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Experimente geburtenstarker Jahrgänge
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Experimente geburtenstarker Jahrgänge
eBook205 Seiten3 Stunden

Experimente geburtenstarker Jahrgänge

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Über dieses E-Book

Die aus mehreren Perspektiven erzählte Geschichte beleuchtet das Los einer Familie anhand entscheidender Fragmente ihres Lebens. Eine parallele Erzählung erkundet das Phänomen »Schicksal« und skizziert in bildhafter Form, wie das individuelle Einzelerleben mit dem »Gesamten« verwoben ist: Die Gesellschaft, eine Stadt und ihre Bewohner auf der Suche nach dem persönlichen Glück. Diese mitunter poetische Erzählung kombiniert tragikkomische Details mit einfühlsamen Beobachtungen und präsentiert fein gezeichnete Charaktere vor einer Kulisse gesellschaftlicher Umbrüche.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Aug. 2016
ISBN9783734549885
Experimente geburtenstarker Jahrgänge

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    Buchvorschau

    Experimente geburtenstarker Jahrgänge - Jörg Hülshorst

    Teil I

    Einatmen – Ausatmen

    SoL

    Erneuerung

    Als Helene Ginster an diesem letzten Morgen die Vorhänge ihres Schlafzimmerfensters müde beiseiteschiebt und zu ihrem Mann hinunterblickt, steckt Guido bereits knietief im Müll. Mit dem einen Bein in der gelben und dem anderen in der blauen Tonne herumstochernd, versucht er gerade einige am Vorabend eilig herbeisortierte Überbleibsel aus alten Zeiten sachgerecht zu entsorgen. D

    IE LETZTE VERGLEICHBARE

    A

    KTION LIEGT SCHON EINE

    W

    EILE ZURÜCK

    .

    Gleichgewicht

    Breitbeinig verlagert Guido sein Gewicht abwechselnd von der linken auf die rechte Körperhälfte, bis es ihm gelingt, den Unrat in beiden Tonnen deutlich unter die halbe Füllhöhe niederzutrampeln. Nur seinen langen Beinen hat er es zu verdanken, dass er überhaupt dort hineingekommen ist – ohne Trittleiter eine riskante Angelegenheit.

    Bei ähnlichen Übungen ist er früher schon mehrmals auf dem Rücken gelandet – oder auf dem Steiß. Wenn die Füllung nach der Gewichtsverlagerung auf sein linkes Bein nicht hinreichend nachgibt (links ist er beweglicher als rechts), dann liegt der Schwerpunkt zu weit oben und die erste Tonne kippt bereits, während er das rechte Bein noch über die Kante der zweiten hievt, um ein Gleichgewicht zu finden, das nicht mehr existiert. Obwohl ihn das instinktive Auseinanderreißen der Arme seitlich zu stabilisieren schien, hatte ihn bei diesen Gelegenheiten sein Problem bereits von hinten erwischt. Mit Ruderbewegungen versuchte er dann vergeblich, seinen Fall abzufangen. L

    UFT MUSSTE DOCH GREIFBAR SEIN

    . Wenigstens sollten ihm die Arme helfen, aus der Rückenlage herauszukommen. Doch die Füße bestimmten seine Ausrichtung – und die wurden festgehalten von dem, was er loswerden wollte. Guido hat eine klare Vorstellung von der natürlichen Hierarchie der Dinge. Dass ein Objekt, oder gleich mehrere, an ihm festhalten, obwohl er, ein Subjekt, bereits die Trennung entschieden hat, passt nicht in seine Welt.

    Heute ist aber zum Glück nichts passiert. In der linken Tonne geben irgendwelche Teile aus zerbrechlichem Kunststoff sofort nach. Vielleicht die alten Kleiderbügel. So kann er mit dem Fuß in die Mitte vordringen und eine stabile Lage herstellen, sich mit beiden Händen am Rand festhaltend noch tiefer vordringen (zu tief ist aber auch nicht gut), bevor der entscheidende Moment kommt: das sichere Platzieren des rechten Fußes. Aus Mangel an Beweglichkeit mit der Spitze am Rand zu scheitern, würde ihn moralisch zurückwerfen, denn nicht umsonst kämpft er seit der Schulzeit, als er sich den Spottnamen Staksi einfing, mit hartnäckiger Disziplin und regelmäßigem Sport gegen die Gewaltherrschaft seiner langen Gliedmaßen.

    Er ist wieder einmal nicht richtig daheim in seinem Körper, an diesem Morgen, und so gibt nicht der Spreizwinkel seiner Oberschenkel, sondern seine kleine Schuhgröße den positiven Ausschlag. Jetzt bloß keinen spürbaren Druck auf die andere Seitenwand ausüben, möglichst sofort mit dem Fuß mitten hinein in den Krempel, sonst läuft er Gefahr, dass die rechte Tonne doch noch kippt … und er mit ihr.

    Im Weiteren kann Guido von seiner Physis profitieren. Doch Achtung! Der Inhalt rechts könnte plötzlich stark absacken, was eine harte Landung mit dem Schambein auf dem Tonnenrand verursachen würde, dies begleitet von einem ekstatischen Schmerz und dem Verlust des gerade gefundenen Gleichgewichts.

    Gleichgewicht. Sofort muss er an den Schweinezyklus denken. Eigentlich kein Zustand. Bestenfalls ein Übergang von einem Extrem ins andere, mal zu viel, mal zu wenig, etwas, das anzustreben ist, aber nie Bestand hat. Auch der Walrasianische Auktionator fällt ihm ein. Den könnte er jetzt gut gebrauchen. Jemand, der die Rechts-links-Gebote seiner Körperhälften mit den labilen Kräften der beiden Tonnen abgleicht.

    Der lästige Stauvorgang muss mehrmals wiederholt werden. Beim ersten Sack ist das Reinkommen schwer – tief hinein –, das Ausgleichen leicht, das Rauskommen schwer. Beim letzten Sack (und nahezu voller Tonne) ist das Reinkommen leicht, das Ausgleichen schwer, das Rauskommen nur noch ein simples Herunterspringen. Möglichst gerade nach oben abheben, nicht zu hoch, dabei die Tonne bloß nicht seitwärts mitreißen und, aus optimaler Fallhöhe sicher landend, mit den Vorderfüßen auf dem Asphalt nachfedern. Denn es gibt da eine Stelle zwischen Mittelfuß und Ferse, die sollte Guido unbedingt schonen. Historisch bedingt droht Elektroschock bis hoch zum Hirn. Ein Schmerz wie Staksi ihn von den gewaltvollen Dehnübungen aus der Schulzeit kennt, als ihm der Sportlehrer, von hinten kommend, die Stirn aufs gestreckte Knie hinabdrückte.

    Nichtsoschön. Einen Unfall darf Guido sich jetzt nicht leisten.

    Intimität

    Helene verfolgt seine unsicheren Bewegungen starr vor Müdigkeit. Nur allmählich kriecht eine unangenehme Erkenntnis von ihren Augen zum Verstand hinüber: Was macht Guido denn da? Disziplin, die er so preist! Dieser Tag ist lange geplant und wenn sie sich jetzt nicht beide konzentrieren, fokussieren, den Zeitplan, die Arbeitspakete abarbeiten … wer weiß, ob sie noch einmal so weit kommen werden.

    Sie hat keine Lust auf die Uhrzeit. Vielleicht ist das Läuten der Glocken um sieben Uhr an ihr vorbeigezogen; sie muss im Tiefschlaf gewesen sein, denn an ihren Halbschlaf kann sie sich gut erinnern, vor allem an Guido, der in der Schwärze des Zimmers mit den Armen vor sich her rotierend an Balken und Schräge vorbei den Ausgang suchte, barfuß und mit seinen Puschen in der Hand – so blitzte diese Szene wieder auf, als sie das Bett erforschte und niemanden darin vorfand.

    Krankenwagen, Gewitter, Hubschrauber … jede Nacht ist besonders, wert behalten zu werden. Während Guido oft über Schlafstörungen klagt, über seinen Blähbauch vom späten Essen und über wirre Träume, weil er zeitweilig nur im Off-state ruht, ist sie in letzter Zeit immer Stand-by. Hormone.

    Offene Fenster am frühen Morgen verletzen Helenes Intimität. Die gewohnte Luft der warmen Stunden noch einmal durch Lunge und Poren schleusen: das ist ihr Ritual des täglichen Hochfahrens. E

    INATMEN FÄLLT IHR MORGENS LEICHTER ALS AUSATMEN

    , wenn die Luft schal und persönlich bekannt ist. Bei offenem Fenster macht sie reflexartig zu, fühlt sich innerlich entblößt. Mit Guido gibt es häufig Streit deswegen, aber ihr Körper ist in der Früh einfach noch nicht reif für frische Partikel.

    Soll sie Guido warnen? Soll sie klopfen, durch die Scheibe rufen? Das Fenster geht ihr nicht von der Hand, stattdessen rudert sie mit den Armen, schüttelt heftig mit dem Kopf und vollführt Bocksprünge. Er muss sie doch bemerken! Mit Zeichensprache und vorwurfsvollen Gesichtsverrenkungen bedeutet sie ihm: Raus aus den Tonnen! Jeder normale Mensch merkt doch, wenn er dergestalt angefunkt wird. – Guidos Gleichmut ist geradezu provozierend. Er will sie wohl nicht beachten! Mit Abscheu dreht sie den Fenstergriff und zieht – vorher schnell den Ausschnitt über die Nase, Innenraumbelüftung. »Was machst du da?«

    Mut

    Was machst du da? Schon liegt er rücklings auf der glänzenden Haube seines Firmenwagens und blickt hinauf zu ihrem bloßen Nabel. Das bodentiefe Fenster offen, das Gesicht vermummt, wollte Helene nur seine Aufmerksamkeit, nicht seinen Sturz. Es war auch nicht der Schreck, der ihn ins Wanken brachte – Guido verliert immer die Orientierung, wenn er hochblicken muss. Bei seiner Körpergröße kommt es selten vor, dass er zu jemandem aufschaut, und wenn es dennoch geschieht, packt ihn sogleich eine unsichtbare Kraft im Nacken und zieht ihn nach hinten, was er reflexartig durch einen kleinen Schritt rückwärts auszugleichen versucht. Diesmal ging der kleine Schritt ins Leere, denn er steckte in den Tonnen. Strauchelnd erinnerte er sich gerade noch rechtzeitig an das Auto, das auf dem Gehsteig geparkt war, und mit einem mutigen Sprung ins blinde Hinten überbrückte er den steifen Gneis und landete auf dem federnden Blech.

    Die Nieten seiner Hose bremsen krächzend auf dem Lack, wie ein Stück Kreide, stumpf über die Tafel gezogen. Ein Geräusch, als beiße er in Alufolie, fräst sich durch seinen Kopf. Warum trägt Helene eine Maske? Ihr muss etwas zugestoßen sein. Ausgerechnet heute. Sie ruft um Hilfe, daher das offene Fenster. Die Finger am Scheibenwischer festgekrallt, findet er endlich Halt.

    Humor

    »Was machst du da? Hast du dir wehgetan? Ich habe dich gesucht. Wo warst du?«

    »Hatten wir doch besprochen. D

    AS

    Z

    EUG MUSS WEG

    . Wenn wir es vorher nicht schaffen, dann niemals!«

    »Steht dir gut: auf dem Rücken.«

    »Steht dir gut: im Gesicht.«

    Ordnung

    Es ist also nichts passiert. Guido rollt über die Haube und verfolgt die blutleeren Wunden, die er geschlagen hat, vorsichtig mit dem Zeigefinger. Eine Rille nach der anderen. O

    RDNUNG SCHAFFT

    U

    NORDNUNG

    . Linien, Parallelen, rechte Winkel. Diese Radierung hier ist Schrott, aber sie hat einen Fluchtpunkt und der weist zum Haus, wo die Verursacherin mittlerweile das Fenster wieder geschlossen hat und ihm den stummen Rücken zeigt. Audienz beendet.

    Guido atmet tief durch, saugt die frühe Morgenluft in seinen Körper hinein, wie ein isotonisches Getränk nach der Erschöpfung. – Helene mit ihrer gepflegten Aversion! Sie ist eindeutig der andere Typ, denn es gibt nur zwei: die, die lieber einatmen, und die, die lieber ausatmen. Daran macht sich alles fest.

    Der Test ist ganz einfach: Fülle eine Badewanne mit lauwarmem Wasser. Lege eine Stoppuhr mit Alarm bereit. Knie nieder. Tauche den Kopf unter und starte die Zeitmessung. Stoppe die Uhr, sobald sich Beklemmungen einstellen (mindestens 30 Sekunden, höchstens 60 Sekunden empfohlen, je nach Empfinden). Dies ist deine persönliche Tauchzeit. Atme ruhig ein und aus, bis der Ruhepuls wiederkommt. Nun atme einmal ganz tief ein (volle Lunge), tauche den Kopf unter und aktiviere den Alarm für deine Tauchzeit. Nimm den Kopf nach Ablauf der Tauchzeit aus dem Wasser und atme aus. Wie fühlst du dich, auf einer Skala von 1 bis 10? Notiere. Atme ruhig ein und aus, bis der Ruhepuls wiederkommt. Nun atme einmal ganz tief aus (leere Lunge), tauche den Kopf unter und aktiviere den Alarm für deine Tauchzeit. Nimm den Kopf nach Ablauf der Tauchzeit aus dem Wasser und atme ein. Wie fühlst du dich auf einer Skala von 1 bis 10? Notiere. Wiederhole diese Übung abwechselnd mindestens dreimal, dann solltest du dir sicher sein, welcher Typ du bist.

    Einatmer sind extrovertierte Menschen, aber das ist nur notwendig, nicht hinreichend. Bei Ausatmern ist es genau umgekehrt: Wer laut einatmet zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Ein heftiges Schschsch-t, durch die Zähne gezogen, alarmiert die Nachbarschaft. Dagegen wirkt ein ausgehauchtes Pfpfpf-d bescheiden, nicht der Rede wert. Guido hat Helene seine Theorie einmal vorgestellt und zahlreiche empirische Belege gebracht, auch Beispielsituationen, die sie gemeinsam erlebt haben. Sie glaubt nicht daran, meint, es komme doch immer darauf an. Und mit einem Augenzwinkern folgt ihr Verweis auf Tennisspielerinnen und so. Und so.

    Vielfalt

    Sie begegnen sich im dunklen Treppenhaus; Helene von oben kommend, Guido von draußen. Offene Taschen, halb fertiggestopft, versperren den Weg. Er tritt zurück. Sie schlüpft vorbei in die Küche. Auf den Tischen liegen Kleidungsstücke, Glasperlen hängen über Stuhllehnen, Nagelschere, Knipser, offene Briefumschläge und leere Wasserflaschen bevölkern die Ablagen. An den Klinken baumeln Bänder mit verschiedenen Gewichten.

    Ästhetik

    »Können wir diese Sachen bitte wegräumen? Das geht so nicht. Einer von uns fällt gleich noch die Treppe herunter.«

    »Das Haus ist zum Wohnen da, kein Museum. Du bist nervös.«

    »Es stört mich ästhetisch. Dieses ganze Zeugs … Wir haben so schöne Möbel – und alles liegt voll. Wie ein schickes Auto mit dicken Kratzern.«

    »Komm mal zur Ruhe. R

    UHE WERDEN WIR NOCH BRAUCHEN

    Gewohnheit

    Helene weiß sich zu befreien. Beziehung ist der Schlüssel. Weg von der Sache, Appelle überhören, keine Selbstoffenbarungen äußern. Dann schmeißt er hin, kann nicht mehr weiter; dann betritt er das Immerland, oder die Nieebene, und sie hat leichtes Spiel.

    Mit einem beiläufigen Knopfdruck bringt sie das Wasser zum Kochen. Sie hat morgens keinen Hunger, nur das Übliche: Brot mit Schnittkäse und einen Tee dazu. Bloß kein Obst. Obst fällt jedes Mal ein bisschen anders aus, abhängig von Herkunft, Reifegrad und Lagertemperatur. Früchte sind Individuen und so schmecken sie auch. Morgens lässt sie nur industrielle Produkte in sich rein. Brot ist schon grenzwertig. Guido kann ja mit dem Toaster spielen, wenn er mag, der Regler bietet unendlich viele Einstellungen, damit lässt sich der Röstgrad einer einfachen Brotscheibe geschmacklich individualisieren. Wenn er beim Schneiden die Scheibendicke variiert, hat er ein einzigartiges Frühstück fabriziert, mit ∞² Gestaltungsmöglichkeiten. Das sollte reichen. Helene legt ihm noch einen Apfel bereit.

    Der Kühlschrank ist fast leer, bis auf ihre Ampullen (die halten ewig). Senf, Honig und eingeweckte Oliven bleiben erst einmal an Ort und Stelle. Den Beutel mit den Resten bekommt Guido sicher draußen noch unter. Jetzt turnt er schon wieder in den Tonnen herum. Das hätte doch Zeit gehabt. Sie hat ihre alten Sachen nicht angefasst, denn es gibt überhaupt keinen Grund, sich heute davon zu trennen. Sie können das jederzeit nachholen. Er aber unterwirft sich den sinnlosen Regeln des Aussortierens (Für jedes Neue geht ein Altes … Was drei Jahre nicht getragen wurde … Jeden Tag nur eine Hose …), damit er Kapazität im Schrank vorhält für Spontankäufe, die nicht stattfinden. Auch einige Haushaltsgegenstände hat er großzügig in einen Müllbeutel geschmissen. Sie stand die ganze Zeit stumm daneben. E

    IN

    T

    EIL NACH DEM ANDEREN MUSSTE ER WIEDER HERVORHOLEN

    . Diesen Aufwand hätte er sich sparen können. Ihre Vetos haben viel Geduld gekostet – und Gefühl.

    »Komm, lass uns frühstücken.«

    Kreativität

    Guido ist fast fertig. Was für eine halbherzige Aktion. Jeder nicht gefüllte Beutel zählt gegen ihn. Er will Ablagefläche zurückerobern. Bis vor Kurzem war es seine Strategie, neue Flächen zu entdecken (der Hohlraum unter der Gartentreppe bot einen ganzen Kubikmeter Staufläche für haltbaren Unrat) oder zu entwickeln. Nun hängen fast überall, wo keine Schränke stehen, Regale über Kommoden. Sie sind am Ende angekommen, mehr geht nicht. Relative Flächengewinnung ist der einzige Ausweg. Weniger Teile pro Quadratmeter, das ist die Lösung. Und weil der Nenner steht, muss der Zähler büßen.

    Außerdem: mehr qualitative Ordnung. Die Nasendusche hat im Kühlschrank nichts zu suchen. Jedes Teil hat seinen Platz oder zumindest sein Zimmer. Schließlich haben sie ab jetzt ein Zimmer weniger für ihre Ansammlungen. Auch daran macht er sein fortgeschrittenes Alter fest: dass er den umbauten Raum um sich herum als enger empfindet. Überhaupt empfindet er häufiger Enge,

    IMMER MEHR UND IMMER KLEINERE

    T

    EILE VERSAMMELN SICH UM IHN

    , während er selber immer weniger wird, nicht im Sinne von kleiner oder dünner, sondern im Sinne eines Pensums, einer Streichliste.

    Guidos Entropiesatz des Alterns lautet: Im Gleichgewichtszustand des Alters findet keine Entropieproduktion mehr statt – es liegt ein Entropiemaximum vor. – Gleichgewichtszustand klingt tröstlich und vertraut nach der ökonomischen Theorie, die er jahrelang internalisiert hat, aber es gibt leider noch keinen Erben. Also muss er den Satz umkehren, im Gleichgewichtszustand sein persönliches Entropieminimum herstellen, die Sachen loswerden, früher oder später … Es bleibt doch hoffentlich noch Zeit?

    Zum Frühstück droht wieder einmal Routine. Als Variante schmiert er sich heute Senf auf das getoastete Käsebrot, dünn geschnitten, und stellt es in die Mikrowelle. Zum Überbacken einer Schnitte sind 30 bis 60 Sekunden empfohlen. Kürzer sollte der Vorgang nicht sein, sonst wird kein Schmelzeffekt erzielt. Bei längerer Bestrahlung hingegen ist hinterher mehr Käse auf dem Teller als auf dem Brot. Helene unterschätzt ihn. Die ihm zugedachten ∞² Gestaltungsmöglichkeiten hat er ohne Mühe um den Faktor 90 erweitert, zerlegbar in 30 mögliche, diskrete Sekundeneinstellungen, multipliziert mit 3 möglichen Senfoptionen: (1) ohne, (2) mit und auf oder (3) mit und unter dem Käse. Bei der Essenszubereitung hat Guido die Ruhe weg.

    Gewissenhaftigkeit

    »Das Taxi kommt gleich. Wir müssen das Haus noch fertig machen.«

    »Und zu Ende packen. D

    IE

    L

    ISTE LIEGT IM

    W

    OHNZIMMER

    . Erledigtes ist schon durchgestrichen. Es fehlt: Fenster abschließen. Wasser abdrehen. Zeitung abbestellen. Das wird eng. Ich bring die Sachen raus. Beeil dich. – Bitte.«

    »Kann warten. Ich bin mir jetzt wichtiger.«

    Vertrauen

    Das Tschüss explodiert mit einem Knall der Tür. Während sie später über die Brücke fahren, wird im Radio

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