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Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein: Warum wir kein Haufen Neuronen sind - und was wir dann sind
Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein: Warum wir kein Haufen Neuronen sind - und was wir dann sind
Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein: Warum wir kein Haufen Neuronen sind - und was wir dann sind
eBook249 Seiten2 Stunden

Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein: Warum wir kein Haufen Neuronen sind - und was wir dann sind

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Über dieses E-Book

Die Hirnforschung will uns weismachen, dass wir Biomaschinen ohne freien Willen sind. Doch offenbar sind unsere geistigen Erlebnisse mehr als ein bloßes Hirngespinst, schließlich können wir fühlen und denken. Ja, das Leib-Seele-Problem ist vertrackt: Wie entsteht aus Materie Bewusstsein? Nun, es kann gar nicht "plopp" machen, so dass plötzlich der Geist vom Himmel fällt. Vielmehr sind geistige Eigenschaften schon immer da, überall. Jedes noch so kleine Atom birgt geistige Eigenschaften. Kann es denken und fühlen? Nein, der Panpsychismus hat mit Esoterik-Kitsch nichts am Hut. Es gibt im Universum eine graduelle Ordnung: Je komplexer ein Ding in materieller Hinsicht ist, desto komplexer ist es in geistiger Hinsicht. Deshalb haben nicht nur der Mensch, sondern auch Pflanzen und Tiere ein bemerkenswertes Innenleben. Der Panpsychismus deckt sich dabei mit den neuesten Erkenntnissen der Pflanzenneurobiologie und der Quantenphysik – er führt zu verblüffenden Einsichten und krempelt den Mainstream-Materialismus kräftig auf links.

"Wer sich mit dem Ursprung des Geistes beschäftigt, muss dieses Buch lesen. Ein ganz grandioses Bild der Brücke vom Geist zur Materie und zurück."
Harald Lesch
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum9. Sept. 2016
ISBN9783741849046
Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein: Warum wir kein Haufen Neuronen sind - und was wir dann sind

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    Buchvorschau

    Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein - Patrick Spät

    Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein

    Warum wir kein Haufen Neuronen sind – und was wir dann sind

    Patrick Spät

    Patrick Spät, geboren 1982, hat 2010 in Philosophie an der Universität Freiburg promoviert. Er lebt in Berlin als freier Buchautor und Journalist (u. a. für Telepolis, Spektrum der Wissenschaft und Zeit Online). Zuletzt erschienen von ihm im Rotpunktverlag die Bücher Und, was machst du so? und Die Freiheit nehm ich dir.

    Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine überarbeitete und aktualisierte Neuauflage meines Buchs:Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein. Wie der Geist in den Körper kommt, Berlin: Parodos 2012.

    1. Auflage 2016

    © 2016, Patrick Spät

    https://patrickspaet.wordpress.com/

    epubli, Berlin

    ISBN: 978-3-7418-4904-6

    Inhaltsverzeichnis

    I Einleitung: Manche mögen’s neuro

    II Warum wir kein Haufen Neuronen sind …

    1. Willensfreiheit: Pizza oder Nudeln?

    2. Neurowahn und Materialismus

    3. Was ist Materie?

    4. Die Landkarte ist nicht das Gelände

    5. Baron Münchhausen

    6. Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?

    7. Auf der Suche nach dem verlorenen Leib

    8. Geist = Gehirn?

    9. Wein aus Wasser? Die Emergenztheorie

    III … und was wir dann sind

    1. Panpsychismus

    2. Tote Materie?

    3. Erleben, ohne es zu merken

    4. Geiststaub – der Zement des Universums

    5. Woher kommen unsere Erlebnisse?

    6. Hat mein Tisch Gefühle?

    7. Das Komplexitäts-Bewusstseins-Gesetz

    8. Frankensteins Monster: Was ist Leben?

    9. Macht oder Ohnmacht des Geistes?

    IV Dr. Jekyll und Mr. Hyde

    Anmerkungen

    I Einleitung: Manche mögen’s neuro

    Julie: Du kennst mich Danton.

    Danton: Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: Lieber Georg. Aber (er deutet ihr auf Stirn und Augen) da da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.

    Georg Büchner: Dantons Tod[1]

    Wer sind wir? Eine riesengroße Frage der Menschheit, die immer mehr Hirnforscher auf einen klitzekleinen Nenner bringen wollen: »Wer sind Sie? Sie sind Ihre Synapsen. Aus ihnen besteht Ihr Selbst«, behauptet zum Beispiel der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux.[2] Solche Thesen klingen provokant, bei näherem Hinsehen entpuppen sie sich als ziemlich inhaltsleer. Denn mit der Behauptung, dass alles »neuro« sei, lässt sich kein Blumentopf gewinnen und erst recht nicht Dantons Frage beantworten, was die Persönlichkeit des Menschen ausmache. Die heutigen Neurowissenschaftler bemühen sich eifrig, die Welt des Geistes aus den Hirnfasern zu zerren. Aber sie tappen im Dunkeln. Das Leib-Seele-Problem war, ist und bleibt ein Mysterium.

    Sind wir unsere Synapsen? Ist der Mensch eine rein materielle Biomaschine? Oder ist dem Menschen etwas Geistiges eigen, das über das bloße Neuronenflackern hinausreicht? Diese Fragen zielen auf das Leib-Seele-Problem ab: Auf welche Weise kann unser Körper unser bewusstes Erleben hervorbringen? Um es in der alltäglichen Sprache zu formulieren: Wie kann der Körper unser bewusstes Erleben hervorbringen, wie kann aus grau-weißer Hirnmasse unsere bunte Erlebniswelt aus Gedanken und Gefühlen entspringen?

    Nach Ansicht vieler Materialisten lässt sich die gesamte Welt des Geistes auf das Verhalten von Neuronen reduzieren. Der Mensch ist demnach nichts weiter als ein Materiehaufen – und die Eigenschaften dieser Materie können wir angeblich mit dem Werkzeug der Naturwissenschaften entschlüsseln. Der Biologe und Nobelpreisträger Francis Crick schildert uns die Quintessenz dieser Weltanschauung:

    »Sie, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen. […] Sie sind nichts weiter als ein Haufen Neuronen.«[3]

    Wenn das die Lösung ist, dann will ich mein Problem zurück. Wie um alles in der Welt können unsere »Freuden und Leiden« ein Haufen Neuronen sein? Sollte Crick recht haben, könnten wir die Welt des Geistes tatsächlich »aus den Hirnfasern zerren«. Ja, es gäbe gar keine geistigen Eigenschaften mehr – es gäbe nur noch Neuronen. Das gesamte Universum wäre nichts anderes als ein gigantisches, nach präzisen Mechanismen laufendes Uhrwerk. Sämtliche Eigenschaften des Universums würden sich in exakten mathematischen Gesetzen erschöpfen und seine Bewohner, also alle Lebewesen, wären nichts anderes als dumpfe Biomaschinen. Gefühle, Träume und Gedanken hätten in diesem Uhrwerk keinen Platz, denn alles, was in der Wirklichkeit geschieht, ließe sich lückenlos durch die Naturwissenschaften beschreiben und erklären. Wenn dem so wäre: Wo im Gehirn lassen sich unsere Gedanken und Gefühle finden?

    Der Philosoph Gottfried W. Leibniz (1646–1716) hat dieses Problem in seinem Mühlen-Gedanken-experiment treffend umschrieben: Stellt man sich den Körper eines fühlenden und denkenden Organismus als eine Mühle vor, so wird man, wenn »man sie von innen besichtigt, nur Teile finden, die sich gegenseitig stoßen, und niemals etwas, das eine Perzeption erklären könnte.«[4] Eine Perzeption ist nichts anderes als eine Wahrnehmung. Wenn wir uns in den Finger schneiden, haben wir eine Perzeption des stechenden Schmerzes. Die zentrale Einsicht von Leibniz besteht darin, dass sich die Eigenschaften des Geistes nicht durch den naturwissenschaftlichen Blick einfangen lassen.

    Neurowissenschaftler können das Gehirn vermessen und mit technischen Apparaten beobachten. Doch unseren stechenden, pochenden Schmerz können sie nicht im Gehirn entdecken: Könnten wir das vergrößerte Gehirn eines Menschen betreten, der gerade große Schmerzen hat, so würden wir lediglich Abermillionen von Neuronen und Synapsen sehen, die chemische und elektrische Signale austauschen – aber das pochende und brennende Wesen des Schmerzes würden wir nirgendwo ausfindig machen. Man kann Schmerzen nicht einfach unter dem Mikroskop oder im Hirnscanner »sehen«, man kann sie nur selbst erleben. Der menschliche Geist hat also Eigenschaften, die durch das Netz der Naturwissenschaften fallen.

    Der »Mainstream« der gegenwärtigen Hirnforschung und Philosophie ignoriert die bunte Welt des Geistes. Er passt nicht so recht in die Welt der Physik, in der alles mit mathematischen Formeln erklärbar ist. Und was nicht passt, wird passend gemacht: Materialisten versuchen, die bunte Welt des Geistes auf eine graue Theorie zu reduzieren. Das ist natürlich ein absurdes Ziel: Wie sollen wir beispielsweise das Gefühl der Liebe in der Sprache der Mathematik formulieren? Ist 1 + 1 = Liebe?

    Der Materialist ist quasi dazu verdammt, mit solchen mathematischen Formeln zu arbeiten. Er könnte ja auch behaupten, dass Liebe nichts anderes sei als ein Hormon-Cocktail oder eben ein Neuronengewitter – und somit ein rein materielles Phänomen. Doch all diese Reduzierungen sagen bei näherer Betrachtung nicht viel aus: Denn der Materialist kann uns nicht sagen, was ein Hormon ist, was ein Neuron ist und was schließlich Materie ist. Über das Wesen der Dinge muss die Naturwissenschaft schweigen; sie kann nur mit Formeln arbeiten.

    Wenn wir dem Leib-Seele-Problem auf die Schliche kommen wollen, dann dürfen wir nicht die Welt des Geistes zurechtstutzen. Vielmehr sollten wir unsere materialistische Weltsicht überprüfen. Denn wenn wir unsere Erlebnisse mit einer abstrakten grauen Theorie nicht erklären können, dann müssen wir nicht die bunten Erlebnisse ändern (oder wegerklären oder auf bloße Materie reduzieren), sondern wir müssen die graue Theorie ändern. Jede Theorie, die zugleich die gesamte Wirklichkeit erklären und das bewusste Erleben ausklammern will, ist ein Widerspruch in sich. Denn unsere unmittelbaren Erlebnisse sind zum einen unser einziger Zugang zur Wirklichkeit, zum anderen sind sie uns unbezweifelbar gegeben: Wir können nicht ernsthaft daran zweifeln, dass wir irgendetwas erleben, während wir diese Zeilen lesen.

    Wenn sich aber das Geistige weder leugnen noch naturwissenschaftlich erklären lässt, dann bedarf es alternativer Lösungen für das Leib-Seele-Problem. Statt dem Geistigen seine ihm ureigenen Eigenschaften streitig zu machen, um das Leib-Seele-Problem aufzulösen, muss es vielmehr in unser Bild der Wirklichkeit integriert werden.

    Das ist leichter gesagt als getan. Aber ich möchte es versuchen, indem ich für einen »Graduellen Panpsychismus« argumentiere: Alle Dinge des Universums haben geistige Eigenschaften. Jedes noch so kleine Atom birgt einen Hauch von Geist. Das klingt auf den ersten Blick ziemlich abwegig: Können dann Atome Schmerzen fühlen? Ganz so grotesk und simpel ist es nicht – trotzdem finden wir diese Behauptung leider in vielen Schriften und Lexika. Ein Beispiel: »Panpsychismus […], Lehre, nach der alles beseelt ist; genauer die Lehre, daß im Universum alles eine psychische Natur besitzt, die jener des Menschen analog ist.«[5]

    Der Panpsychismus hat mit derartigem Esoterik-Kitsch nichts am Hut. Natürlich hat das Blatt Papier (oder das E-Book), das Sie gerade lesen, keine Gefühle. Ich möchte solche Vorurteile entkräften, indem ich eine plausible Form des Panpsychismus entwickle: Die Kernthese dieses Ansatzes besagt, dass in der Wirklichkeit eine graduelle Ordnung des Geistigen vorliegt, die mit der Komplexität der materiellen Dinge und der lebenden Organismen kontinuierlich zunimmt. Auf der Ebene der Atome gibt es demnach nur eine äußerst simple und einfache Form des Geistigen, aber keinerlei bewusstes Erleben, das dem unseren »analog« ist. Erst durch komplexere Anordnungen der Materie – wie sie bei Lebewesen anzutreffen sind – können sich parallel dazu auch komplexere Formen des Geistigen entwickeln: Je komplexer ein Ding in materieller Hinsicht ist, desto komplexer ist es in geistiger Hinsicht. Deshalb haben Sie Gefühle und Gedanken – Ihre Zahnbürste und Ihr Auto aber nicht.

    Wir müssen den gegenwärtigen Neurowahn hinter uns lassen und neue Gedankenwege beschreiten: Die moderne Physik, aber auch philosophische Überlegungen führen zu einem neuen Verständnis der Materie: Die fundamentale Trennung von geistigen und materiellen Eigenschaften ist ein Teil des Problems, nicht aber ein Teil seiner Lösung. Es ist an der Zeit, dass zusammenwächst, was zusammengehört: Körper und Geist sind aufs innigste miteinander verbunden. Es ist nicht so, dass wir nur aus toter Materie bestehen. Es ist aber auch nicht so, dass wir einen Geist haben, der engelsgleich umherschwebt und unsere »Maschine« namens Körper steuert. Der Geist ist schon in der Materie, er gehört zur Materie wie das Holz zum Baum.

    II Warum wir kein Haufen Neuronen sind …

    1. Willensfreiheit: Pizza oder Nudeln?

    Ohne das Faktum Bewußtsein wäre das psychophysische Problem weit weniger interessant; mit ihm aber scheint es hoffnungslos.

    Thomas Nagel[6]

    Wenn Sie von einem Freund zum Essen eingeladen werden, Sie schließlich im Restaurant sitzen und die Bedienung fragt, was Sie zu essen wünschen, so werden Sie sicherlich nicht antworten: »Hm, einen kleinen Moment noch bitte. Wissen Sie: Ich bin überzeugter Materialist, und deshalb muss ich abwarten, für welches Essen sich mein Gehirn entscheidet.« Kurz gesagt: Sie selbst werden sich für das Essen Ihrer Wahl entscheiden, und Sie werden dabei keinen Zwang vonseiten Ihres Gehirns spüren. Nicht Ihr Gehirn, sondern Sie bestimmen, ob Sie Pizza oder Nudeln bestellen.

    Natürlich ist unser Wille nicht vollkommen losgelöst von unseren Empfindungen, Erwartungen, Erinnerungen und Phantasien, die sowohl bewusst als auch (weit häufiger) unbewusst im Gehirn gespeichert und verarbeitet werden: Wenn Sie Vegetarier sind, werden Sie sicherlich eine fleischlose Speise bestellen. Wenn Ihr Körper unterzuckert ist, werden Sie vielleicht gleich einen süßen Nachtisch ordern. Wenn Sie das Restaurant kennen, werden Sie sich vielleicht daran erinnern, dass die Nudeln ziemlich miserabel schmecken. Und wenn Ihr Freund Sie einlädt, dann werden Sie aus Rücksicht auf dessen Geldbeutel vielleicht keine Pizza mit teuren Trüffeln, sondern eine mit Broccoli bestellen. So etwas wie eine absolute »Handlungsfreiheit« gibt es selten. Das heißt, Sie können nur selten all das machen, was Sie wollen. Wenn Sie fliegen wollen, sind Sie in Ihrer Handlungsfreiheit beschnitten, da Sie keine Flügel haben. Von der »Willensfreiheit« hingegen können wir nur dort sprechen, wo es Spielräume für mögliche Handlungen gibt. Wir haben dann aus freien Stücken gehandelt, wenn wir auch anders hätten handeln können. Wenn wir doch die teuren Trüffel bestellen, dann haben wir zwischen möglichen Alternativen ausgewählt. Selbst dann, wenn man sich der Erklärung dieser Wahl mit neurowissenschaftlichen Theorien annähert, verbleibt dennoch das unauslöschliche Gefühl, dass wir es sind, die da entscheiden.

    Der springende Punkt ist der: Selbst wenn materielle Mechanismen den Verlauf der Welt unausweichlich festlegen, spüren wir nichts von diesem »Zwang«. Wenn wir eine Entscheidung treffen, fühlen wir keinen Zwang des Hirns, wir fühlen uns frei. Und dieses Gefühl ist keine Illusion, sondern für uns unbestreitbar real. Kein Hirnforscher kann Ihnen einreden: »In Wirklichkeit fühlen Sie sich ja gar nicht frei!« Es ist ziemlich schleierhaft, auf welche Weise uns die Hirnforschung überzeugend zeigen will, dass wir unfrei sind. Denn in der Tat fühlen wir uns frei. Angenommen wir wären Biomaschinen: Weshalb hat sich dann

    »Mutter Natur« die großartige Mühe gemacht, uns dermaßen zu täuschen? Warum fühlen wir uns nicht einfach unfrei und eingeschraubt in die Naturgesetze? Warum sind wir keine passiven Zuschauer unseres aktiven Gehirns?

    Irgendetwas muss dran sein an der Willensfreiheit. Jedenfalls können wir unsere Willensfreiheit weder naturwissenschaftlich beweisen noch widerlegen. Deshalb werden wir trotz aller neurowissenschaftlichen »Erkenntnisse« stets so handeln, als wären wir frei. Und deshalb werden wir weiterhin Verbrecher schuldig sprechen, wenn sie eine Straftat begangen haben. Die Soziologie weiß auch, weshalb.

    Das von William Thomas und seiner Frau Dorothy Thomas 1928 formulierte »Thomas-Theorem« passt da wie die Faust aufs Auge: »Wenn die Menschen Situationen als real definieren, dann sind sie in ihren Folgen real.«[7] Menschen reagieren nur selten auf die nackten Fakten, also die objektiven Gegebenheiten einer Situation; vielmehr reagieren sie auf ihre subjektive Wahrnehmung und Deutung dieser Situation. Jemand könnte – zum Beispiel in einer öffentlichen Debatte darüber, ob die Gewaltrate in Großstädten zunimmt oder nicht – noch so sehr dafür plädieren, dass es ziemlich ungefährlich ist, nachts im Berliner Stadtteil Neukölln oder im New Yorker Brooklyn spazieren zu gehen, und hierzu auch allerlei Statistiken und Fakten anführen; sobald bei einem Individuum oder gar einer sozialen Gruppe das subjektive Gefühl besteht, dass ein solcher Spaziergang höchst gefährlich ist, wird sie auch mit dieser Intuition argumentieren und schließlich nach ihr handeln. Im Kern besagt das Thomas-Theorem also, dass eine Situation objektiv noch so eindeutig analysierbar sein kann – die subjektive Wahrnehmung entscheidet darüber, wie Menschen wann, wo und auf welche Weise handeln.

    Gleiches gilt für die Neurowissenschaften: Materialistisch gesinnte Hirnforscher können in den Medien noch so sehr dafür plädieren, dass unser Menschenbild der Willensfreiheit auf die Mülldeponie der Philosophiegeschichte gehört; die Menschen werden weiterhin so handeln, als wären sie frei. Im Grunde ist die Frage nach der Willensfreiheit für unsere alltägliche Lebenswelt also ziemlich irrelevant. Die Hirnforschung kann noch so sehr behaupten, dass wir keinen freien Willen haben, dass wir berechenbare Bioroboter sind und dass wir schleunigst unser Menschenbild auf den Kopf stellen müssen – wen kümmert’s? Wir haben die Frage schon längst für uns entschieden: Wir fühlen uns frei. Wir sind frei.

    Natürlich tappen nicht alle Neurowissenschaftler in diese Falle. Aber schon jetzt fordern Hirnforscher wie Wolf Singer, dass wir unseren Rechtsstaat auf links drehen sollen: Wie können wir Straftäter schuldig sprechen, wenn doch nicht ihr freier Wille, sondern ihr Gehirn sie zu ihren Verbrechen getrieben hat? Sitzen bald Hirnforscher statt Juristen in unseren Gerichtssälen? Nein. Kein Hirnforscher der Welt kann die Macht des Geistes zu einer Ohnmacht erklären. Eine Studie des amerikanischen Moralpsychologen Eddy Nahmias zeigt auf anschauliche Weise, dass die Diktatur des Hirns – wenn es sie denn überhaupt gibt – unserem Menschenbild recht wenig anhaben kann. Bei dem Experiment wurde US-amerikanischen Philosophiestudenten im ersten Semester, die mit der Debatte um die Willensfreiheit noch nicht vertraut waren, das folgende Szenario dargeboten:[8]

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