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Riesling, Handkäs, Gockelschiss: Ein kulinarischer Familienkrimi aus dem Rheingau
Riesling, Handkäs, Gockelschiss: Ein kulinarischer Familienkrimi aus dem Rheingau
Riesling, Handkäs, Gockelschiss: Ein kulinarischer Familienkrimi aus dem Rheingau
eBook493 Seiten6 Stunden

Riesling, Handkäs, Gockelschiss: Ein kulinarischer Familienkrimi aus dem Rheingau

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Über dieses E-Book

Babette Segon, die Heldin unseres ersten Bandes "Cidre, Boeuf und Tubéreuse", ist diesmal im Rheingau unterwegs, wo sie über die Weihnachtstage ihren Sohn Félix besucht, der inzwischen sein Studium abgebrochen hat und sich nun zum Koch ausbilden lässt. Von der Familie seiner Freundin Franziska Reimers wird Babette herzlich aufgenommen. Zu ihrer Erleichterung ticken die Reimers ähnlich wie die Familie Segon: Streitereien nicht aus dem Wege gehend, nach außen dennoch wie Pech und Schwefel zusammenhaltend, gastfreundlich, gutem Essen zugewandt. So fühlt sich Babette fernab ihres Liebsten Jean-Luc, der forschend in der Antarktis unterwegs ist und ihrer ebenfalls in aller Welt verstreuten Töchter, fast wie zu Hause, auch wenn sie hin und wieder wehmütig an die früheren Familienweihnachtsfeste in Marolles, ihrem normannischen Heimatdorf, zurückdenken muss. Aber da kommt die Ablenkung durch ihre Reisebekanntschaft, den feinsinnigen Herrn Gaub, gerade recht. Dieser macht Babette nicht nur mit deutschen Weihnachtsgepflogenheiten vertraut, sondern führt sie auch in die Oper. Nur allzu gern lässt sich Babette auf dessen Galanterien ein….
Für zusätzliche Aufregung sorgt die Leiche im Weinberg, über die die Tante von Franziska stolpert. Franziska und Félix geraten in Verdacht. Können Babette und die Familie Reimers den Fall klären?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum23. März 2022
ISBN9783347583375
Riesling, Handkäs, Gockelschiss: Ein kulinarischer Familienkrimi aus dem Rheingau

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    Buchvorschau

    Riesling, Handkäs, Gockelschiss - Anne Winckler

    Die handelnden Personen

    Babette Segon: aus der Normandie stammend, nun zu Besuch im Rheingau, um ihren Sohn Félix zu sehen.

    Jean-Luc Mermoud: Babettes Partner, unterwegs auf Forschungsreise in der Antarktis.

    Félix Segon: Sohn von Babette, macht eine Ausbildung zum Koch im „Bären" im Rheingau.

    Franziska Reimers: Freundin von Félix, Tochter von Cathrine und Siegfried Reimers; war zuvor Au-Pair bei Babettes Tochter Brigitte in Paris; ist ebenfalls im „Bären" als Auszubildende beschäftigt.

    Cathrine und Siegfried Reimers: Winzer aus Ibelsbach; Gastgeber von Babette; Eltern von Franziska.

    Marianne Reimers: Schwester von Siegfried Reimers und Erik Reimers.

    Erik Reimers: Besitzer des „Bären"; Chef von Félix und Franziska; Bruder von Marianne und Siegfried.

    Tristan Gaub: Zufallsbekanntschaft von Babette auf der Zugfahrt in den Rheingau; wird in die Familie Reimers aufgenommen.

    Karl-Heinz Dippel (Kalli): Polizeiobermeister (POM) aus Rüdesheim; Freund der Familie Reimers.

    Agathe Friedrichsen: neue Kollegin von Kalli aus dem Norden.

    Jadwiga Wojciechowska: Gerichtsmedizinerin.

    Wolfgang von Schmitz: Kriminalhauptkommissar (KHK) in Wiesbaden; verantwortlicher Ermittler zur Klärung des Mordfalls.

    Eberhard Marbert: Winzer und Großgrundbesitzer.

    Valeria Marbert: Weinkönigin; Tochter von Eberhard Marbert.

    Mark Kramm: ehemaliger Liebhaber von Valeria Marbert.

    Peter Brendler: Kommilitone von Valeria Marbert.

    Gregor Vollmer: Beikoch im „Bären".

    Apollonia Dachner: Servicekraft im „Bären".

    Juliette Segon: Tochter von Babette; mit ihrer Freundin Pénélope zu Besuch auf La Réunion bei deren Familie.

    Pierre und Jacques Gaillard: Brüder und Besitzer der „Winstub"; Cousins von Cathrine aus dem Elsass.

    Brigitte Segon: älteste Tochter von Babette, lebt in Paris mit ihrem Mann Antoine Le Bain und den gemeinsamen Kindern Cécile und Marcel.

    Zwischenstation Appenweier

    Freitag, 18.12.2015

    Die Kälte kroch Babette in die Schuhe, obwohl sie auf dem Bahnsteig auf und abging und immer wieder mit den Füßen aufstampfte. Sie sehnte sich nach ihren warmen Stiefeln, die zu Hause im Ziegenstall für das Melken an kälteren Tagen bereitstanden. In denen hatte sie noch nie gefroren. Sie schaute hinunter auf die modischen Stiefeletten mit ungewohntem Absatz, die sie gestern in Paris erworben hatte. Den Überredungskünsten ihrer Tochter Brigitte, auch noch eine neue Jacke zu kaufen, hatte sie zum Glück widerstanden. Babette zog die Kapuze der vertrauten Windjacke mit dem Teddyfell enger um den Kopf, um sich vor dem Wind auf dem zugigen Bahnsteig zu schützen. Eine halbe Stunde warteten sie nun schon auf den angekündigten Ersatzzug. Eigentlich hätte dieser unmittelbar einfahren sollen, nachdem ihr defekter Zug mit Hilfe einer Diesellok vom Gleis geschleppt worden war.

    Babette sah sich ratlos um. Die anderen Reisenden standen in kleinen Grüppchen zusammen oder starrten allein mit leeren Gesichtern vor sich hin. Einige blickten in ihre Handys. Solch ein Ding hätte sie jetzt auch gern. Warum war sie nur so widerständig gewesen und hatte ihren Kindern gegenüber behauptet, ein Handy brauche sie nun wirklich nicht? Wer sie erreichen wollte, hatte das bisher spätestens abends auf dem Festnetzanschluss des Bauernhofes geschafft. Nun verspürte sie erstmals Sehnsucht nach einer mobilen Kommunikationsmöglichkeit, um Félix das Herumstehen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof zu ersparen. Ein halbes Jahr hatte Babette ihren Sohn seit seinem Weggang in den Rheingau nicht mehr gesehen. So lange waren sie noch nie voneinander getrennt gewesen und per Skype konnte man niemanden in den Arm nehmen. Félix hatte versprochen, sie in Frankfurt abzuholen, um ihr Stress beim Umsteigen zu ersparen. Immerhin war es ihre erste Reise, die sie aus Frankreich hinausführte. Nun aber war sie in diesem kleinen Ort gestrandet, wer wusste schon, wann und wie es hier weitergehen würde.

    Der TGV hatte gerade den Bahnhof von Straßburg verlassen, als er merklich langsamer geworden und nach kurzem Ausrollen stehen geblieben war. Die Klimaanlage hatte sich abgeschaltet, die Beleuchtung war erloschen. Im Großraumwagen machte sich das trübe Winterlicht des späten Vormittags breit. Nach einem kurzen Moment der Ruhe sprang die Klimaanlage wieder an, das Licht flackerte auf. Babette konnte sich ein innerliches Grinsen nicht verkneifen. Wenn ihr PC nicht das tat, was er sollte, dann fuhr sie ihn auch erst mal herunter, um ihn neu zu starten. Manchmal half es, meistens jedoch nicht. Hier schien es jedenfalls nicht zu helfen, denn das Licht und die Klimaanlage fielen erneut aus. Nach einigem Knarzen im Lautsprecher meldete sich einer der Schaffner und teilte auf Deutsch und Französisch mit, dass man technische Probleme habe und hoffe, die Fahrt in wenigen Minuten fortsetzen zu können. Ein Stöhnen ging durch den Waggon, gefolgt von Geschnatter einiger Mitreisender, die offensichtlich Erfahrungen mit vergleichbaren Vorkommnissen diskutierten. Babette vertiefte sich in ihre Zeitschrift, die ihr Brigitte auf dem Bahnhof in Paris noch besorgt hatte.

    Nach einer Weile setzte sich der Zug schließlich erneut in Bewegung und über den Lautsprecher kam die zweisprachige Mitteilung, dass man nun mit halber Energieleistung weiterfahren werde, in der Hoffnung, den Bahnhof in Appenweier erreichen zu können, wo ein Ersatzzug bereitgestellt werden würde. Klimaanlage und Licht blieben ausgeschaltet.

    Der Reisende ihr gegenüber schaute sie über seine Zeitung hinweg an.

    „Na, sehr optimistisch klingt das ja nicht. Hoffen wir mal, dass es funktioniert."

    Er sprach flüssiges Französisch mit einem harten deutschen Akzent. Offensichtlich hatte er in ihr die Französin erkannt. Die vor ihr liegende „Marie Claire" mochte ihm auf die Sprünge geholfen haben. Babette lächelte ihm höflich zu. Der Mann sah gepflegt aus, trug allerdings einen merkwürdig karierten Anzug. Grau mit einem blauen Überkaro – auf eine solche Extravaganz verfiel nur ein deutscher Mann. Die Füße steckten in knöchelhohen Stiefeln, die schon länger nicht mehr geputzt worden waren. Den Kragen des weißen Hemdes trug er offen. Seinen mit Schaffell gefütterten Mantel hatte er ins Gepäckfach gelegt. Außer einer Laptoptasche hatte er weiter kein Gepäck dabei. Er war in Straßburg zugestiegen und hatte mit einem kurzen Nicken gegrüßt. So selbstverständlich, wie er ihr gegenüber Platz genommen hatte, schien er diesen Platz reserviert zu haben. Mit Abfahrt des Zuges war er hinter einer deutschen Zeitung verschwunden. Babette hatte weiter in ihrer Zeitschrift geblättert, dabei aber hin und wieder ein Auge auf ihr Gegenüber geworfen. Für sich hatte sie festgehalten: Wahrscheinlich ihr Alter, Ende 50, schlank, glattrasiert, unaufdringlicher Duft nach einer Mischung aus Sandelholz und Moschus. Die Sonne oder vielleicht das Leben hatten Spuren in seinem gut gebräunten Gesicht hinterlassen. Die Stirn lag in Falten, auch wenn er anscheinend entspannt Zeitung las.

    Nun fragte sie: „Ist Appenweier ein großer Bahnhof?"

    „Oh, Sie sprechen Deutsch, Kompliment. Nein, Appenweier ist eigentlich nur ein kleiner Bahnhof für Nahverkehrszüge. Da sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht."

    Als der Mann Babettes verständnislosen Blick sah, ergänzte er: „Da ist gar nichts los. Bis auf die Samstage im Advent, wenn alle Menschen aus der Umgebung meinen, sie müssten nach Straßburg auf den Weihnachtsmarkt. Dann steigen sie hier in die Regionalbahn ins Elsass um."

    „Ah, oui, aber heute ist kein Samstag, stellte Babette fest, „also sagen sich Hase und Fuchs gute Nacht? Beide lachten.

    „Mein Name ist übrigens Gaub, ich fahre bis Mannheim. Und wo wollen Sie noch hin, Madame?"

    Babette zögerte kurz, dann stellte auch sie sich vor: „Ich bin Babette Segon und komme aus Marolles in der Normandie. Ich fahre zu meinem Sohn in den Rheingau, er macht dort eine Lehre als Koch. Ich werde von ihm in Frankfurt am Bahnhof erwartet." Diese Standard-sätze hatte sie im Unterricht mit Walter, ihrem Deutschlehrer, eingeübt und sie war stolz, diese nun flüssig über die Lippen zu bringen.

    Herr Gaub antwortete ihr in Französisch: „In der Normandie habe ich vor ein paar Jahren einmal Urlaub gemacht. Da hat es mir sehr gut gefallen. Besonders wohl gefühlt habe ich mich in Honfleur. Abends konnte man so nett bei einem Pastis am Hafen sitzen."

    „In Honfleur wohnt meine Tochter Juliette. Marolles ist nicht weit davon entfernt."

    Sie tauschten sich noch ein wenig über die Normandie aus, bis sie Appenweier erreichten.

    Herr Gaub hatte Babettes Koffer aus der Gepäckablage und auch aus dem Zug gehoben und auf dem Bahnsteig abgestellt. Als sein Handy klingelte, hatte er ihr entschuldigend zugelächelt und sich von ihr abgewandt. Sie sah ihn in einiger Entfernung immer noch mit dem Handy am Ohr stehen. Das Gespräch beendete er kurz darauf und kam auf sie zu. Noch im Gehen entnahm er dem vorderen Fach seiner Laptoptasche einen kleinen flachen Gegenstand. Babette war erstaunt, dass Herr Gaub auf Reisen einen Flachmann mit sich zu führen schien.

    „Sie sehen so aus, als könnten Sie etwas Wärmendes gebrauchen. Das ist ein Firmenwerbegeschenk von der gestrigen Weihnachtsfeier, wunderbarer alter elsässischer Pflaumenbrand, wenn auch in deutscher Verpackung."

    Herr Gaub schraubte den Verschluss auf, in dem sich zwei ineinander gesteckte Schnapsgläser aus Edelstahl verbargen und füllte eines davon. Er hielt Babette das Glas mit einem Lächeln hin. Babette roch Pflaume und einem Hauch von Zimt. Ohne zu zögern, griff sie zu. Nachdem Herr Gaub sich ebenfalls eingeschenkt hatte, prosteten sie sich mit einem „Santé" zu und tranken.

    Babette behielt den Alkohol einen Moment im Mund, bevor sie ihn schluckte, schloss die Augen und konnte einen Seufzer nicht unterdrücken.

    Formidable. Der Pflaumengeschmack lässt einen fast vergessen, dass man hochprozentigen Schnaps trinkt. Ein klein wenig schmeckt man das Eichenfass heraus, aber das darf sein. Babette hielt ihm das leere Gläschen hin. „Wäre es unverschämt, noch einen zweiten Schluck zu erbitten?

    Herr Gaub füllte nach einem verblüfften Zögern ihr und auch sein Glas ein weiteres Mal. Diesmal schnupperte Babette ausführlich am Glas, bevor sie trank. Dann reichte sie das Glas zurück.

    Merci beaucoup, das war ein Genuss und hat nicht nur meinen Zehenspitzen richtig gutgetan, auch mein Magen hat sich gefreut."

    Herr Gaub bot an: „Sie können gern noch einen weiteren Schluck haben. Das Fläschchen ist noch fast voll."

    Babette lachte: „Nein danke, das reicht, sonst fange ich gleich an zu singen."

    Sie nahm ihm mit einem „Darf ich mal sehen?" den silbernen Flachmann aus der Hand und betrachtete ihn genauer. „Das ist ein sehr geschmackvolles Stück. Wir haben in unserem Hofladen nur schlichte Flasques mit unserem Calvados. Aber den Touristen, die die Flacons kaufen, kommt es eher auf den Inhalt als auf das Aussehen an."

    Diese Aussage ließ Herrn Gaub ins Deutsche verfallen: „Wie, Sie sind vom Fach? Sie verkaufen auch Flachmänner?"

    Angesichts Babettes Verwirrung, stellte er die Frage nochmals auf Französisch.

    „Na ja, eigentlich verkaufen wir eher den Inhalt dafür. Wir produzieren auf dem Hof in einer kleinen Brennerei Calvados, den wir im Hofladen verkaufen. Als Anreiz für die Touristen füllen wir einen Teil davon auch in schlichte Flachmänner, die wir vom Großhandel beziehen. Haben Sie etwas mit der Produktion von Flachmännern zu tun?"

    Die Antwort von Herrn Gaub ging im Lärm eines einfahrenden Zuges unter. Der Lautsprecher verkündete, dass man zur Weiterfahrt nach Frankfurt am Main über Baden-Baden, Karlsruhe und Mannheim einsteigen solle. Herr Gaub verstaute den inzwischen verschlossenen Flachmann in seiner Tasche und nahm Babettes großen Koffer hoch. Der Zug kam mit einer der Türen zu einem 1.Klasse-Abteil direkt vor ihnen zum Stehen. Herr Gaub öffnete die Tür und wandte sich zu Babette um:

    „Sie gestatten, ich steige zuerst ein und suche uns einen schönen Platz".

    Er wuchtete Babettes Koffer die Stufen hoch und stieg leichtfüßig hinterher. Das eröffnete Babette einen Blick auf blaugrau karierte Strümpfe, die in den schlecht geputzten Stiefeletten verschwanden. Herr Gaub eroberte direkt am Eingang des Waggons zwei Plätze für sie und verstaute Babettes Koffer im Zwischenraum hinter Babettes Sitz.

    „Da müssen Sie ihn dann nur in Frankfurt herausziehen und nicht von oben herunterholen."

    Nachdem sie sich an ihrem Zweiertischchen eingerichtet hatten, nahm Babette eine kleine Metalldose aus ihrer großen Handtasche und öffnete den Deckel. Sie hielt Herrn Gaub die Dose hin.

    „Mein Seelentröster bei Kälte und Heimweh: karamellisierte Walnüsse von unserem Baum zu Hause. Aber Vorsicht, nicht nur süß!"

    Herr Gaub angelte sich eine der klebrigen Köstlichkeiten und steckte die Nuss nach einer kurzen Inspektion in den Mund. „Oh, da ist ja offensichtlich Chili mit hinein geraten", nuschelte er.

    Babette nickte: „Création von Félix, wird auch gern zum Calvados genommen. Wie war das denn nun: Sie handeln also mit Flachmännern, oder?"

    Herr Gaub lachte: „Ja, aber eigentlich nicht ich, das ist alles ein bisschen komplizierter. Es handelt sich bei dabei um eine Tochterfirma eines großen Familienbetriebs, der Zigaretten und Zubehör für Raucher vertreibt. Den hat mein Urgroßvater Anfang des letzten Jahrhunderts gegründet. Mein Großvater hat sich, nachdem er wegen seines angeblich zu lockeren Lebenswandels Krach mit seinem Vater bekommen hatte, mit dieser Flachmannproduktion abgesetzt. Aber irgendwie haben sich die beiden dann doch wieder so weit angenähert, dass der Vertrieb der Flachmänner über die ursprüngliche Firma erfolgt und mein Großvater und später mein Vater nur noch für den Entwurf und die Produktion von Flachmännern zuständig waren."

    „Und die haben Sie nun von Ihrem Vater übernommen?"

    Herr Gaub seufzte: „Zum großen Bedauern meiner Eltern habe ich überhaupt kein Interesse an diesen Flachmännern gehabt. Schon als kleiner Junge habe ich davon geträumt, Häuser zu bauen. Ich habe mich gegen meine Eltern durchgesetzt, Architektur studiert und dann auch als Architekt gearbeitet. Derzeit betreue ich den Umbau eines Familienhotels in Straßburg. Als mein Vater vor einigen Jahren starb, hat meine Mutter notgedrungen die Geschäftsführung übernommen, was sie auch eine Weile ganz gut gemeistert hat, aber inzwischen ist es doch zu viel für sie geworden. Ich habe es jetzt übernommen, da es außer mir keine weiteren Familienangehörigen gibt, die dazu bereit sind. Meine Tochter hat, so wie ich damals, kein Interesse an dem Geschäft. Nun hänge ich also ungewollt doch mit drin in dem Familienunternehmen."

    Herr Gaub schwieg und schaute aus dem Fenster in die vorbeifliegende winterliche Landschaft. Babette störte ihn nicht in seinen wo auch immer sich befindenden Gedanken.

    Erst als er ihr den Kopf wieder zuwandte, sagte sie: „Ja, das ist so eine Sache, wenn Eltern einen Betrieb an ihre Kinder weitergeben wollen, diese aber andere Pläne haben. Das kenne ich."

    „Sie meinen Ihren Sohn, der jetzt lieber im Rheingau Koch werden will, als auf dem Hof in der Normandie zu bleiben?"

    „Wir waren eigentlich sicher, dass er nach seinem BWL-Studium die Landwirtschaft mit der Cidre- und Calvados-Produktion übernehmen würde. Seine beiden älteren Schwestern haben von vornherein klargemacht, dass sie nicht auf dem Hof bleiben werden. Juliette wollte von klein auf Meeresbiologin werden. Und Brigitte war die geborene Lehrerin. So wäre es an Félix gewesen, den Hof zu übernehmen. Er hat auch nie widersprochen, wenn wir Pläne in die Richtung gemacht haben. Aber seine Liebe zum Kochen und die Liebe zu Franziska aus dem Rheingau waren stärker."

    „Das war für Sie und Ihren Mann sicher auch nicht einfach zu verkraften, schließlich möchte man das, was man sich erarbeitet hat, doch auch an die Kinder weitergeben. Das habe ich inzwischen dank des immerwährenden Nörgelns meiner Mutter über mich als beruflich abtrünnigen Sohn gut verstanden."

    Babette wurde zunächst einer Antwort enthoben, da sich der Zug Karlsruhe näherte und Unruhe um sie herum entstand. Viele der Reisenden verließen offensichtlich den Zug, um hier umzusteigen und stauten sich mitsamt dem Gepäck im Gang zwischen den Abteilen.

    Nachdem auch die Zugestiegenen Plätze gefunden hatten, erklärte Babette: Mein Mann ist leider vor mehr als 25 Jahren unter bis jetzt ungeklärten Umständen verschwunden. Aber er hätte es sicher auch gern gesehen, wenn sein nachgeborener Sohn den Hof weitergeführt hätte.

    Jetzt war es Babette, die blicklos aus dem Fenster starrte. Herr Gaub hatte sich bis auf ein erschrockenes „Oh" nicht weiter geäußert.

    Babette lächelte ihm zu: „Ich weiß, das klingt dramatisch und das war es damals auch, aber es ist ein viertel Jahrhundert darüber hinweggegangen, und ich habe gelernt, dass es irgendwie immer weitergeht. Wie ist das denn nun mit diesen Flachmännern? Die gefallen mir außergewöhnlich gut. Könnten Sie sich vorstellen, mir welche zu liefern? Es kommt natürlich auch ein bisschen auf den Preis an."

    Herr Gaub holte aus der Innenseite seines Jacketts eine Visitenkarte, die er Babette überreichte.

    „Ich würde vorschlagen, das besprechen wir entweder bei einem Treffen in unserem Firmensitz in Mannheim oder, je nachdem, wie lange Sie sich im Rheingau aufhalten, auch gern dort. Ich jedenfalls kann mir Calvados aus der Normandie gut in Flachmännern aus dem Hause Gaub vorstellen. Preislich werden wir uns bestimmt einigen. Das hier ist meine private Telefonnummer, Sie müssen sich also nicht erst über irgendwelche Sekretärinnen zu mir durchfragen. Das macht die Sache sicher einfacher."

    Babette steckte die Karte in ihre Handtasche. „Ich habe leider keine Visitenkarte und auch kein Handy. Ich könnte Ihnen allenfalls die Anschrift und Telefonnummer unseres Hofes in Marolles geben, aber das nutzt nicht viel, denn ich bin jetzt einige Zeit bei Félix im Rheingau."

    „Wenn Sie kein Handy haben, dann konnten Sie Ihren Sohn auch nicht von unserer Verspätung unterrichten, wollen Sie es jetzt noch von meinem Handy aus versuchen? Dann macht er sich weniger Sorgen. Die Informationen, die die Deutsche Bahn so von sich gibt, helfen meist nicht wirklich weiter."

    Babette zögerte kurz, dann entnahm sie ihrer Handtasche ein kleines Notizbuch und schlug die Seite mit Félix‘ Handynummer auf.

    „Also gut, vielleicht ist es wirklich besser, ich versuche ihm Bescheid zu sagen, dass ich zumindest schon mal bis – wie hieß der letzte Halt? – gekommen bin."

    „Das war Karlsruhe, in 20 Minuten sind wir in Mannheim und dann dauert es noch etwa eine halbe Stunde, bis Sie in Frankfurt sind."

    Herr Gaub hatte sein Smartphone aus der Jackettasche genommen. Wollen Sie mir die Nummer sagen? Dann wähle ich schon mal für Sie.

    Nach der Eingabe der von Babette genannten Ziffern reichte Herr Gaub das Telefon weiter. Babette hörte zunächst ein Freizeichen und dann auf Französisch die Ansage, dass der Teilnehmer derzeit nicht erreichbar sei. Das war bei Félix allerdings nicht ungewöhnlich. Im Gegensatz zu den meisten aus seiner Generation, trug er das Handy oft ausgeschaltet mit sich herum.

    Babette reichte das Telefon an Herrn Gaub zurück. „Er meldet sich nicht, aber das kenne ich von ihm."

    Herr Gaub schaute dennoch skeptisch. „Sind Sie sicher, dass er Sie abholt?"

    „Ja, Félix ist fast immer zuverlässig, und in Frankfurt wird es doch hoffentlich eine Ansage geben, dass dies der Ersatz für den ausgefallenen Zug ist?"

    „Soll ich Sie nicht vielleicht bis Frankfurt begleiten, um sicher zu gehen, dass Sie gut in den Rheingau weiterkommen?"

    „Nein, das ist sehr freundlich, aber nicht nötig, im Zweifel steige ich allein um. Ich muss in einen Regionalzug nach Neuwied und in Ibelsbach aussteigen. Dort kennt jeder das Weingut der Familie Reimers, hat Félix gesagt. Ich bin zwar das erste Mal außerhalb Frankreichs unterwegs, aber ich bin erwachsen und habe drei Monate Deutsch gelernt. Das wird ja wohl reichen, um in den Rheingau zu kommen!"

    Herr Gaub legte eine Hand beschwichtigend auf Babettes Unterarm. „Verzeihen Sie. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als würde ich Ihnen irgendetwas nicht zutrauen. Wer drei Kinder allein groß zieht und dazu einen Hof mit Cidre- und Calvados-Produktion führt, der schafft noch ganz andere Dinge, da bin ich mir sicher."

    Babette erzählte ihm jetzt lieber nicht, dass sie durchaus Hilfe bei diesen Unternehmungen gebraucht hatte. Einmal durch die vor neun Monaten verstorbene Schwiegermutter Hélène, die maßgeblich an der Erziehung und Betreuung der Kinder beteiligt gewesen war, zum anderen durch die Freunde Paul und Marie, die von ihr die Ziegenmilch für die Produktion des Ziegenkäses abgenommen und sie auch beim Apfelanbau und der Verwertung der Früchte unterstützt hatten. Auch der Dorfgendarm Alphonse hatte ihr immer gern zur Seite gestanden.

    „Ich melde mich in den nächsten Tagen bei Ihnen und dann können wir uns vielleicht in Frankfurt treffen. Ich würde mir die Stadt gerne anschauen und das könnten wir doch mit einem geschäftlichen Termin verbinden. Sie wissen sicher ein Restaurant, in dem wir uns treffen können. Oder vielleicht kann Félix uns eines empfehlen und kommt unter Umständen auch mit."

    Herr Gaub grinste: „Die Hoffnung also doch noch nicht aufgegeben, dass der Sohn sich für den mütterlichen Betrieb interessiert? Wenn Sie mögen, bringen Sie ihn gern mit. Wenn Sie nichts dagegen haben, dann übernehme ich die Rolle des Touristenführers in Frankfurt für Sie. Es ist nicht weit von Mannheim, und ich habe früher einige Jahre in Frankfurt gewohnt. Mit meiner Mutter habe ich dort noch ein Opernabonnement. Es zieht mich also immer wieder dorthin. Es würde mir wirklich Spaß machen, Ihnen meine Lieblingsseiten dieser Stadt zu zeigen."

    Über den Lautsprecher wurde die baldige Ankunft in Mannheim angekündigt. Herr Gaub nahm seine Laptoptasche und den Mantel aus der Gepäckablage.

    „Ich habe mich sehr über Ihre charmante Reisebegleitung gefreut. Sie sind eine bemerkenswerte Frau und ich würde unsere Gespräche gern fortsetzen. Nicht nur auf geschäftlicher Ebene." Er zog seinen Mantel an.

    Babette war ebenfalls aufgestanden und reichte ihm die Hand. "Monsieur Gaub, es war auch mir eine Freude. Wir werden unsere Gespräche sehr gern fortsetzen. Ich melde mich."

    Herr Gaub hauchte einen Handkuss auf ihren Handrücken und verabschiedete sich mit einem deutschen „Auf Wiedersehen." Dann war er Richtung Ausgang verschwunden.

    Der Zug hatte sich geleert. In Mannheim war kaum jemand zugestiegen und der Platz ihr gegenüber, auf dem gerade noch Herr Gaub gesessen hatte, blieb leer. Draußen dämmerte es. Babette packte die Dose mit den Nüssen in ihre Tasche zurück, dabei fiel ihr Blick noch einmal auf die Visitenkarte von Herrn Gaub. Geschwungene blaue Schrift auf weißem Grund. Der Name und die Berufsbezeichnung vom Umriss eines Hauses gerahmt. Ein paar lose Steine waren auf der ganzen Karte verteilt. Babette steckte die Karte in die kleine Seitentasche, die eigentlich fürs Handy vorgesehen war. Dort würde sie sie eher wiederfinden als am Boden der geräumigen Tasche. Endlich konnte sie die Stiefeletten ausziehen und die Füße hochlegen. Sie wehrte sich vergeblich gegen die aufkommende Müdigkeit.

    Die Lautsprecherstimme riss sie aus ihrem Dämmerzustand hoch und kündigte die Ankunft in Frankfurt an. Babette quälte sich in ihre neuen Schuhe und zog die Jacke an. Sie fuhren über einen Fluss, in dem sich die Lichter der Häuser spiegelten. Das war der Main, hatte sie im Deutschunterricht bei Walter gelernt. Mit umgehängter Tasche zog sie ihren Koffer zwischen den Sitzen hervor und machte sich auf den Weg zur Tür. Vor ihr standen bereits andere Reisende, die stumm nach draußen starrten. Der Zug wurde langsamer und hielt schließlich an. Einer der Schaffner stand in der geöffneten Tür und hob ihren Koffer auf den Bahnsteig. Ihr Waggon war noch außerhalb der Bahnhofshalle zum Stehen gekommen, es nieselte. Babette schlug die Kapuze ihrer Jacke hoch und schaute sich um. Von Félix war keine Spur zu entdecken. Er konnte nicht wissen, in welchem Wagen sie saß, also würde er vernünftigerweise am Anfang des Gleises warten. Frankfurt war ein Sackbahnhof, auch das hatte Babette gelernt. Sie machte sich auf den Weg.

    Ankunft in Ibelsbach

    Freitag, 18.12.2015

    Der Schaffner kam durch den Waggon auf Babette zu. Sie meinte aus seinen Äußerungen heraus zu hören, dass die nächste Station Ibelsbach sein würde. So wirklich nach deutscher Sprache klang das, was da aus dem Mund des Mannes herauspolterte, nicht. Walters Deutsch, bei dem Babette in Honfleur einige Monate Privatunterricht genommen hatte, nachdem der Plan entstanden war, Félix und die Familie Reimers an Weihnachten zu besuchen, hatte sich anders angehört.

    Babette zog ihre Jacke an und hängte sich die Tasche um. Der Schaffner bemächtigte sich ihres Koffers und stellte sich mit ihr zusammen an die Tür. Nachdem der Zug ausgerollt war, drückte er den grün aufleuchtenden Knopf und betrat als erster den Bahnsteig. Er wuchtete Babettes Koffer hinaus und reichte ihr sodann die Hand. Mit einem Nicken verabschiedete er sich von Babette, schwenkte seine Taschenlampe Richtung Triebwagen und schwang sich wieder aufs Trittbrett. Mit seinem Schlüssel löste er den Schließmechanismus der Türen aus, winkte Babette aufmunternd zu und verschwand im Wageninneren.

    Babette blickte sich um. Die mit ihr ausgestiegenen Fahrgäste waren inzwischen in der Dunkelheit verschwunden. Das Bahnhofsgebäude sah unbelebt aus. Die Zeiger der Bahnhofsuhr standen auf 19.15 Uhr. Auf dem Bahnhofsvorplatz war eine Bushaltestelle zu erkennen, an der eine Gruppe Jugendlicher mit Bierflaschen in der Hand herumlungerte. Davor stand ein Polizist, der mit fuchtelnden Armbewegungen auf ein Mädchen einredete. Sein Polizeiwagen parkte mit ausgeschaltetem Motor in der Haltebucht.

    Babette holte den Zettel mit der Anschrift der Familie Reimers aus ihrer Jacke und setzte sich in Richtung Bushaltestelle in Bewegung. Das Geratter der Räder ihres Koffers veranlasste sowohl die Jugendlichen als auch den Polizisten, sich zu Babette umzudrehen. Der Polizist kam auf sie zu und fragte in schnellen Deutsch:

    „Was machen Sie denn hier? Wo wollen Sie um diese Uhrzeit noch hin? Ein Hotel gibt es hier im Ort aber nicht, jedenfalls keins, das um die Jahreszeit auf hat. Kann ich Ihnen helfen?"

    Babette hielt ihm den Zettel entgegen.

    „Ach, Sie wollen zum Weingut der Reimers?"

    Darauf antwortete Babette nur mit einem Nicken und einem erleichterten „Oui." Sie fühlte sich, so kurz vor dem Ziel der aufregenden Reise, nun doch erschöpft.

    Der Polizist musterte sie: „Sind sie etwa die Mutter von Félix, dem Freund von unserer Franziska? Die Reimers erwarten Sie eigentlich erst morgen, da haben wir heute früh noch drüber geredet, als ich bei Cathrine mal wieder von deren Hauswein geholt habe."

    Babette schaute ein wenig verständnislos, sie hatte immerhin so viel herausgehört, dass der Polizist sie zu kennen meinte. Bevor sie sich ihren nächsten deutschen Satz überlegen konnte, griff der Mensch nach ihrem Koffer und nach ihrem Arm.

    „Kommen Sie, ich fahre Sie schnell hin."

    Das wurde so langsam und deutlich gesprochen, dass Babette den Inhalt des Satzes mühelos verstehen konnte. Kurz war sie versucht, dieses Angebot abzulehnen. Sie konnte doch nicht einfach zu irgendeinem Mann ins Auto steigen. Dann machte sie sich aber klar, dass dies hier nicht irgendein Mann war, sondern einer in Polizeiuniform. Sie musste an Alphonse, den heimischen Dorfpolizisten in Marolles denken. Der hätte auch eine verirrte und einsame Touristin aufgesammelt und an ihren Bestimmungsort gebracht. Dies schien offensichtlich der Alphonse von Ibelsbach zu sein.

    Erleichtert kam ihr deshalb ein „Merci, Monsieur" von den Lippen. Der Mann vor ihr schlug die Hacken zusammen, salutierte und streckte ihr die Hand entgegen:

    „Gestatten, mein Name ist Karl-Heinz Dippel."

    „Babette Segon, die Mutter von Félix".

    Der Polizist öffnete ihr die Tür auf der Beifahrerseite des Streifenwagens und ließ sie einsteigen. Nachdem er ihren Koffer im Kofferraum verstaut hatte, wandte er sich noch einmal zu dem einzigen Mädchen in der Gruppe Jugendlicher. Diese hatten das Gespräch zwischen Babette und Karl-Heinz Dippel gespannt verfolgt.

    „Charlie, ich möchte, dass du jetzt sofort nach Haus gehst. Deine Mutter wartet schon seit zwei Stunden mit dem Abendessen auf dich. Du bist noch viel zu jung, um hier im Dunkeln an der Bushaltestelle mit …"

    „Na was denn, mit wem soll sie hier nicht rumlungern, sprich es ruhig aus, wir wissen doch alle, was du von uns hältst", ereiferte sich einer der Jungs mit langen blonden Haaren.

    „Lass gut sein Kevin, mir ist es hier eh zu kalt, ich geh erst mal heim. Wir sehen uns später noch im Vereinsheim. Und zu Karl-Heinz Dippel gewandt. „Ich lunger hier nicht rum, ich bin grad aus der Schule gekommen und auf dem Heimweg, mit 14 Jahren brauch ich keinen Babysitter mehr.

    Als der Polizist sich neben Babette auf den Fahrersitz setzte, schaute diese ihn fragend an. Karl-Heinz Dippel drehte sich zu ihr:

    „Das ist Charlotte, meine Nichte. Sie wächst ohne Vater auf und meine jüngere Schwester macht sich große Sorgen um sie, dass sie in schlechte Kreise gerät." Er bemühte sich, langsam und deutlich zu sprechen.

    „Aha, kein Papa, das habe ich verstanden, aber was ist 'schlechte Kreise'?"

    Karl-Heinz Dippel seufzte: „Alkohol, Drogen, falsche Männer. Ich bring Sie jetzt erst mal zu den Reimers. Hatten Sie eine gute Fahrt?"

    Babette versuchte, ihm ihre Reiseerlebnisse zu schildern, merkte aber schnell, dass das Aneinanderreihen mehrerer deutscher Sätze nicht so einfach war, wenn man sie erst aus den französischen Gedanken übersetzen musste. Sie war müde und da war das mit der Konzentration so eine Sache.

    Karl-Heinz Dippel lachte in ihre radebrechenden Versuche hinein. „Das klingt alles sehr anstrengend und nach dem üblichen Erleben bei Reisen mit der Deutschen Bahn."

    Er setzte den Blinker und bog nach links in eine offenstehende Hofeinfahrt ab.

    Ein Bewegungsmelder warf Licht auf ein weiß angestrichenes, mit Wein bewachsenes, massives Gebäude, das den Hof an drei Seiten umrahmte. An zwei Seiten zeigten die regelmäßig im Mauerwerk eingelassenen Fenster, dass es sich wohl um das Wohngebäude handelte. Die dritte Seite, die über die zwei Stockwerke der anderen Seiten ein Stück hinausragte, schien ein Lager oder eine Scheune zu sein. Während Babette noch mit der Betrachtung des Hauses beschäftigt war, war Karl-Heinz Dippel ausgestiegen und hatte seinen Streifenwagen umrundet. Er öffnete Babette galant die Tür.

    „Da wären wir. In der Küche ist Licht. Um diese Zeit sind die Reimers meistens beim Abendessen."

    In diesem Moment öffnete sich die Haustür, ein schwarzer Hund versuchte sich auf den Polizisten zu stürzen, wurde aber von einer Frau in Babettes Alter am Halsband zurückgehalten.

    „Hab ich doch richtig gehört, dass es dein Auto ist, Kalli. Was machst du um die Zeit hier, hast du den Wein etwa schon wieder ausgetrunken?"

    Mit dem freien Arm drückte die Frau den Polizisten an sich. Der Hund nutzte die Gelegenheit, sich ihrem Griff zu entwinden und sprang auf Babette zu. Diese packte ihn am Halsband und hinderte ihn so, an ihr hochzuspringen.

    Tu pourrais être un frère d‘ Hippolyte, mon bijou." Sie kniete sich vor ihm hin und kraulte ihn unter dem Kinn.

    „Syrah, bei Fuß!, tönte es von der Besitzerin des Hundes. „Das glaube ich jetzt nicht, wenn mich nicht alles täuscht, dann sind Sie die Mutter von Félix, Babette Segon! Wo hast du sie her, Kalli? Wir erwarten sie erst morgen.

    Babette hatte sich erhoben und ging auf die Hausherrin zu. „Oui je suis la mère de Félix, bonsoir, Madame Reimers."

    Die Frauen umarmten sich ein wenig unbeholfen.

    Cathrine Reimers wechselte ins Französische: „Herzlich willkommen auf dem Reimershof, liebe Babette, ich bin Cathrine, die Mutter von Franziska. Wollen wir es unseren Kindern gleichtun und uns duzen?"

    Mit einem Seufzer antwortete Babette: „Aber gern, woher kannst du so gut Französisch?"

    „Ich stamme aus dem Elsass, genauer gesagt aus Kaysersberg. Irgendwann hat mich die Liebe hierher verschlagen. Aber seine Muttersprache verlernt man nicht, das ist genauso wie mit dem Fahrradfahren." Beide Frauen lachten.

    „Warum hast du nicht Bescheid gesagt, dass du einen Tag früher kommst, dann hätten wir dich in Frankfurt am Bahnhof abgeholt?"

    Babettes Gesicht war ein großes Fragezeichen. „Wieso früher? Es war immer schon heute ausgemacht. Ich habe mit Félix doch letzte Woche noch telefoniert, er wollte mich abholen. Wo steckt er überhaupt?"

    „Er ist im 'Bären', dort hat der Lions-Club Rheingau heute seine Weihnachtsfeier, da gibt es in der Küche viel zu tun. Franziska macht den Service, das dauert, bis die zwei nach Hause kommen. Jetzt komm aber schnell rein, es ist so ungemütlich hier draußen."

    Während des Gesprächs der beiden Frauen, hatte Karl-Heinz Dippel Babettes Koffer aus dem Wagen geholt und im Hausflur abgestellt.

    „Oh danke, Kalli, offensichtlich warst du mal wieder zur rechten Zeit am rechten Fleck. Magst du eine Kleinigkeit mit uns essen, wir sitzen gerade am Abendbrottisch?"

    „Danke, Cathrine, würde ich gern, aber ich bin im Dienst. Muss gleich mal wieder auf der Polizeistation in Rüdesheim vorbeischauen. Ich war eher zufällig am Bahnhof, als der Zug aus Frankfurt ankam, und da habe ich Félix‘ Mutter aufgelesen. Irgendwie ja wieder typisch Félix, dass er die Ankunft seiner Mutter verpasst." Der tadelnde Unterton in seiner Stimme war unüberhörbar.

    „Lass gut sein, Kalli. Es hat sich doch alles bestens gefügt. Danke dir für deine Unterstützung."

    Cathrine hatte Babette untergehakt und zog sie nun mit in den Hausflur. Diese winkte dem Polizisten mit einem „Merci Monsieur, à bientôt" zu.

    Cathrine schloss die Tür. Sie standen in einem geräumigen Hausflur, in dem sich Syrah inzwischen auf seinem Hundekissen unter der Garderobe niedergelassen hatte. Cathrine nahm einen Bügel von der Wand und forderte Babette auf:

    „Gib mir mal deinen Mantel. Den Koffer lassen wir hier stehen, jetzt komm erst mal mit in die gute Stube. Du hast nach der langen Reise sicher Durst und Hunger. Sie öffnete eine Tür neben der Haustür. „Vielleicht möchtest du dich aber auch eben noch frisch machen. Hier ist die Toilette. Ich gehe schon mal in die Küche. Sie zeigte auf eine angelehnte offene Tür am Ende des Flurs. „Komm doch einfach nach, wenn du fertig bist."

    Babette betrat die kleine Toilette und nahm einen leichten Lavendelduft war. Sie schnupperte an der Seife und genoss es, sich das fließende Wasser über die Hände laufen zu lassen. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Die lange Reise hatte Spuren hinterlassen. Müde Augen blickten ihr entgegen. Eigentlich hätte sie sich gern gleich in ihr Zimmer zurückgezogen und noch ein wenig über den Tag nachgedacht. Der Abschied in Paris von Brigitte, die Begegnung mit Herrn Gaub in Appenweier, der Dorfpolizist Kalli, der sie so sehr an Alphonse, den Gendarmen in Marolles erinnerte. Aber jetzt galt es, noch ein wenig Konversation mit Cathrine und ihrem Mann, dem Vater von Franziska, zu machen. Und gegen gutes Essen hatte sie eigentlich auch nichts einzuwenden. Allerdings roch es hier nicht nach Essen, wie es auf dem Hof in Marolles um diese Zeit der Fall gewesen wäre. Sie straffte die Schultern und machte sich auf den bezeichneten Weg in die Küche.

    Als sie eintrat, erhob sich ein Mann im karierten Hemd vom Tisch.

    „Hallo Babette, ich bin Siegfried, der Vater von Franziska und der Mann von Cathrine. Herzlich willkommen bei uns auf dem Hof. Ich freue mich, dass du da bist. Ich spreche leider nicht gut Französisch, aber wir werden uns mit den Händen und den Füßen und mit Hilfe von Cathrine schon verständigen können."

    Er trat auf sie zu, packte sie bei den Schultern und hauchte drei Wangenküsse rechts und links in die Luft.

    Babette lachte „Das mit den Händen und den Füßen habe ich inzwischen verstanden, damit malen wir in der Luft, wenn es nicht anders geht."

    Cathrine reichte ihnen beiden ein gut

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