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Das Halsgericht zu Schöneck
Das Halsgericht zu Schöneck
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eBook474 Seiten6 Stunden

Das Halsgericht zu Schöneck

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Über dieses E-Book

Durfte eine erst 13-jährige, vermeintliche Brandstifterin zum Tode verurteilt werden?
Im Jahre 1697 brannte im vogtländischen Ackerbürgerstädtchen Schöneck ein Haus samt Scheune ab. Mehrere Zeugen beobachteten, wie Marie, ein Kindermädchen, in Panik aus dem brennenden Gebäude rannte. Flucht galt als Schuldeingeständnis. Marie wurde in der Fronfeste gefangen gesetzt. Zu Gericht saßen die Honoratioren der Stadt, die - teils um eigene Schuld zu vertuschen, teils in der Hoffnung auf finanziellen Gewinn - sehr willkürlich mit der Wahrheit umgingen. Der skandalöse Prozess zog sich anderthalb Jahre hin.

Wibke Martin, Jahrgang 1939, bis zu ihrem Ruhestand Lehrerin im Vogtland, ging dem aktenkundig überlieferten Schicksal der Marie nach. Sechs Jahre recherchierte sie zur Orts-, Familien- und Zeitgeschichte. Nun liegt ein Roman vor, der die Hintergründe des unheilvollen Geschehens erstmals aufdeckt.

Von der Autorin erschien unter dem Pseudonym Mara Nock bereits der Roman 'Die Drahtmutter'.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Feb. 2015
ISBN9783732323135
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    Buchvorschau

    Das Halsgericht zu Schöneck - Wibke Martin

    Personenverzeichnis

    Die Hauptfiguren sind fett gedruckt.

    Die Namen der Personen, die 1697 bereits verstorben waren und nur erwähnt werden, sind kursiv gedruckt.

    Figuren, bei denen der Vorname nicht bzw. nicht vollständig (Die Leute hatten häufig zwei Vornamen.) mit dem der historischen Person übereinstimmt, sind mit * gekennzeichnet.

    Der Rastelbinder ist die einzige Figur, die nicht historisch belegt ist. Drahtbinder aus Böhmen kamen jedoch regelmäßig ins Vogtland.

    Historische Fakten

    Wahr ist: Am 5. August 1698 wurde Maria Meyen, ein Mädchen von 14 Jahren, nach eingeholten drei Urteilen mit dem Schwert hingerichtet. Sie war zuvor eineinhalb Jahre in der Fronfeste gefangen gehalten worden.

    Wahr ist: Obwohl Maria Meyen wegen Brandstiftung verurteilt worden war, rief sie vor der Exekution ‚wehe‘ über ihre Verführerin zur Dieberei.

    Wahr ist: Im Jahre 1697 gab es für Schöneck drei ökonomisch bedeutsame Ereignisse.

    – August der Starke bewarb sich um die Polnische Krone und brauchte für dieses Vorhaben sehr viel Geld, daher setzte eine verstärkte Kontrolle der Finanzhaushalte seiner Untertanen ein.

    – Wolfgang Fischer, Hammervorsteher von Tannenbergsthal, kaufte den wüst liegenden Hammer in Zwota, in der Nähe von Schöneck, um ihn wieder in Betrieb zu nehmen.

    – Mitte des Jahres starb Pfarrer Georg Andreas Crusius und hinterließ Schulden sowie ein mit Verlust arbeitendes Pfarrgut.

    Wahr ist: Andreas Crusius war mehr als dreißig Jahre lang Pfarrer in Schöneck. Von seinen fünf Söhnen wurden drei Pfarrer und zwei Handelsmänner. Sein Sohn Georg Andreas übernahm nach dem Tod des Vaters 1692 die Pfarre in Schöneck. Sein Sohn Friedrich wurde Pfarrer in Wohlbach.

    Georg Andreas Crusius starb 37-jährig. Mit seiner Witwe Amalia Rosina geb. Pisendel hatten Bürgermeister und Rat von Schöneck etwa ein Jahr lang um die Begleichung der Schulden ihres Mannes gestritten, ehe sie eine beiderseits befriedigende Lösung fanden. Amalia Rosina war mit zwei ihrer vier Kinder nach Glaucha bei Halle in die Franckeschen Stiftungen gegangen, wo sie eine Anstellung fand, aber schon im Frühjahr 1699 an Fleckfieber starb.

    Wahr ist: Im Jahre 1697 trat im Zusammenhang mit der Bürgermeisterwahl eine Besonderheit auf.

    Die Bürgermeisterwahl fand offensichtlich planmäßig Anfang Januar statt, denn Martin König wird turnusmäßig zum regierenden Bürgermeister gewählt und als solcher im Kirchenbuch erwähnt.

    Er übernahm das Amt vom gewesenen Bürgermeister Nicol Renner. Der künftige Bürgermeister war Hans Georg König. Die beiden Bürgermeister König waren nicht näher miteinander verwandt.

    Auch die Abrechnung mit Amtsübergabe hat wie gewohnt zu Mittfasten stattgefunden.

    Die offizielle Rechnungslegung, für die jeweils der Osterdienstag vorgesehen war, wurde jedoch auf den Januar 1698 verschoben.

    Wahr ist: Die drei sich jährlich abwechselnden Bürgermeister lebten in sehr unterschiedlichen Familienverhältnissen.

    Der regierende Bürgermeister des Jahres 1697, Martin König, war kinderlos, aber mit allen führenden Familien der Stadt verwandt.

    Der künftige Bürgermeister für das Jahr 1698, Hans Georg König, war zum vierten Mal verheiratet und hatte trotz fortgeschrittenen Alters noch drei unmündige Kinder.

    Hans Georg König war der Schwestersohn des verstorbenen Oberförsters Georg Geyer. Mehrere Frauen aus der Sippe dieses Oberförsters hielten sich jeweils eine Zeit lang in Schöneck auf. Eine unverheiratete Schwester dieses Oberförsters hatte viele Jahre bis zu ihrem Tod in der Familie König gelebt.

    Der gewesene Bürgermeister für das Jahr 1696, Nicol Renner, hatte vier erwachsene Töchter, einen erwachsenen Sohn und mehrere Enkelkinder. Er war über einen Eidam mit der Familie Meyen verwandt.

    Die Schwiegertochter dieses Bürgermeisters war die Tochter des Ratswirtes Christoph Hannebach.

    Wahr ist: Gegen Ende des 17. Jahrhunderts gab es in Schöneck eine Fleischerherberge, deren Standort jedoch in den Akten nicht angegeben ist.

    In den Städten des Mittelalters und der frühen Neuzeit gehörten die Fleischhacker zu den Bürgern, die ihr Gewerbe nur am Stadtrand ausüben durften.

    An der Kälberwiese – also am ehemaligen Stadtrand von Schöneck – existiert noch heute der Königsstein. Martin König, einer der bedeutendsten Bürgermeister der Stadt, war Fleischhacker.

    Wahr ist: Familie Meyen gehörte zwar zu den Hausbesitzern, aber nicht zur wohlhabenden Bürgerschaft von Schöneck.

    Martin Meyen, Maria Meyens Vater, stammte aus Tirpersdorf. In seiner Familie wurden in unregelmäßigem Wechsel die Namen Mey, Meyen und Meyer benutzt. Er war ‚Fußknecht‘ – also niederer Förster – im Dienste der Stadt.

    Das Ehepaar Meyen hatte außer Maria, der Ältesten, noch mehrere Kinder. Ein Kind starb während Marias Gefangenschaft. Zwei Tage nach der Hinrichtung wurde Marias jüngster Bruder zu Grabe getragen.

    Die Familie Meyen war über die Frau des Martin Meyen, Margaretha geb. Busch, weitläufig mit der Familie des im Jahre 1696 gewesenen Bürgermeisters Nicol Renner verwandt (s.o.).

    Maria Meyen beschuldigt auf dem Richtplatz Concordia Döhler der Verführung zur Dieberei.

    Wahr ist: Concordia Döhler geb. Becher gehörte zu einer der bedeutenden Familien in Schöneck.

    Concordia war die Tochter des verstorbenen Chirurgen und Wundarztes Daniel Becher und Enkeltochter des verstorbenen Medikus Christoph Martini. Mehrere Todesfälle in dieser Verwandtschaft traten unter fragwürdigen Umständen ein.

    Concordia war mit dem wohlhabenden Fleischhacker und Rosskamm Christian Döhler verheiratet.

    Concordia war ebenfalls eine Zeit lang in der Fronfeste gefangen.

    Wahr ist: Christian Döhler Fleischhacker und Rosskamm – galt als begütert. Er gehörte einer sehr weitverbreiteten Sippe an. Sein Bruder war Röhrenmeister in Schöneck und mit der ältesten Tochter des Bürgermeisters Hans Georg König verheiratet.

    Er hatte vor seiner Eheschließung die Schulden des zukünftigen Schwiegervaters, Daniel Becher, bezahlt.

    Wahr ist: Mitglieder der Familie Spranger spielten über Generationen eine wichtige Rolle in Schöneck.

    Christian Spranger hatte nach dem Besuch der Schule in Gera auf ein Studium verzichtet und von seinem Vater die Untere Holzmühle als Eigentumsmüller übernommen. Er hatte mehrere Töchter, von denen eine verheiratet und eine verwitwet war. Letztere ehelichte 1697 den mit 15 Gulden beim Gotteshaus verschuldeten Fleischhacker Nicolaus Keil. Ein Bruder dieses Fleischhackers – Johann Caspar Keil – war laut Kirchenbuch 1694 in Rotau hinter Graslitz im Wirtshaus vom Wetterstrahl erschlagen worden.

    Hans Georg Spranger, ein Vetter des Christian Spranger, hatte die Schule in Pforta besucht, Jura studiert und arbeitete als Notar in Schöneck. Seine Frau, eine Schwester des Pfarrers Georg Andreas Crusius, war bei der Geburt des ersten Kindes gestorben. Der Witwer heiratete nicht wieder.

    Wahr ist: Im Jahre 1697 trat eine Änderung in der Besetzung der Stelle des Stadtschreibers ein.

    Seit Jahrzehnten war Christian Seifert, Jurist, Schulmeister, Küster und Kirchenmusiker auch Stadtschreiber und damit zugleich Gerichtsschreiber.

    Im Jahre 1697wurde plötzlich auch der Notar Hans Georg Spranger als Stadtschreiber genannt.

    Wahr ist: Christian Seifert entstammte einer einheimischen Familie von Schmieden und Gerbern. Er hatte in Leipzig Jura studiert und dann in Schöneck als Schulmeister, Küster und Kirchenmusiker sowie als Stadtschreiber gearbeitet. Sein Verhältnis insbesondere zu Pfarrer Andreas Crusius (Vater von Georg Andreas Crusius) galt als gespannt, wie das meistens zwischen Schulmeister und Pfarrer in Schöneck der Fall war. Dabei ging es unter anderem um die Forderung des Pfarrers, dass der Schulmeister ihm bei Hausbesuchen den Mantel tragen und die Abendmahlsgeräte zureichen sollte. Besondere Beschwerde führte der Pfarrer, weil Christian Seifert in sehr fortschrittlicher Weise während des Gottesdienstes die Epistel von seinen Schulknaben vorlesen ließ.

    Christian Seifert war verschwägert mit dem Pfarrer von Theuma. Sein Sohn war Pfarrer in der Nähe von Leisnig.

    Er war neben dem Notar Hans Georg Spranger der einzige Jurist in Schöneck.

    Wahr ist: Beim Gotteshaus konnte jeder Bürger, der etwas zum Pfand zu setzen hatte, bei einem Zinssatz von 5 % Kapital leihen.

    Der Schustermeister Hans Georg Müller, Kirchenvater und Eidam des Eisenhändlers und Stadtkämmerers Kaspar Knichtel, borgte 1697 die erstaunliche Summe von 100 Gulden beim Gotteshaus und setzte sein Haus sowie eine Wiese zum Pfand. Beides wurde sofort von einem Anderen übernommen, der die Zinsen für das geliehene Geld zahlte.

    Der Notar Hans Georg Spranger hatte 25 Gulden geliehen und lediglich eine Wiese zum Pfand gesetzt, und sein Schwager, der Pfarrer Georg Andreas Crusius, hatte schon vor Jahren ohne Einwilligung des Superintendenten für 100 geborgte Gulden seinen gesamten Besitz als Sicherheit gegeben und noch nicht einen Gulden zurückgezahlt. Um die hinterlassenen Schulden gab es etwa ein Jahr lang Streit zwischen der Witwe und den Honoratioren der Stadt.

    Christoph Rudolph von Tettau war bei mehreren Adligen hoch verschuldet. Seit Jahren drohte seinem Rittergut in Schilbach die Insolvenz. Er und seine Mutter borgten trotzdem unverdrossen weiter beim Gotteshaus und schrieben jeweils einen Schuldschein.

    Auch Maria Meyens Vater, Martin Meyen, hatte schon seit Jahren Schulden beim Gotteshaus: drei Gulden. Er hatte dafür sein ‚Allerlei‘ verpfändet.

    Wahr ist: Zwischen den Familien Meyen und Becher gab es bemerkenswerte Beziehungen.

    Martin Meyen hatte – bevor er Fußknecht (Förster) im Dienste der Stadt wurde – bei Daniel BecherConcordias inzwischen verstorbenem Vater, gedient.

    Die Schwester Concordias, Florentina Tiepmar, die Frau des staatlich angestellten Fußknechtes und Schützenkönigs Hans Tiepmar, war Maria Meyens Patin.

    Wahr ist: Maria Meyen war eineinhalb Jahre in der Fronfeste gefangen und damit in der Obhut der Stadtknechte und derer Familien. In dieser Zeit brachte Maria Sophia, eine Tochter des Weidaer Scharfrichters und Frau des Stadtknechts Gottfried Enderlein, ihr drittes Kind zur Welt und Georg Sigmund Diersch heiratete Pfingsten 1698 eine Tochter des Stadtknechts von Adorf. Damit war er mit der in Bayern und Sachsen weitverbreiteten Sippe Rosenhauer verwandt – allesamt Stadtknechte und Gerichtsboten.

    Ein Mann, der im Wirtshaus zu Voigtsberg vorgab, aus dem Bambergischen zu sein und von den Gästen für einen Büttel oder Scharfrichter gehalten wurde, erklärte einen Tag vor der Hinrichtung, dass diese entweder nicht stattfinden oder misslingen werde.

    Wahr ist: Zur Zeit der Hinrichtung der Maria Meyen gab es in Voigtsberg zwei Scharfrichter. Da war zunächst David Fischer, 42 Jahre alt, Sohn des Scharfrichters von Weida, Bruder der Maria Sophia Enderlein, Vater mehrerer halbwüchsiger Kinder. Der zweite, Johann Christoph Fischer, dessen Alter nicht angegeben ist, war ein Sohn des Scharfrichters von Eger, hatte eine halbjährige Tochter und folgte einige Jahre später seinem Vater ins dortige Scharfrichteramt.

    Wahr ist: Hans Georg König, im Jahre 1698 regierender Bürgermeister, hat im Stadtregister dieses Jahres die Kosten für die Hinrichtung der Maria Meyer genau aufgeschlüsselt. Der zu diesem Zeitpunkt gewesene Bürgermeister Martin König hat eine Abschrift dieses Registers an Nachkommen seiner Verwandtschaft weitergegeben.

    Wahr ist: Der Fall ‚Maria Meyen‘ wirkte sich auf das Verhältnis einiger Schönecker zueinander aus.

    Zwischen dem Bürgermeister Nicol Renner und dem Notar Hans Georg Spranger herrschte in den Jahren nach der Hinrichtung offene Feindschaft, ohne dass der Grund jemals ausgesprochen wurde.

    Wahr ist: Die Beziehung der beiden Bürgermeister Martin König und Hans Georg König zueinander galt als angespannt.

    Der Bürgermeister Hans Georg König erklärte zur gleichen Zeit, er sei der Freund des Notars Hans Georg Spranger.

    Wahr ist: Der Notar Hans Georg Spranger bekannte dem Pfarrer Adam Müller, seit Dezember 1697 Pfarrer in Schöneck, dass das, was er getan habe, so schlimm sei, dass er nie mehr zur Beichte und zum Heiligen Abendmahl zugelassen werden könne.

    Quellen:

    Kirchenbücher von Schöneck, Theuma, Adorf, Oelsnitz/V., Bad Elster und Schellenberg-Augustusburg

    Pfarrbuch Oelsnitz/V. Abt. Schöneck/V.; o.J.

    Register der ausgeliehenen Capitalien (17. Jahrhundert); Pfarramt Schöneck/V.

    Album des Knabenwaisenhauses der Franckeschen Stiftungen zu Halle; o.J.

    Die Predigtdatenbank: Lutherpredigten

    1. Teil: Der Brand

    Gründonnerstag

    Am Gründonnerstag des Jahres 1697 jagte mit einem der ersten Schläge des Gethsemane-Läutens ein kleiner wuscheliger Hund durch den schweren nassen Neuschnee über den menschenleeren Marktplatz von Schöneck. Sein zottiges Fell war gelbgrau wie der schon von der Dämmerung verfinsterte Nebel, der aus den Tälern der Umgebung hervorquoll. Der junge Rüde blieb – die Ohren spitzend und aufgeregt mit dem Schwanz wedelnd – zunächst bei einer der nördlichen Kirchentüren stehen, setzte sich dann und beobachtete aus dunklen, von schmutzigen Fransen fast verdeckten Augen aufmerksam ein großes Gebäude an der unteren Seite des Marktes.

    Dort beendete zur gleichen Zeit Marie Meyen eilig ihr Gebet mit der kleinen Regina, hüllte das Kind in ein dickes Wolltuch und trat, sobald das Geläut verstummt war, mit der Kleinen auf dem Arm durch die Pforte ins Freie.

    Der Hund sprang sofort auf, stürmte los und umkreiste die beiden mit freudvollem Gejaule. Das Kind klatschte juchzend in die Hände, Marie bückte sich und kraulte das Tier hinterm Ohr.

    Wenig später schloss Merten Meyen hinter sich die schwere Kirchentür. Obwohl er fast drei Jahre jünger war als seine Schwester Marie, überragte er sie um einen halben Kopf, tat mit seinen zehn Jahren bereitwillig die Arbeit Erwachsener und wurde als ‚Mertengung‘ von seinem gleichnamigen Vater unterschieden. Fürs Glockenläuten, das er mehrmals wöchentlich übernahm, würde er zu Michaelis wahrscheinlich eine kleine Summe bekommen, so hoffte er jedenfalls.

    Jetzt verharrte er und schaute teils traurig, teils belustigt auf Marie. Vor einem reichlichen Jahr war sie im Haus des ‚alten Renner‘ als Kindermädchen für dessen jüngste Enkeltochter in Dienst getreten. Seither hatten sich die Geschwister immer nach dem Glöckneramt des Mertengungs kurz getroffen – zum Erzählen und zum Necken. Aber seit einiger Zeit traf meist ein anderer noch eher als der Bruder an Ort und Stelle ein. Es würde heute kaum anders sein. Dieser kleine freche Kläffer war ja bereits da – als Vorhut.

    Trotz der Düsternis erkannte der Mertengung, dass Marie heute ihr dunkelblondes Haar nicht, wie es sich für ein Kindermädchen gehörte, zu einem Zopf geflochten und aufgesteckt trug, sondern offen über ihre Schultern fallen ließ. Marie sah hübsch aus, aber eine solche Haartracht war gegen allen Anstand. Und – wie zu erwarten – kam der Verehrer auch schon aus Richtung Kühgasse daher. Bastel, der eigentlich Sebastian Sturm hieß, als einziger Schönecker Fleischhacker und Rosskamm auch mit Schweinen auf dem Oelsnitzer Viehmarkt handelte und dessen rotes Haar so zusselig war wie der Pelz seines Hundes, verbreitete mit seinem treuherzigen Blick aus wasserhellen Augen fast immer gute Laune und machte offensichtlich Eindruck auf Marie. Auch ihr Bruder, der Mertengung, mochte ihn. Doch was hatte denn der Galan diesmal vor? Führte da einen Rappen am Halfter. Ein mächtiges Tier, fürs Holzrücken sah es aber viel zu elegant aus. Ein wunderschönes Kutschpferd. Wo wollte der Bastel bloß damit hin? Jetzt schritt er jedenfalls stolz auf Marie Meyen zu.

    Mit etwas Schadenfreude wartete der jüngere Bruder nun, dass das Turteln, noch bevor es angefangen hatte, gleich ein jähes Ende nehmen würde, denn schräg gegenüber aus der Ratswirtschaft geleitete der Wirt Christoph Hannebach, genannt Hannetoffel, den alten Renner, einen der drei Bürgermeister, vor die Tür. Die Bürgermeister wechselten sich reihum jährlich in diesem Amt ab. Das geschah immer im Januar und nannte sich Bürgermeisterwahl. Dienstantritt war jeweils in der Fastenzeit. Der alte Renner war derzeit der ‚gewesene‘ Bürgermeister, das heißt, er hatte das Amt erst kürzlich turnusgemäß an seinen Nachfolger abgegeben. Ob amtierend oder nicht – jeder Bürgermeister nannte sich ‚Konsul‘.

    Noch hätte der Mertengung mit wenigen Sprüngen bei Marie und Bastel sein oder beide mit einem Pfiff warnen können, aber er blieb wie angewurzelt stehen.

    Der gewesene Bürgermeister, der alte Renner, schritt geradewegs auf sein Haus am Markt zu. Der Mertengung zog seinen abgewetzten Filzhut, machte einen Bückling und murmelte untertänig: „Guten Abend, Herr Konsul!"

    Er wurde weder einer Antwort noch eines Blickes gewürdigt.

    Renner – ein kleiner und trotz seines Alters schlanker und beweglicher Mann – hatte die jungen Leute vor seinem Haus mit raschen Schritten erreicht, seine schwachen Augen erkannten jedoch erst im letzten Augenblick, wen er da vor sich hatte. Die beiden waren viel zu sehr mit sich beschäftigt gewesen, um die Gefahr zu bemerken, und erstarrten. Der Hund kniff den Schwanz ein. Das Pferd wurde unruhig. Das Mädchen und der junge Mann schauten verlegen zu Boden. Das Kind auf dem Arm begann zu greinen. Der Herr Bürgermeister aber, der selbst lange mit Pferden gehandelt hatte, nahm zuerst das mächtige Ross wahr. Er betrachtete aufmerksam den Kopf, streichelte den Rücken und tätschelte die Flanke.

    „Wo hat er das Tier her?"

    Als Bastel schwieg, fuhr er fort:

    „Ich hoffe, das Pferd bringt ihn nicht etwa an den Galgen. Und nun verschwinde er hier! Wir sind doch kein Hurenhaus."

    Bastel, Hund und Ross gehorchten augenblicklich. Marie reagierte auf eine einzige Kopfbewegung des Bürgermeisters und ging mit dem Kind auf dem Arm in Richtung Rennerhaus. Der Mertengung hörte noch die Pforte ins Schloss fallen, dann lief er zum Schulhaus, um den Kirchenschlüssel abzuliefern.

    *

    Als der Mertengung am Pfarrhof vorbeikam, wurde im Obergeschoss gerade eines der Fenster einen Spalt breit geöffnet.

    Dort saß in einer wollenen Jacke, die Beine in einen Wolfspelz gehüllt, leise vor sich hin seufzend, Andreas Crusius, der Pfarrer – für alle in der Stadt nur der klaane Pfaff. Er saugte begierig die kühle, frische Luft ein, um seine Atemnot zu lindern. Die blonde Perücke verbarg sein schütteres Haar, aber die Tränensäcke unter den wässrig grauen Augen sowie die schweren, schlaffen Lider gaben ihm das Aussehen eines alten Mannes. Dabei hatte er die Vierzig noch längst nicht erreicht. Seit dem Tod seines Vaters vor fünf Jahren nahm er dessen Pfarrstelle in der Stadt ein, aber er wusste, dass er das Amt nur mangelhaft ausfüllen konnte. Seine Schmerzen und körperlichen Beschwerden waren kaum noch erträglich und er wünschte sich, diese tyrannische irdische Hülle verlassen zu dürfen. Andererseits peinigte ihn bereits der bittere Gedanke an den Abschied. Es quälte ihn die Sorge um seine Familie. In einem der benachbarten Zimmer wurde ein Cembalo angeschlagen. Seine Frau nahm wie immer Zuflucht zur Musik. Er würde sie bald mit drei Kindern zurücklassen. Ein viertes trug sie unter dem Herzen. Der Pfaff weinte leise. Sein Blick wanderte zu dem mächtigen Turm, dessen Silhouette immer wieder zwischen Nebelfetzen zu sehen war. Als Knabe hatte er sich mit seinen Geschwistern oft dort aufgehalten. Damals standen noch Reste vom alten Gemäuer der Hofstube und seine Brüder hatten sich immer und immer wieder abgemüht, an den verfallenen Wänden nach oben zu steigen, aber keiner schaffte es je bis auf den Turm. Er selbst hatte es gar nicht erst versucht, seine Hände waren zu klein, seine Arme und Beine zu kurz, sein Körper zu schwer, seine Muskeln zu weich, sein Herz zu schwach. Am weitesten jemals hinaufgeklettert war Gottfried, der inzwischen allgemein der Pfeffersack genannt wurde. Damals war er erst neun oder zehn Jahre alt und behauptete anschließend, er habe einen Blick auf die ganze Welt getan. Andreas hatte den Jüngeren sehr beneidet. Wenige Jahre später war bei einem Stadtbrand das alte Mauerwerk zusammengefallen, nur dieser geheimnisvolle Turm war geblieben – unerschütterlich. Wieder und wieder hatte sich Andreas den Kopf zerbrochen, wer dieses Monument vor undenklich langer Zeit erbaut haben mochte. Sind es wirklich, wie der Informator im Hause Crusius behauptet hatte, die Vorfahren dieser erbärmlichen Leute gewesen, die da ringsum in ihren Hütten an den Webstühlen saßen und nebenbei im Sommer Mist auf ihr schmales Feld karrten und im Winter Löffel schnitzten, sich mehr oder weniger oft mit Selbstgebranntem volllaufen ließen und viel mehr Kinder zeugten, als sie ernähren konnten? Aber warum baute jemand so etwas?

    Auch darauf hatte dieser Hauslehrer eine Antwort gehabt: Die Menschen fürchteten sich vor dem Wald. Sie fürchteten die Finsternis und die wilden Tiere, die bösen Geister und die Räuber, die sich dort versteckt hielten. Manche behaupteten auch, hier hätten die Räuber selbst gehaust und nach Beute Ausschau gehalten. Diese Vorstellung hatte ihm, dem Andreas, als er noch ein kleiner Junge war, am meisten Schauder eingejagt. Natürlich gehörte der Wald damals dem Kaiser und auch all die wilden Tiere gehörten ihm. Angeblich soll eines Tages der Kaiser selbst vorbeigekommen sein, wahrscheinlich sind es aber nur einige seiner Abgesandten gewesen. Jedenfalls wollte der Kaiser den Turm haben. Einem Kaiser darf man nichts abschlagen. Und wer nun vom Turm schaute, der war das Auge des Kaisers. Und wer mit Schwert oder Pike Wache hielt, der war der Arm des Kaisers. Und wer den finsteren und bedrohlichen Wald rodete, um das Vieh zu hüten und Hafer und Roggen zu säen, der war der Ernährer von Auge und Arm des Kaisers. Darum brauchten die Schönecker keine Steuern an den Landesherrn zu zahlen und sie mussten keinen Kriegsdienst leisten. Das waren ihre Privilegien.

    Der Wald war aber nicht nur eine Bedrohung, er beschenkte die Menschen auch. Von ihm kam das Holz zum Bau der Häuser und zum Heizen der Stuben. Die Menschen schwelten Bäume zu Kohle, brachen, gruben und klopften aus den Bergen das Erz und gewannen Eisen, Zinn und Silber daraus. Andere Bäume glühten sie zu Asche, sammelten weiße Kieselsteine und schmolzen alles zu Glas. Sie zapften den Bäumen das Harz ab und siedeten es zu Pech und Ruß. Schließlich flößten sie in Bächen, Gräben und Flüssen Holzscheite bis in die fernen großen Städte. Kaiser, Könige, Kurfürsten, Herzöge, Markgrafen und sonst wer noch stritten schon immer darum, an wen und wie viel die Köhler, Bergleute, Hammerwerker, Glasmacher, Picher, Pechsieder und Flößer dafür zu zahlen hätten, dass sie in den Wäldern ihren Broterwerb fanden.

    In all der Zeit kümmerte es die meisten Menschen in ihren Hütten wenig, ob es für sie einen König oder Kaiser gab, ob sie dem Kurfürsten oder dem Herzog untertan waren, ob sie zu Böhmen oder Sachsen gehörten und ob sich das zuständige Amt in Voigtsberg, Plauen oder Reichenbach befand.

    So jedenfalls hatte es der Hauslehrer schlicht und einfach vor etlichen Jahren seinen Zöglingen erklärt. Und der Herr Pfarrer – der hatte den einfältigen Leuten zu helfen, dass sie recht an den Allmächtigen glaubten, damit sie nach ihrem Tod eines Tages eine fröhliche Auferstehung haben und Eingang in Gottes Himmelreich finden würden. Zu diesem Zweck lebte der Pfarrer mit seiner Familie in einem großen, geräumigen Haus, zu dem Stallungen, Knechte und Mägde gehörten. Er ritt ein schönes Pferd und seine Familie fuhr in einer Kutsche über Land. Leider musste sich der Herr Pfarrer auch um all die Tiere und Felder, die Knechte und Mägde, die Widumsgüter und die dazu gehörigen Fröner kümmern. Das wiederum war eine arge Last.

    Andreas Crusius wäre als Kind gern das Auge des Kaisers auf dem Turm geworden. Aber der Turm war längst zur Hälfte eingefallen. Keiner brauchte ihn mehr. Warum eigentlich nicht? Auch dafür hatte der gescheite Informator damals eine Erklärung gefunden: Vor den Kanonen, mit denen die Soldaten inzwischen anrückten, schützten keine dicken Mauern. Da nützte es auch nicht viel, dauernd nach Feinden Ausschau zu halten. Es gab inzwischen genügend Reiter, die sämtliche Straßen und Wege überwachten und alle Räuber, Vagabunden und Diebe erwischten, also die meisten, na ja, wenigstens sehr viele, also zumindest einige – manchmal. Er war ein kluger Lehrer gewesen – sein und seiner Geschwister Informator.

    Bei dieser Erinnerung huschte ein schwaches Lächeln über das gequälte Gesicht des Andreas Crusius. Da es mit dem Auge des Kaisers auf dem geheimnisvollen Turm nichts werden konnte, war er schließlich – wie sein Vater – Pfarrer geworden. Allerdings hatte er sich das alles etwas einfacher vorgestellt. Der kranke Mann seufzte tief und schwer. Er hoffte, heute noch seinen Bruder Gottfried zu sehen, den Handelsmann, den Pfeffersack, wie ihn die Leute etwas boshaft nannten. Ihm hatte er vor Jahren aus finanzieller Not geholfen und war dabei selbst in Schwierigkeiten geraten. Andreas vertraute darauf, dass sein Bruder ihm das Geld schnellstens zurückzahlen werde, damit Amalia, seine Eheliebste, nicht noch diese Schuldenlast würde tragen müssen.

    *

    Der Mertengung hatte den Kirchenschlüssel an einen Nagel neben der Schultür gehängt und wollte sich gerade zögerlich auf den Heimweg machen. Er fühlte sich schuldig. Nicht allzu sehr. Aber immerhin bereute er, seiner Schwester den Ärger nicht erspart zu haben. Doch nun weckten einige in der Windstille vernehmbare Geräusche seine Neugier. Er hörte Hufe klappern, Räder knirschen, Kufen schleifen und all das aus unterschiedlichen Richtungen. Er blieb nahe beim Hauptportal der Kirche stehen und konnte den großen Eingang zum Pfarrhof und auch einen Teil des Marktes überschauen.

    Er hatte nicht bemerkt, dass jemand in seiner Nähe war. Vitus Spranger, der Herrgottsmüller, stand im Schatten der Ruine des alten Forsthauses und lauschte ebenfalls in die Dunkelheit.

    Aus Richtung der Straße von Poppengrün kam das Klingeln zweier Schlittenfuhren. Das waren ganz sicher Michael Hühler, für alle nur der Flachsmichel, und Kaspar Knichtel, kurz Eisenkaspar genannt, die vom Lengenfelder Donnerstagsmarkt zurückkehrten.

    Der Junge hoffte, sich in zwei Jahren bei Flachsmichel, seinem Paten, oder bei irgendeinem anderen Fuhrmann zu verdingen. Und eines Tages würde er, der Mertengung, sich von all dem gesparten Geld, das er hinter einem lockeren Brett im Ziegenstall versteckt hielt und ständig mehrte, selbst ein Pferde- oder Ochsengespann oder fürs erste vielleicht auch nur einen Karren kaufen, um dann bis nach Adorf oder Plauen oder bis nach Paris oder Venedig oder gar bis ins ferne Indien zu ziehen.

    Das Gebimmel vom Gespann des Flachsmichel verstummte vor dessen Haus am Klinger. Wenig später war auch Eisenkaspar – Siebmacher und Händler – bei seiner Werkstatt gleich hier um die Ecke angekommen.

    Nun plagten sich zwei Pferde den von Eschenbach kommenden Weg herauf. Die beiden heimlichen Wächter vermuteten richtig den jungen Renner, der wahrscheinlich aus dem Böhmischen kam, etwas später auch wirklich vor dem elterlichen Haus hielt, wo sich sofort die große Einfahrt öffnete.

    Aber es waren immer noch irgendwo Pferde unterwegs, ein kräftiges Getrappel erschallte aus Richtung der Straße von Schilbach. Mit so einem Aufgebot kamen selbst die von Tettau nicht daher. Der Mertengung war verwirrt. Gerade bemerkte er noch, wie sich das Tor des Rennerschen Hauses schloss, da fuhr auf dem Marktplatz eine vierspännige, von zwei Reitern eskortierte Kutsche vor und bog zur Pfarre ein. Der Herrgottsmüller atmete tief durch – ob erleichtert oder angespannt, wäre für einen, der ihn beobachtet hätte, schwer zu deuten gewesen.

    Eine Extrapost in Schöneck! Staunend blickte der Mertengung auf den in einen dicken Pelz gehüllten jungen Mann, der dem Wagen entstieg, mit dem Kutscher noch irgendeine Verabredung traf und ihn bezahlte, bevor der das Gepäck ins Haus trug und dann zurückfuhr. Nun ließ sich der feine Herr von mehreren Leuten in den Pfarrhof geleiten.

    Genau zu diesem Zeitpunkt eilte der Herrgottsmüller herbei und folgte ganz selbstverständlich in die Pfarre.

    *

    Wenig später waren im Pfarrhof vier Männer und zwei Frauen mit ernsten Mienen um einen langen Tisch versammelt. Zwei Mägde trugen nacheinander püriertes Huhn, zwei gebratene Täubchen, einen sorgfältig zubereiteten und mit Federn kunstvoll geschmückten Fasan, einen gedünsteten Aal sowie Schalen mit Brot, Pfannkuchen und gezuckerten Apfelstücken herein. Schließlich stellten sie noch zwei Kannen Würzwein bereit.

    Nach einem routinierten Gebet des kranken Pfarrers Andreas Crusius begannen seine Gäste zu speisen. Am anderen Ende des Tisches starrte stumm, das hagere Gesicht unbeweglich, Justina Crusius – die Pfarrmutter – auf die Runde, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Sie war eine geborene Adler, also eine aus dem umfangreichen und stolzen Pfarrgeschlecht der Aquila.

    Andreas Crusius saß in einem Lehnstuhl und schaute mit glasigen Augen aus einem bleichen, von Schweiß überströmten Gesicht gequält auf seine Gäste. Er atmete schwer. Amalia, seine zierliche Frau neben ihm, trocknete von Zeit zu Zeit seine Stirn mit einem Spitzentüchlein und reichte ihm jeweils einen Becher mit Wein, an dem er behutsam nippte. Jetzt probierte er zögerlich etwas vom Püree.

    Neben ihm hatte es sich Gottfried Crusius, der elegante, mit der Extrapost angelangte Pfeffersack, in einem robusten Armstuhl bequem gemacht, den Spitzenkragen an seinem schwarzen Seidenwams gelockert und die in Schaftstiefeln und ebenfalls schwarzen Kniehosen steckenden Beine übereinandergeschlagen.

    „Ich hoffe, Eure Reise war nicht allzu beschwerlich", eröffnete die Pfarrfrau höflich und förmlich – in einem für Schönecker Ohren schon fast beleidigend sauber artikulierten Deutsch – das Gespräch.

    „Es war wie immer."

    Der Pfeffersack wirkte mürrisch und müde, versuchte mit den Händen sein wirres halblanges Haar zu ordnen und seine Gedanken schienen sorgenvoll zu sein. Er war sowohl seiner Mutter als auch seines Bruders wegen, von der Frankfurter Messe kommend, hierher gereist. Seine Ware hatte er, verteilt auf mehrere Fuhrwerke, mit einigen Bediensteten zur Messe nach Nürnberg geschickt. Er selbst beabsichtigte, übermorgen wiederum mit einer Extrapost zu seiner Familie nach Dresden zu fahren und sich dann ebenfalls nach Nürnberg zu begeben. Von dort wollte er anschließend mit seinen Knechten direkt zur Jubilate-Messe nach Leipzig reisen. Er hoffte inständig, sein Bruder würde nicht gerade in dieser Nacht sterben und ihn so zum Bleiben bis zur Beerdigung veranlassen.

    Unfreundlich schaute er auf die Frau seines Bruders. Falls das Schlimmste eintreten sollte, müsste eigentlich Hans, der älteste unter den Crusius-Brüdern; sie und die Kinder zu sich nehmen. Daraus würde aber nichts werden, denn Hans war völlig eingebunden in die Geschäfte der Freundschaft seiner Frau. Jeder würde von ihm, dem Pfeffersack, erwarten, dass er einspringt, weil er als der Erfolgreichste von allen Geschwistern angesehen wurde. Außerdem schuldete er seinem Bruder Andreas etwas: Der half ihm vor fünf Jahren, als er – damals noch kein Pfeffersack – bei einem tollkühnen Handel beinahe alles verloren hatte, mit 100 Gulden wieder auf die Beine. Als gerade neu berufener junger Pfarrer hatte Andreas die Summe beim Gotteshaus geborgt und bis heute keine Rückzahlung von ihm, dem Handelsmann, gefordert. Falls sein Bruder demnächst – nur mal so angenommen – Gottes Herrlichkeit schauen sollte, wäre abzuwarten, ob die Kirchenväter dann tatsächlich die Begleichung dieser Schulden ihres verstorbenen Herrn Pfarrers verlangen werden.

    Gottfried Crusius kam gar nicht auf den Gedanken, sein Bruder könnte erwarten, dass er, der Handelsmann, dieses Geld, mit dem sich so schön arbeiten ließ, auf der Stelle zurückzahlen würde. Gottfried schaute auf die Frau seines Bruders: Vielleicht war sie gar nicht die hilflose Person, für die sie von

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