ctext.org. zitiert. Alle anderen westlichen und chinesischen Quellen werden nach den einzelnen Ausgaben (Angabe von Autor, bzw. Titel und Jahreszahl) zitiert.

    1.2  Abkürzungen

    2  Geisterdämmerung

    China: kein eigenständiger Diskurs zum Verhältnis von Körper und Geist

    Während die Vorstellung von der Seele (und ihrem Verhältnis zum Leib) in der Philosophiegeschichte des Abendlandes über einen langen Zeitraum ganz von der Frage nach dem ihr eigenen Wesen und ihrer Substanz geprägt war, bevor sie allmählich auf eine rein funktionale Ebene – beispielsweise in Gestalt des Vollzuges intentionaler Akte – reduziert worden ist, wird im frühen chinesischen Denken die Frage „was ist oder „woraus besteht die Seele, nur ganz am Rande diskutiert. Besonders auffallend im Vergleich zum Abendland ist, dass es kaum philosophische Schriften oder Abhandlungen gibt, die sich eigens mit dem Seelischen, seinem Wesen oder seinem Verhältnis zum Körper beschäftigen. Die meisten Aussagen finden sich verstreut in historischen Werken oder allgemeinen philosophischen Schriften und dies eher implizit als in Gestalt von expliziten Abhandlungen. Das bedeutet, will man sich dem Phänomen des Seelischen im chinesischen Denken nähern, ist man mit einer vollkommen unterschiedlichen Ausgangslage konfrontiert. Das Verhältnis von Körper und Geist wurde nicht isoliert diskutiert, sondern war immer schon Teil eines größeren Diskurses.

    Abendland fragt nach dem Wesen der Seele

    Denn während in der abendländischen Philosophie für die meisten Philosophen das Wesen der Seele und/oder ihr Verhältnis zum Leib ein ganz zentrales und eigenes Thema darstellt, vollzieht sich die Beschäftigung mit dem Seelischen in China in aller Regel innerhalb eines unterschiedlichen oder umfassenderen Kontextes.

    China: Der Geist i menschlich-ethischen wie kosmologischen Bereich

    Ferner wird die Frage nach dem Geist bzw. der Seele in den ältesten chinesischen Texten primär im Hinblick auf ihre Funktion und Aufgabe im menschlichethischen wie kosmologischen Bereich gestellt. Diese Aufgaben sind wiederum eng mit der chinesischen Vorstellung vom „Ich" verbunden, wo es ebenfalls weniger um die Frage geht „was bin ich" als vielmehr „was soll ich",¹². Anders als im Abendland reflektieren die ältesten philosophischen Quellen ein sehr viel stärkeres Interesse an gesellschaftlichen und politischen als beispielsweise an ontologischen Fragen, so dass die Frage nach dem Geist und der Seele eher „was bewirkt der Geist oder „wie funktioniert der Geist, als „was ist der Geist" lauten.

    2.1  Der Geist im Spiegel des frühen chinesischen Denkens

    Der Tod ist weder ein Bruch mit dem Leben noch das finale Ende des Lebens

    Blickt man auf die historisch ältesten Aufzeichnungen, in welchen erstmals Begriffe auftreten, die als Äquivalent für „das Seelische" verstanden werden dürfen, so muss man bis ins 2.Jahrtausend v.Chr. zurückgehen. Die ältesten Schriftstücke stammen aus der Shang-Zeit (1570-1024 v.Chr.) und sind in Gestalt der so genannten Orakelknocheninschriften verfasst. Aus dieser Zeit sind uns reichhaltige Grabfunde erhalten, die gleichermaßen über das Leben der Toten wie der Lebenden Auskunft erteilen, denn gerade am Umgang mit dem Tod lassen sich die kulturellen Ursprünge und das Weltbild einer Zivilisation besonders deutlich erkennen. Dabei ist die Frage, ob das Leben mit dem Tode tatsächlich endet oder wie ein eventuelles Leben nach dem Tode vorzustellen ist, untrennbar mit der Frage nach dem Seelischen verbunden. Die äußerst reichhaltigen Grabbeigaben sowie der bereits seit dem Neolithikum (8.-2. Jts.v.Chr.) intensiv ausgeübte Ahnenkult offenbaren unmittelbar die zentrale Rolle, welche der Tod zur damaligen Zeit gespielt haben muss.¹³ Bei einer sehr hohen Kindersterblichkeit (20 %) und einer durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen 25-35 Jahren wurde der Tod nicht als gewaltsamer Eingriff empfunden, der plötzlich und immer zu früh eintrat.¹⁴ Er war vielmehr integraler Bestandteil des Lebens selbst, weder vollkommen unerwartet noch vermeidbar. Sowohl die Grabfunde vor (6.-3.Jtsd.v.Chr.) und während der Shang-Zeit als auch die Orakelknocheninschriften weisen darauf hin, dass der Tod im chinesischen Denken keinen Bruch mit dem Leben und somit auch nicht das finale Ende des Lebens bedeutete, sondern vielmehr als Fortführung des Lebens in einer anderen Existenzform begriffen wurde. Das ideale Leben eines Toten war die Fortführung der bestmöglichen Existenz eines Lebenden.¹⁵

    2.1.1  Die Welt der Lebenden und der Toten

    Der Verstorbene ist nicht Teil einer „anderen" Welt

    Der Verstorbene wurde infolge seines Todes und dem damit verbundenen „Aufstieg" zum Ahnen ebenso wenig automatisch Teil einer ontologisch unterschiedlichen, oder gar rein metaphysisch gedachten Welt wie er ausschließlich als Erinnerung an die einst lebende Person vorzustellen ist. Die üppigen Grabbeigaben, die gerade bei gesellschaftlich und politisch wichtigen Persönlichkeiten gefunden wurden, wie die sie begleitenden Menschenopfer, die meist aus engen Familienmitgliedern oder Untergebenen bestanden – und aus archäologischer Sicht interessanterweise nicht einmal Spuren eines gewaltsamen Todes aufweisen¹⁶ – veranschaulichen, dass sowohl der Status einer Person mit den entsprechenden hierarchischen Beziehungen als auch die sich daraus ergebenden Verpflichtungen über den Tod hinaus wirksam bleiben.¹⁷

    Die Ahnenverehrung: immerwährender Beistand der Ahnen

    Insofern war die Welt der Toten in keiner Weise von der Welt der Lebenden getrennt. Vielmehr resultierte aus der rituell streng festgelegten Verehrung der Ahnen ein psychologisches und spirituelles Bewusstsein für den immerwährenden Beistand der Ahnen. Überdies war es ein wesentliches Ziel des Ahnenkultes, eben die hierarchischen, juristischen und funktionellen Strukturen zu erhalten, welche die Ahnen dazu befähigen sollten, ihren kontinuierlichen und geordneten Einfluss auf die Welt der Lebenden auszuüben. Demzufolge galt das primäre Interesse der Ahnen den diesseitigen menschlichen Angelegenheiten, so dass sie einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung der hierarchischen Strukturen des Clan-Systems der Shang mit ihrem königlichen Oberhaupt leisteten.

    2.1.2  Diesseits ohne Jenseits?

    Gradueller Unterschied zwischen der Welt der Lebenden und der Ahnen

    Von zentraler Bedeutung ist dabei die daraus erwachsende, fundamentale Bedeutung der Diesseitigkeit. Denn sie ist nicht nur für die Shang-Dynastie und ihre Religion selbst kennzeichnend, sondern bleibt bis in die Gegenwart hinein ein, wenn nicht das wesentliche Charakteristikum in der chinesischen Philosophiegeschichte. Allerdings gilt es das chinesische Diesseits insofern neu zu definieren, als ihm – im Sinne eines Diesseits der Lebenden – kein metaphysisch gedachtes Jenseits der Toten gegenübergestellt wird. Der Anspruch auf Macht und Autorität des Shang-Königs mit seiner hierarchisch strukturierten Regierungsform wie das gesamte gesellschaftliche und ökonomische Leben der Shang war im Wesentlichen darauf ausgerichtet, die Verstorbenen bzw. die Ahnen in die irdische Welt der Lebenden zu integrieren.¹⁸ Die überaus wertvollen und reichhaltigen Grabbeigaben, die teilweise extra angefertigt und teilweise bereits zu Lebzeiten Verwendung fanden, waren ebenso für den Einsatz im Leben nach dem Tode gedacht wie sie den sozialen Status des Verstorbenen reflektieren.¹⁹ Nachdem dieser Status über den Tod hinaus nicht nur erhalten, sondern vor allem wirksam bleibt, ist der Unterschied zwischen einer Welt der Lebenden und einer Welt der Ahnen eher von gradueller als von substantieller Art.

    Fundamentale Bedeutung des Diesseits

    Gleichzeitig stellt sich im Ahnenkult jedoch der Mensch selbst, und nicht eine transzendente Gottheit aus einer ontologisch radikal unterschiedlichen gedachten Welt, in den Mittelpunkt des kulturellen und religiösen Lebens.

    Im Zentrum des Ahnenkultes steht der Mensch selbst

    Denn die Verehrung der Ahnen impliziert auch die Verehrung der eigenen Person als Mensch, indem man selbst das wesentliche Bindeglied zwischen den bereits verstorbenen und den zukünftigen Ahnen – in Gestalt des eigenen bevorstehenden Todes – darstellt.²⁰ Indem es eine heilige Erinnerung an das eigene Fleisch und Blut aufrecht zu erhalten gilt, wird der Einzelne sozusagen unsterblich. Auch wenn die Ahnen, gerade die der Shang-Könige sowie der höchste aller Ahnen, Shangdi, durchaus göttlicher Natur sind, leben sie nicht in einer transzendenten Welt jenseits der Menschen.

    Gottheiten leben im Diesseits

    Selbst die Gottheiten, welche sich in Gestalt der Naturgewalten manifestieren und dem Menschen an Macht weit überlegen sind, bleiben Bestandteil eines wohl diversifizierten, aber doch grundlegend monistisch gedachten und auf den Menschen zentrierten Kosmos. So liegt es vornehmlich in der Hand des Menschen selbst, durch sein moralisches Verhalten oder die rituell durchzuführenden Opfer, Naturkatastrophen, Epidemien oder anderes Unheil zu vermeiden.²¹ Diese offenkundig humanistische Dimension der Shang-Kultur zeigt sich nicht zuletzt in den Fragestellungen der oben vorgestellten Orakelknocheninschriften selbst, da sie nur Antworten auf bereits vom Menschen vorgefertigte Fragen erlauben, spontane Äußerungen transzendenter Mächte hingegen gar nicht vorsehen.

    2.1.3  Der Tod als Prozess

    Körperliche Erhaltung des Leichnams

    Obgleich ein derartiger Ahnenkult die Gewissheit suggeriert, dass die Verstorbenen auch nach ihrem Tode noch existieren, darf daraus nicht auf die Vorstellung einer vom Körper unabhängigen, unsterblichen Seele geschlossen werden. Vielmehr lassen die Erwähnung von „Fürsorgeopfern" auf den Orakelknocheninschriften, welche den Ahnen zur Stärkung dargebracht wurden und deren Wirkung ganz von der Qualität der dargebrachten Speisen abhing, wie die reichhaltigen Grabbeigaben aus dieser Zeit vermuten, dass vor allem die körperliche Erhaltung des Leichnams von ganz zentraler Bedeutung war, um über den Tod hinaus mit ihnen kommunizieren zu können.²²

    Kollektive sekundäre Bestattungen

    Die Durchführung von kollektiven sekundären Bestattungen, wie sie während des Neolithikums – insbesondere der Zeit zwischen dem 6.-4. Jtsd.v.Chr. – üblich war,²³ lässt vermuten, dass die Grabbeigaben nur solange von den Verstorbenen benötigt wurden, wie die Leiche noch die Gestalt eines Menschen aufwies, also die Knochen noch von Fleisch bedeckt waren. Denn nachdem der Leichnam, innerhalb eines Zeitraumes von 3-10 Jahren nach seiner Erstbestattung, aus seinem ersten Grab herausgenommen

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