Das alte und das neue Yijing: Die Wandlungen des Buches der Wandlungen
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Buchvorschau
Das alte und das neue Yijing - Dominique Hertzer
Inhaltsverzeichnis
VORWORT
VORWORT ZUR ZWEITEN ÜBERARBEITETEN AUFLAGE
1. EINLEITUNG
Unterscheidung von Wahrsagung und Weissagung
Die Besonderheiten des Wahrsagesystems Yijing
Die Textgeschichte des traditionellen Yijing
2. DAS KULTURELLE UND HISTORISCHE UMFELD VON MAWANGDUI
Der historische Hintergrund
Die Grabbewohner
Die Texte der Grabbibliothek
3. DIE INHALTLICHEN UNTERSCHIEDE DES MAWANGDUI-YIJING IM VERGLEICH ZUR TRADITIONELLEN ÜBERLIEFERUNG
Das Material
Die Unterschiede im Text - Fehlschreibung, Lehnschreibung oder Andersschreibung?
Forschungsstand und Arbeitshypothese
Möglichkeiten und Grenzen eines Textvergleiches
4. DIE FORMALEN UND GRAPHISCHEN UNTERSCHIEDE
Die Yin- und Yang-Linie in Form des Zahlensymbols
Die Zahl und ihre Verwendung in der Wahrsagung
Verbindung von Zahl und Wahrsagung in China
Bedeutung und Funktion der Zahl im Yijing
Darstellung der Yin- und Yang-Linien auf Orakelknochen und Bronzeinschriften
Die Anordnung der 64 Hexagramme
Ursprung und Symbolik der acht Trigramme
Entwicklung des Trigramms aus dem Hexagramm oder des Hexagramms aus dem Trigramm?
Die Reihenfolge der 64 Hexagramme im Mawangdui-Yijing im Vergleich zu anderen überlieferten Anordnungsmöglichkeiten
5. DIE INHALTLICHEN UNTERSCHIEDE
Der Text des Mawangdui- Yijing— eine Fälschung?
Die Wandlungen des Buches der Wandlungen
6. LITERATUR
Quellen in Chinesischer Sprache
Sekundärliteratur in chinesischer Sprache
Sekundärliteratur in westlichen Sprachen
7. FAKSIMILIE AUS DEM ORIGINALTEXT
8. ZUR AUTORIN
Der sensationelle Grabfund von Mawangdui, einer kleinen Stadt im Süden Chinas, hat eine Version des Yijing –Buches der Wandlungen – ans Licht gebracht, die in das Jahr 168 v.Chr. datiert werden kann und somit um rund 1000 Jahre älter ist als die bisher bekannte früheste Ausgabe.
In dem Band "Das Mawangdui Yijing. Text und Deutung hat Dominique Hertzer bereits die erste deutsche Übersetzung des Textes veröffentlicht. Im vorliegenden Band
Das alte und das neue Yijing "vergleicht sie die neu gefundene mit der bislang bekannten Yijing-Fassung. mit dem Ziel, einen neuen Weg zum Verständnis des Yijing - im Sinne eines Werkes zur Bestimmung der Zukunft aus Vergangenheit und Gegenwart - aufzuzeigen. Ein wesentliches Anliegen des Buches ist es, einen Beitrag zur Grundlagenforschung desYijing zu leisten, der ebenso für das sinologische Fachpublikum Ausgangspunkt für weitere Forschungen sein kann wie er dem interessierten Laien einen neuen Blickwinkel für eigene Interpretationsmöglichkeiten eröffnen soll.
Ausgehend von einer Einführung in das Yijing als Wahrsagebuch und philosophisches Werk werden die neuen Erkenntnisse und deren Folgen erörtert: Neben der unterschiedlichen Darstellung und einer anderen Reihenfolge der 64 Hexagramme lassen auch die Schriftzeichen in der Mawangdui-Version gravierende Abweichungen erkennen. Welche Bedeutung haben diese Unterschiede für die Interpretation des Buches der Wandlungen und somit für den einzelnen Leser? Wird die Gültigkeit und Richtigkeit der bisher überlieferten Version in Frage gestellt? Und erfahren so die Fragen nach der Zukunft eine vollkommen andere Antwort?
Dieses Buch basiert auf der Promotion von Dominique Hertzer im Jahre 1993 über den Textfund des Yijing aus Mawangdui im Fach Sinologie. Der vorliegende Band ist eine zweite überarbeitete Auflage - die erste Auflage ist ursprünglich im Diederichs Verlag erschienen- , in die der gegenwärtige Forschungsstand zum Mawangdui-Yijing,verschiedene inhaltliche Aktualisierungen und nicht zuletzt zwanzig Jahre Erfahrung mit dem Yijing eingeflossen sind.
Dominique Hertzer
Das alte und das neue Yijing
Die Wandlungen des Buches der Wandlungen
Dao.works
Die Darstellung auf dem Umschlag zeigt eine mythische Gottheit, die auf einem wilden Tier reitet. Es handelt sich um ein Detail der Bemalung eines Sarges aus dem Grab Nr.1 von Mawangdui. (Aus: Mawangdui Hanmu wewu, Hunan: Hunan chubanshe 1992, S.9)
Die Deutsche Bibliothek – CIP Einheitsaufnahme
Hertzer, Dominique
Das alte und das neue Yijing: die Wandlungen des Buches der Wandlungen/Dominique Hertzer-Utting: Dao.works, 2015
© Dominique Hertzer dao.works, Utting 2015
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrages sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages und der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlagsgestaltung: Philine Delf
VORWORT
»Schopenhauer weist darauf hin, dass ein Lebenslauf wenn man ein fortgeschrittenes Alter erreicht hat und zurückblickt, den Anschein erweckt, als hätte er Stetigkeit, Ordnung und Planmäßigkeit besessen, so als sei er von einem Romanschriftsteller komponiert worden. Ereignisse, die, als sie geschahen, zufällig und momenthaft zu sein schienen, erweisen sich als unerlässliche Faktoren in der Komposition einer zusammenhängenden Geschichte. Aber: Wer hat diese Geschichte komponiert?...
Alles verbindet sich miteinander zu einer großen Symphonie, in der jedes Moment unbewusst jedes andere prägt ... ein großer Traum eines träumenden Einzelnen, in dem alle Traumgestalten ebenfalls träumen... Alles steht in Wechselbeziehung zu allem anderen, so dass man niemanden verantwortlich machen kann, ja es ist sogar so, als stünde eine einzige Absicht hinter allem, die immer einen bestimmten Sinn ergibt, obwohl niemand weiß, welcher Sinn dies ist und man im Leben auch gelebt hat, was tatsächlich beabsichtig war. »
(Joseph Campbell)
Was im Leben eines Menschen tatsächlich beabsichtigt und inwieweit das Schicksal eines individuellen Lebens tatsächlich vorgezeichnet ist oder ob sich der zukünftige Weg aus einer »zufälligen« Weichenstellung in der Gegenwart ergibt, einer solche Frage sehen sich wohl die meisten Menschen irgendwann in ihrem Leben gegenübergestellt. Dabei ist die Frage nach der Zukunft und dem eigenen Schicksal niemals losgelöst von der Angst vor oder einer Hoffnung auf die Zukunft. Sei es die Hoffnung, dass die Zukunft eine Veränderung bringt oder die gegenwärtigen Verhältnisse bestehen bleiben mögen, seien es die Hoffnungen eines einzelnen Menschen oder die eines ganzen Landes, manchmal vermag allein die Hoffnung auf eine (andere) Zukunft die Gegenwart erträglich zu machen, und manchmal lässt die Angst vor der Zukunft die Gegenwart zur Zukunft werden.
Die Frage nach der Zukunft und der Möglichkeit, sie zu beeinflussen, hat immer schon eine große Faszination ausgeübt und war lange Zeit sogar ein wichtiges politisches Machtmittel, wie wir von dem Orakel in Delphi wissen. Selbst heute im Zeitalter der Technik, die alle Unwägbarkeiten der Zukunft auszuschalten versucht, bleibt die Frage nach dem Bevorstehenden und dem eigenen Schicksal aktuell.
Der Wunsch, in die Zukunft sehen zu können, spiegelt sich sowohl in einfachen Ja-Nein-Fragen als auch in komplexen Ideen des jeweiligen Wahrsagesystems wider. Angefangen beim Los-Orakel in der Bibel, der Schau von Eingeweiden und Pflanzen über die Kristallkugelschau und Geistreisen bis hin zum Kaffeesatzlesen, Kartenlegen und der Astrologie, haben sich je nach Kulturkreis und Bedarf die verschiedensten Systeme zur Weis- und Wahrsagung entwickelt. Im westlichen Kulturkreis wurden mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften bei der Erklärung natürlicher und kosmischer Phänomene und einem daraus resultierenden kausal-linearen Denken die meisten Methoden zur Vorhersage der Zukunft im Lauf des letzten Jahrhunderts als Überreste eines noch nicht aufgeklärten Zeitalters betrachtet. Dessen ungeachtet überlebten verschiedene der einst gängigen Methoden für den Blick in die Zukunft und haben in den letzten Jahren im Rahmen der allgemeinen »Esoterikwelle« einen großen Aufschwung erfahren, so dass sich Astrologie und Tarotkarten derzeit wieder größter Popularität erfreuen.
Anders verhält es sich im asiatischen Kulturkreis, speziell in China, wo das Denken in Analogien immer schon eine Selbstverständlichkeit war - und auch heute noch ist -, was oftmals als großer Gegensatz zum westlichen Denken empfunden wurde und demzufolge auch als Hindernis für den technischen Fortschritt. Bei der Frage nach der Zukunft, die niemals losgelöst von einem Verständnis der Gegenwart und Vergangenheit gestellt wurde, existierten auch in China verschiedene Methoden, wenngleich weniger zahlreich als in Europa, unter welchen das Schafgarbenorakel in Gestalt des Yijing 易經 (auch: I Ging) sicherlich das Bekannteste ist. Als Verknüpfung aus einem Handbuch zur Wahrsagung und einem philosophischen Werk, das die Zusammenhänge zwischen kosmischem und menschlichem Geschehen sowie seine Gesetzmäßigkeiten aufzeigt, hat es in den letzten 2000 Jahren unzählige Interpretationen erfahren, deren Wortreichtum das Yijing zwar populär gemacht, aber seinen Sinn nicht unbedingt verdeutlicht haben. Warum das Buch der Wandlungen jedoch auch in unserem Sprachraum, spätestens seit seiner Übertragung ins Deutsche von Richard Wilhelm, einen solch großen Anhängerkreis gewonnen hat, darauf wurde bisher meist nur hinter dem Schleier der Mystik geantwortet. Welche Faszination mag von einem Wahrsagebuch ausgehen, das einem völlig anderen Kulturkreis und Denken entspringt und aufgrund seines hohen Alters schon im Original sehr schwierig zu verstehen ist?
Diese Frage, mit der sich jede Übertragung des Yijing in eine andere Sprache und jede Interpretation ganz zwangsläufig beschäftigt, gewinnt durch den Grabfund von Mawangdui im Jahr 1973 noch eine ganz neue Dimension. Denn dort wurde in einer Grabbibliothek ein Werk entdeckt, das in seinen Grundzügen zwar mit der überlieferten Version des Yijing übereinstimmt, doch an verschiedenen Stellen von ihr abweicht und so ganz neue Fragen aufgeworfen hat: Wird durch dieses zweite Yijing die Gültigkeit der überlieferten Version in Frage gestellt, und gibt es dadurch unterschiedliche Antworten auf dieselben Fragen nach der Zukunft? Wird das Buch der Wandlungen durch diese neue Version etwas von seiner Einzigartigkeit und damit auch Faszination einbüßen oder vermag der Mawangdui-Text einen neuen Zugang zum Yijing zu erschließen?
Damit die Bedeutung und Tragweite, die die Mawangdui-Version für das Verständnis des Yijing als Handbuch zur Wahrsagung in sich birgt, offenbar wird, möchte ich das Buch der Wandlungen zunächst verschiedenen Orakelmethoden aus unserem eigenen Kulturkreis gegenüberstellen, mit dem Ziel, die möglichen Facetten der Vorstellung von Zukunft zu veranschaulichen, im Sinn eines »Zu-falls« von Situationen und Ereignissen, welche von einem unabänderlichen Schicksal verhängt werden oder jeden Augenblick spontan entstehen können.
Erst im Anschluß daran werde ich auf die historischen kulturellen Besonderheiten des Grabfundes von Mawangdui eingehen sowie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der überlieferten und der Mawangdui-Version des Buches der Wandlungen vorstellen. Doch beschränke ich mich hier nicht auf einen reinen Textvergleich oder eine Textinterpretation, die sich ausschließlich auf das historisch-kulturelle Umfeld von Ma-wangdui bzw. die Grabfunde selbst stützt. Vielmehr hat mich die Herausforderung motiviert, die Bedeutung und möglichen Hintergründe für die spezifischen Unterschiede beider Ausgaben zu untersuchen, mit dem Ziel, einen neuen Weg zum Verständnis des Yijing — im Sinne eines Werkes zur Bestimmung der Zukunft aus Vergangenheit und Gegenwart - aufzuzeigen. Dabei war es mir ein wichtiges Anliegen, einen Beitrag zur Grundlagenforschung des Yijing zu leisten, der ebenso für das sinologische Fachpublikum Ausgangspunkt für weitere Forschungen sein kann wie er dem interessierten Laien einen neuen Blickwinkel für eigene Interpretationsmöglichkeiten eröffnen soll.
Die Übersetzung des Mawangdui-Yijing ist von mir in einem eigenen Band veröffentlicht worden: »Das Mawangdui-Yijing - Text und Deutung« . Dieser und der vorliegende Band beruhen auf einer Arbeit, die im Januar 1993 von der Ludwig-Maximilians-Universität als Dissertation angenommen wurde.
München, im Januar 1996 Dominique Hertzer
VORWORT ZUR ZWEITEN ÜBERARBEITETEN AUFLAGE
In dieselben Flüsse
steigen wir hinab und nicht hinab.
Wir sind es und sind es nicht,
denn in denselben Strom
vermag man nicht zweimal zu steigen.
(Heraklit)
Seit der Erstauflage dieses Buches vor zwanzig Jahren hat mich mein Weg zunächst weg von der rein universitären Laufbahn hin zur Chinesischen Medizin in Theorie und Praxis geführt. Doch auch, oder besser vielleicht gerade in der Chinesischen Medizin ist das Buch der Wandlungen das Fundament, auf dessen Grundlage die verschiedenen Schulen und Ansätze der Chinesischen Medizin ihren Ausgangspunkt genommen haben. Wie es in einem medizinischen Klassiker heißt, gilt es „die Medizin (als das Wissen) um die Wandlungen" zu verstehen, so dass mich nicht zuletzt das Bemühen um ein tieferes Verständnis der Chinesischen Medizin wieder zum Yijing zurückgeführt und mir zugleich neue Perspektiven auf das Studium der Wandlungen eröffnet hat.
In der neuen Auflage wurde neben der Einfügung der chinesischen Schriftzeichen ebenso der neueste Forschungsstand zum Mawangdui-Yijing eingearbeitet wie verschiedene inhaltliche Aktualisierungen vorgenommen.
Ich widme dieses ebook meinem verstorbenen Lehrer, Wolfgang Bauer, der mir bis zum heutigen Tage eine große Quelle der Inspiration ist und mich ermutigt, meinen Weg als unabhängige Wissenschaftlerin zu gehen.
Utting, im Dezember 2015 Dominique Hertzer
Allein das Wort Wahrsagung
vermag die verschiedensten Assoziationen und Vorstellungswelten hervorzurufen, angefangen mit des Wortes ursprünglicher Bedeutung Sehen, Prophetie
(1) bis hin zu den unzähligen Methoden, die im Laufe der Zeit entwickelt wurden, die Zukunft vorherzusagen. Um einen kurzen Überblick über die Geschichte und die verschiedenen Methoden der Wahrsagung zu geben, möchte ich zunächst den Versuch unternehmen, den Begriff Wahrsagung
von den ihm verwandten Ausdrücken wie Prophezeihung
und Weissagung
zu differenzieren, da im Deutschen anders als bei dem englischen Begriff divination
, der sowohl die Wahrsagung
als auch die Weissagung
in sich vereint, diese Begriffe häufig verwechselt bzw. undifferenziert verwendet werden.
Unterscheidung von Wahrsagung und Weissagung
Im entsprechenden lateinischen Wort divinare
ist durch die Bedeutung von eine göttliche Eingebung haben, weissagen, ahnen, vermuten, erraten
sowie durch seine Verwandtschaft mit dem Wort divinus
im Sinne von göttlich
die Ebene der Wahrsagung von der Weissagung (noch) nicht getrennt. Jede Erkenntnis, die nicht durch Menschenverstand oder den damaligen Stand der Wissenschaft geklärt werden konnte, wurde als göttliche Eingebung verstanden, so dass die Gabe die Zukunft vorauszusehen und vorherzusagen, von den Göttern kam. Dass es sich bei dieser Gabe, durchaus nicht immer um ein willkommenes Geschenk handeln musste, zeigen bereits die prophetischen Bücher im Alten Testament. Denn der Prophet im Alten Testament - im Sinne eines Menschen, der für einen anderen bzw. für eine Gottheit spricht - hat zwar das Vorrecht, Gott zu sehen und zu hören, doch übernimmt er mit dieser Gabe auch die Verpflichtung, das jeweils Gesehene oder Gehörte den Menschen zu verkünden, was vor allem in politischer Hinsicht für manchen Propheten sehr gefährlich werden konnte. Aus diesem Grund ging man später immer mehr dazu über, Prophezeihungen politisch-historischer Natur verschlüsselt abzufassen, deren berühmtestes Beispiel die Weissagungen des Nostradamus sind.
Auch im griechischen Wort manteia
bzw. manteuo
in der Bedeutung von einen Götterspruch verkünden, voraussagen, vermuten, ein Orakel befragen
wird noch keine direkte Unterscheidung zwischen Wahr- und Weissagung getroffen. Durch seine Verwandtschaft mit dem Wort mania
dem Wahnsinn
, bei dem es sich weniger um eine Geisteskrankheit als vielmehr um einen Zustand der Begeisterung oder Verzückung handelt, kann man ebenso wie bei dem lateinischen Äquivalent zunächst von einer Bedeutung ausgehen, bei der die Qualität des Sehens im Vordergrund stand.
Zur Abgrenzung der Wahr- von der Weissagung ist ein Blick auf den Begriff Orakel
aufschlussreich. Bei einem Orakel (lateinisch oraculum
) handelt es sich zunächst um das Heiligtum eines Gottes, an dem die jeweilige Gottheit, meist über ein Medium, die an sie gerichteten Fragen beantworten sollte. Ebenso ist auch die Antwort im Sinne eines Götterspruches sowie die Gottheit selbst unter dem Begriff Orakel
verstanden worden, so dass das Orakel zunächst untrennbar mit der Religion verbunden war. Interessant ist auch seine semantische Verwandtschaft mit dem Wort orare
in der Bedeutung von bitten, ersuchen, sprechen
, das eine Verbindung zwischen der Gottheit und der Person, die das Orakel um Rat fragt, herstellt.
Zu den bekanntesten Orakelstätten in Griechenland gehört zweifellos das Orakel von Delphi, wo der Gott Apoll dem einzelnen Bittsteller über sein Medium - die Phythia - die berühmten Orakelsprüche erteilte. Die genaue Technik mit der die Pythia ihre Antworten von Apoll erhielt, ist nicht überliefert, doch muss es sich um eine seherische Methode gehandelt haben, ähnlich wie bei einem Propheten.(2) Der wesentliche Unterschied zwischen Orakel und Weissagung besteht jedoch darin, dass ein Orakel im Regelfall nicht von sich aus, sondern immer nur auf Anfrage Auskunft erteilte, so dass es bedingt durch die Fragestellung in seiner Voraussage inhaltlich wie zeitlich begrenzt war. Zur Befragung eines Orakels bediente man sich ferner in fast allen Fällen einer bestimmten Technik, die mehr oder weniger lernbar ist, um eine Antwort des Orakels zu erhalten. Für die Abgrenzung von Wahr- und Weissagung heißt das, dass es sich bei der Weissagung um eine spontane Vorhersage der Zukunft handelt, die sich, da ihr keine Fragestellung vorgegeben ist, auf einen beliebigen Zeitraum mit beliebigem Inhalt erstrecken kann. Eine derartige Vision entsteht also im Regelfall ohne äußeren Zwang, und ohne, dass der Prophet eine bewusste Anstrengung unternehmen müsste. Meist handelt es sich bei Weissagungen um die Zukunft von wichtigen politisch-historischen Persönlichkeiten oder gar Völkern bzw. ganzen Staatsgebilden, bis hin zum politischen Verlauf des gesamten Weltgeschehens, wie z.B. bei den Weissagungen des Nostradamus.
Natürlich beschäftigte sich die Wahrsagung ursprünglich ebenfalls hauptsächlich mit den Anliegen wichtiger Persönlichkeiten oder mit politischen Fragestellungen, doch während sich im Bereich der Wahrsagung seit ihren Anfängen bis in die jüngste Zeit hinein sehr differenzierte Methoden, die sich immer mehr auf die Interessen des Einzelnen konzentrierten, entfalten konnten, ist in der historischen Entwicklung der Weissagung keine wesentliche Veränderung festzustellen; denn ihrem Wesen nach handelt es sich bei der Weissagung ja nicht um eine Technik, sondern um die Gabe bzw. Veranlagung, die Zukunft vorherzusehen, die nicht mit technischen Mitteln herbeigeführt werden kann. Ferner bedient sich die Weissagung ausschließlich der seherischen Methode, bei welcher das Medium bzw. der Prophet beispielsweise im Traum oder im Zustand der Trance die Zukunft voraussieht, es handelt sich also um die Fähigkeit, Raum und Zeit zu relativieren. Die seherische Methode findet zwar auch im Rahmen der Wahrsagung Anwendung, doch bezieht sie sich, eben weil sie immer eines Auslösers in Form einer Frage bedarf, nur auf bestimmte zeitlich und räumlich begrenzte Inhalte.
Es bleibt festzuhalten, dass die Wahrsagung, deren älteste überlieferte Form sich im Orakel manifestiert, sich zwar in Anlehnung an die Weissagung in Form von prophetischen Texten herausgebildet hat, dass sie jedoch, bedingt durch die stetige Vermehrung unterschiedlichster Techniken, die mit einer konstant zunehmenden Popularität bis hin zur Profanisierung derselben einherging, im Hinblick auf ihr Ziel und ihren Inhalt von der Weissagung zu unterscheiden ist. Um die Wahrsagung von der Weissagung deutlich und differenziert abgrenzen zu können, wird im folgenden ein kurzer Überblick über die wichtigsten Praktiken und Komponenten der Wahrsagung gegeben.
Praktiken und Komponenten der Wahrsagung
Die Fragestellung, ob und inwieweit das Leben des Einzelnen sowie das gesamte Weltgeschehen vorherbestimmt und für den Menschen erkennbar werde, ist natürlich eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der unterschiedlichen Wahrsagesysteme. Auf den entscheidenden Einfluß, den das jeweilige philosophisch-religiös geprägte