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Fliederduft und Klassenfrust
Fliederduft und Klassenfrust
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eBook200 Seiten2 Stunden

Fliederduft und Klassenfrust

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Über dieses E-Book

Was geschieht, wenn sich zwei junge Menschen ineinander verlieben, die unterschiedlichen sozialen Schichten angehören? Wenn sie überraschend und unvorbereitet Eltern werden? Und wenn sie dann trotz aller Widerstände zusammenbleiben und ihr Kind gemeinsam großziehen wollen?
Die Geschichte von Marie und Tim ist eine moderne Romeo- und Julia-Geschichte. Die beiden jungen Liebenden Tim und Marie sterben jedoch keinen tragischen Liebestod wie dieses berühmte Paar, sondern sie entscheiden sich für ein gemeinsames Leben zu Dritt - mit ihrer Tochter Tina, die Marie als Schülerin zur Welt bringt. Dabei haben sie viele Hürden zu nehmen und Widerstände zu überwinden. Die Kluft zwischen Ange-hörigen der Unter- und Oberschicht heute ist vergleich-bar mit der Feindschaft der Adelsgeschlechter, denen Romeo und Julia damals, vor Jahrhunderten, angehörten.
Diese Geschichte spielt in einer mittelgroßen süd-deutschen Stadt. Jede Ähnlichkeit mit dort lebenden Menschen ist rein zufällig. In jeder Stadt gibt es vermutlich Jugendliche, die unter den Anforderungen der Schule stöhnen. In diesem Alter werden dort die Weichen für ihre Zukunft gestellt. Gleichzeitig stecken sie mitten in ihren Liebes- und Beziehungskonflikten, die sie durchleben und lösen müssen - so oder so….
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Nov. 2021
ISBN9783347410053
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    Buchvorschau

    Fliederduft und Klassenfrust - Inge Diederichs

    Teil I – Der Fliederbusch

    1. Eine Menschenmenge wälzte sich durch die Hauptstraße, Tim mittendrin. Gemurmel und Gelächter in vielen Sprachen. Gerade zog eine asiatische Touristengruppe an Tim vorbei zum nächsten Fotostopp.

    Für Tim bot die Altstadt keinerlei Überraschungen. Nirgendwo konnte er so schön allein sein wie hier. Er sah die luftig gekleideten Menschen an sich vorbeiziehen. Sie redeten und schimpften mit ihren quengeligen Gören in vielen Sprachen. Es wurde gelacht, gezetert und gedrängelt. Fast alle diese Leute waren paarweise oder als Familien unterwegs.

    ‚Wie das wohl wäre, eine Familie zu haben?‘, fragte sich Tim. Menschen wie er, die total allein waren, fielen hier in dem anonymen Menschenstrom nicht auf. Seine Außenseiterrolle hatte auch Vorteile. Er brauchte sich nach niemandem zu richten, und niemand scherte sich darum, was er tat oder nicht tat.

    Er wünschte sich weit fort, am besten nach Singapur oder Peking! Zwar wusste er nicht, wo das lag, aber die exotischen Städtenamen gefielen ihm. ‚Einmal eine Weltreise machen!‘, träumte er vor sich hin. Heraus aus der Enge seines Hochhaus-Viertels, wo man zwar eine herrliche Sicht auf die Rheinebene mit dem Zementwerk hatte, wo aber von internationalem Flair nichts zu spüren war. Auch dort kamen die Mitbewohner und Mitbewohnerinnen aus vielen Ländern. Doch ein friedliches Zusammenleben sah anders aus. Es gab dort Jugendgangs, die sich zusammengeschlossen hatten gegen Deutsche wie Tim, die immer Ärger machten und die man in ihre Schranken verweisen musste!

    Tim ging eigentlich keinem Ärger aus dem Weg. Auch nicht auf dem Schulhof, wo er sie alle wiedertraf. Oder im Treppenhaus, wo ihm schon mal einer den Arm ausgekugelt hatte, weil er ihn über das Geländer stoßen wollte. ‚Na warte‘, hatte sich Tim gesagt und diesem Schläger bei nächster Gelegenheit eine Serie von Tritten verpasst, die ihn alt aussehen ließen, besonders im Gesicht, genauer gesagt um das gebrochene Nasenbein herum.

    Doch hier, in der Altstadt, der Rennmeile für Touristen, fühlte er sich wohl. Nirgendwo konnte Tim so viel internationale Atmosphäre schnuppern wie im Zentrum dieser Stadt, wo er alle möglichen Sprachen hörte und manchmal von Touristinnen offen angemacht wurde. Seine strohblonden Haare mit dem Sidecut, seine lässige Art sich zu bewegen, sein sehenswertes Sixpack erregten Aufmerksamkeit.

    Tim witterte umher, entdeckte zwei Mädchen, die sich wie er in der Menschenmenge treiben ließen. Gemeinsam schlenderten sie die Hauptstraße entlang, jede ein Eis in der Hand. Sie drängelten sich ins Innere eines Zuschauerkreises, der sich um zwei Hip-Hopper gebildet hatte. Diese machten viel Lärm mit ihrem Ghettoblaster. Die beiden Mädchen hatten Spaß, das konnte Tim aus sicherer Entfernung beobachten. Sie lachten und steckten die Köpfe zusammen.

    Tim postierte sich auf der anderen Seite des Kreises, den Mädchen gegenüber, um sie besser beobachten zu können. Besonders die eine faszinierte ihn, die mit dem auffallend roten Haar und dem ausgelassenen Lachen. Er konnte nicht aufhören, sie über den Zuschauerkreis hinweg zu beobachten und ihre gute Laune in sich aufzusaugen. Sie fühlte sich plötzlich angestarrt und wurde rot, fast so rot wie ihr langes Haar. Ab und zu riskierte sie einen Blick zu ihm hinüber, wandte sich dann aber hastig ab.

    Noch ehe sie eine Bemerkung mit ihrer Freundin über den Jungen austauschen konnte, der sie so unverschämt anstarrte, hatte der sich durch den Zuschauerkreis in die Mitte gedrängt und fing mit den anderen beiden Hip-Hoppern an zu tanzen. Diese schienen ihn zu kennen. Sie zogen sich zurück und überließen ihm den Platz im Kreis.

    Er legte ein Feuerwerk von Verrenkungen auf das Pflaster, vollführte Flic-Flacs in rasendem Tempo und drehte sich minutenlang auf dem Kopf. Die Zuschauer applaudierten, und den beiden Mädchen blieb der Mund offenstehen.

    So schnell wie Tim aufgetaucht war, klatschte er seine Kumpels ab und verschwand aus dem Zuschauerkreis - nicht ohne die Wirkung abzuchecken, die seine Tanzeinlage bei den beiden Freundinnen hinterlassen hatte. Die Rothaarige stand da und starrte ihm nach. Deshalb bemerkte sie die Hand nicht, die sich an ihrer Jeanstasche zu schaffen machte und ihr das Handy herauszog.

    Plötzlich gab es ein Gerangel hinter ihrem Rücken. Sie drehte sich um. Da sah sie den fremden Hip-Hopper ganz nah hinter sich. In der einen Hand hielt er ihr Handy, mit der anderen umklammerte er das Handgelenk eines kleinen Burschen, der kreischte und zappelte und sich seinem Griff entwinden wollte. Der Kleine war augenscheinlich Mitglied einer Straßenbande, die es auf die Taschen der Zuschauer abgesehen hatte. Er boxte und trat um sich, bis er freikam, und war blitzschnell verschwunden.

    Tim und das Mädchen standen sich gegenüber. Ganz nah. Wie gut sie roch! Der Duft ihres Haars stieg ihm in die Nase. Er blickte sie verlegen an und gab ihr mit einer kleinen ironischen Verbeugung das Handy, das beinahe Beine bekommen hätte. Sie starrte in sein Gesicht unter der blonden Haartolle. ‚Sie hätte sich ja mal bedanken können!‘, dachte er. Doch sie war rot geworden und brachte kein Wort heraus.

    Verlegen griff sie nach dem Handy und verstaute es in ihrer kleinen Handtasche. Nachdem sie genug herumgenestelt hatte, fand sie ihre Sprache wieder.

    „Na, du bist wohl einer von der Zivilstreife! Wusste gar nicht, dass bei euch Hip-Hop zur Grundausbildung gehört!"

    „Und du läufst durch die Gegend und merkst nicht, wenn dir einer an den Hintern fasst!"

    „Pass auf, was du sagst! Wenigstens hast du dem kleinen Mistkerl mein Handy abnehmen können."

    Nun wussten beide nicht weiter. Jule bemerkte, wie sie sich anstarrten und ihre Blicke nicht voneinander lösen konnten. Zwischen ihnen knisterte es.

    Jule wurde die Sache zu heiß. Sie fasste nach Maries Arm, um sie mit sich fortzuziehen.

    „Na, komm jetzt, Marie. Ist ja noch mal gut gegangen.!"

    „Du heißt Marie?", fragte Tim.

    „Und weiter?"

    „Geht dich nichts an!"

    „Ey, was soll’n das? Ich hab‘ dir grad dein Handy gerettet! Und was krieg ich dafür?"

    Marie wurde dunkelrot. Tim stand nah vor ihr, kam noch näher. Da gab Marie ihm einen schnellen Kuss auf die verschwitzte Wange. Dann drehte sie sich schnell um und wollte verschwinden.

    „Halt! Du kannst doch jetzt nicht einfach abhauen?"

    Marie war die ganze Szene peinlich, besonders da Jule dabeistand und anzüglich grinste. Tim verstellte Marie den Weg. Er war genauso dunkelrot geworden wie sie.

    „Gibst du mir wenigstens deine Handy-Nummer?"

    Er zog einen Kugelschreiber aus seiner Jeanstasche und hielt Marie seine schmutzige Handfläche hin.

    Wortlos nahm Marie seine Hand und schrieb ihm ihre Handynummer in die Handfläche. Sie wusste selbst nicht, warum sie das tat.

    Als ihre Finger seine Hand berührten, fühlte er einen elektrischen Schlag. Auch sie zuckte zusammen. Gern hätte er sie nochmal berührt, um diesen Schlag ein zweites Mal zu spüren.

    Doch dann machte er, dass er wegkam. Er verschwand in der Menge. Weiter oben in der Hauptstraße sprang er auf einen Bauzaun und balancierte darauf ein paar Meter weit herum, was ihm dank seines Trainings in Parkour nichts ausmachte. Er sprang hoch, drehte sich um die eigene Achse, fing sich wieder und sah aus den Augenwinkeln, wie die beiden Mädchen ihm mit ihren Blicken folgten. Dann sprang er vom Zaun herunter und tauchte im Strom der Passanten unter.

    2. Als Tim am späten Nachmittag nach Hause kam, legte er sich auf sein Bett und döste vor sich hin. Ausnahmsweise hatte er sein Zimmer, in dem außer ihm noch zwei jüngere Zimmergenossen schliefen, einmal für sich. Er verfiel in einen unruhigen Halbschlaf. Zwei Lippen in Übergröße kamen auf ihn zu und knutschten ihn ab, eine Hand wuschelte zärtlich durch sein verschwitztes Haar, und eine Stimme, die er seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte, sagte zu ihm: ‚Timmie, wo bist du denn die ganze Zeit gewesen?‘ Da schreckte er hoch und musste auf einmal weinen.

    Verdammt, was war nur mit ihm los? Er hatte von seiner Mutter geträumt. Das war ihm lange nicht mehr passiert. Auch geweint hatte er nicht mehr, seit er ins Bett gemacht hatte und dafür von dem schrägen Typen, bei dem seine Mutter damals wohnte, eine dicke Tracht Prügel kassiert hatte – zu heftig sogar für einen zähen kleinen Kerl wie ihn, der sich das Weinen von Anfang an abgewöhnt hatte. Denn seine frühesten Erfahrungen hatten ihn gelehrt: Entweder hörte ihn niemand, wenn er weinte, oder er bekam eine extra Strafe für das Weinen – also ließ er es lieber bleiben.

    Er wollte sich gerade mit der flachen Hand durchs Gesicht fahren und seine Tränen abwischen – da fiel sein Blick auf die Telefon-Nummer in der Innenseite seiner Hand. Sie fing auf einmal entsetzlich an zu jucken. Nun war an Schlafen nicht mehr zu denken. Er tastete nach dem Handy neben seinem Bett.

    Die anderen Jungs waren draußen beim Fußballspielen, aber er hatte heute keine Lust, sich zu bewegen. Das war neu für ihn, denn normalerweise war er den ganzen Nachmittag auf Achse. Er traf seine Kumpels auf dem Spielplatz, wo sie die Mütter und ihre Kleinen erschreckten, oder sie kickten rücksichtslos einen Ball durch die Gegend. Wenn es Gezeter und Proteste gab, umso besser. Dann lachten sie und verschwanden um die nächste Ecke.

    Tims Gedanken wanderten zu der Begegnung in der Hauptstraße. Wenn er die Augen schloss, sah er ein Mädchengesicht vor sich mit großen, erstaunten Augen. Sie blickte ihn einen endlos langen Augenblick zärtlich an. Tim kostete den Augenblick in seiner Erinnerung aus. Er spürte noch die leichte Berührung ihrer Finger, als sie ihm ihre Handynummer in die Handfläche schrieb. Selbstverständlich hatte er sich seine Hände seitdem nicht mehr gewaschen. Und es juckte ihn in den Fingern, die Nummer endlich anzurufen, ehe sie unter Schweiß und Dreck verblasste.

    Doch eine Scheu, die er sonst nicht kannte, hielt ihn davon ab. ‚Die is sicher so ne eingebildete Zicke‘, dachte er bei sich. ‚Wahrscheinlich vom Gymnasium. So eine von den Superschlauen, die sich auf Lateinisch unterhalten!‘, dachte Tim bei sich. Er selber konnte nur Kurpfälzer Dialekt. Mit Hochdeutsch kam er sich schon komisch vor. Was sollte er mit der reden, ohne sich zu blamieren? Also ließ er sein Handy stecken und drehte sich zur Wand.

    Schließlich gab er sich einen Ruck, kehrte in die Gegenwart zurück und ging in die Küche. Dort machte er sich ein Butterbrot und sagte Bescheid, dass er erst spät nach Hause käme. Seine Pflegemutter, mit der Vorbereitung des Abendessens für sechs hungrige Mäuler beschäftigt, nickte nur und wischte sich die Tränen vom Zwiebelschneiden aus den Augen. Heute meckerte sie ihn ausnahmsweise einmal nicht an, dass er Küchendienst hätte und ihr mithelfen sollte, das Abendessen vorzubereiten.

    Tim zog sich im Flur die Sportschuhe an, schnappte sein Hoodie vom Haken und versenkte sein Handy in der Jeanstasche. Erst stand ein ‚Zug durch die Gemeinde‘ an, um zu sehen, wer alles unterwegs war. Er würde seine Kumpels auf dem Spielplatz treffen, mit ihnen ‚abhängen‘ und ein paar Leute ärgern. Es war ein beliebtes Spiel in seiner Clique, neben Parkour auch Freeclimbing zu trainieren. Dazu kletterten sie an den Fassaden der Hochhäuser in seinem Viertel hoch und erschreckten in den oberen Stockwerken die Bewohner auf ihren Balkonen. Doch heute hatte er dazu keinen Bock. Er schlurfte zum Spielplatz und setzte sich auf die Rückenlehne einer Bank. Bis spät in die Nacht saß er dort und brütete vor sich hin.

    Heute tauchte keiner seiner Kumpels auf. Vielleicht war es gut so.

    3. „Na, hat er angerufen?", fragte Jule gleich am nächsten Morgen, als Marie verschlafen um die Ecke kam. Sie hatten beide ein Stück weit den gleichen Schulweg und waren spät dran. Marie schwieg missgelaunt vor sich hin.

    „Nun sag schon!", bohrte Jule nach.

    „Ach, lass mich in Ruhe!"

    „Aber gefallen hat er dir! Das habe ich doch gesehen. Vielleicht hast du sogar von ihm geträumt?", stichelte die Freundin.

    Marie wurde rot. Jule hatte sie ertappt.

    „Er sah ja gar nicht so schlecht aus! Hast du seine Muckis gesehen?"

    „Verdammt Jule, hör auf! Sonst kommen wir noch zu spät! Wir schreiben ja heute den Latein-Test. Hast du den Text eigentlich verstanden?"

    „Nee!, sagte Jule fröhlich. „Aber ich habe eine prima Internetseite mit einer Wort-für-Wort-Übersetzung gefunden. Ich habe den Text ausgedruckt, und ein Exemplar habe ich für dich mitgebracht. Das lege ich in unser Versteck auf dem Klo.

    „Das ist ja Klasse!"

    „Aber nur, wenn du mir die Message von deinem Typen zeigst!"

    „Hör endlich auf damit, sagte Marie ärgerlich. „Erstens ist er nicht mein Typ, und zweitens hat er gar nicht angerufen!

    Jule kannte ihre Freundin gut genug, um die Enttäuschung in Maries Stimme zu hören. Sie legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie kurz an sich.

    „Wer weiß, wofür das gut ist. Du kennst ihn ja überhaupt nicht. Vielleicht war das einer aus dem Zirkus? So wie der auf dem Bauzaun balanciert hat!"

    Damit bogen sie in den Schulhof ein und stiegen bald darauf die breite Treppe hinauf, die schon Generationen höherer Söhne und Töchter ausgetreten hatten. Sowas nannte man Tradition.

    Für Maries Eltern, eine bekannte Familie in der Stadt, war es klar, dass nur diese Schule für Marie in Frage kam. Sie lernte eifrig und hatte offensichtlich das Grundgesetz der Familie Wilhelm begriffen: ohne Leistung keine Anerkennung, ohne Anpassung an die herrschenden Regeln keine Belohnung. Sie war selbst darauf bedacht, alles richtig zu machen und sich die Zuneigung ihrer Eltern durch gute Noten zu verdienen. Darüber musste nicht gesprochen werden, das verstand sich von selbst.

    Und Marie ‚lieferte‘. Sie strengte sich an, brachte in allen Fächern gute Zensuren nach Hause und genoss das Angebot, das ihre Eltern ihr darüber hinaus großzügig zur Verfügung stellten: Geigenstunden, Reiten und Ballett.

    Daneben blieb nur ab und zu Zeit für einen Stadtbummel mit ihrer engsten Freundin Jule, die aus einem ebenso exklusiven „Stall" kam wie sie selbst. Die beiden Mädchen verstanden sich gut und konnten durch ihre Freundschaft ab und zu den Druck unterlaufen, der unausgesprochen auf ihnen lastete: sich gut zu benehmen, gute Zensuren nach Hause zu bringen und gut auszusehen.

    4. „Na, Alter, hosch vielleischt schlescht g’schloofe hait?. Zwei gute Kumpels begrüßten Tim auf dem Weg zur Schule und gaben ihm ein paar freundschaftliche Faustschläge. „Mensch, losst misch hait blooß in Ruh!, blaffte Tim sie an, nickte ihnen mürrisch zu und schlurfte allein weiter.

    Tim war am Morgen wie zerschlagen aufgewacht. Er hatte ziemlich schlecht geträumt. Immer wieder war ein roter Pferdeschwanz vor ihm auf und ab gehüpft, und seine gewagtesten Parkour-Sprünge hatten nicht ausgereicht, ihn einzuholen. Plötzlich hatte sich der Pferdeschwanz in ein Eichhörnchen verwandelt, das an dem Baum vor seinem Fenster hochkletterte und ihn aus großen Augen ansah. Als er hinüberklettern wollte, klingelte sein Wecker. Er stürzte im Traum aus dem Fenster und landete unsanft auf dem Boden der Realität.

    Nun war es mit dem Träumen vorbei. Der verdammte Wecker neben seinem Bett hörte nicht auf zu klingeln. Voller Wut brachte er ihn mit einem Schlag zum Schweigen. Er wälzte sich aus dem Bett, taumelte in Richtung Bad, das wie immer besetzt war, verzichtete auf die Katzenwäsche und zog seine Lieblingsjeans an, die mit den großen Löchern am Knie. In der Küche, wo seine Pflegemutter

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