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Aschenwind und Sommerschnee
Aschenwind und Sommerschnee
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eBook319 Seiten4 Stunden

Aschenwind und Sommerschnee

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Über dieses E-Book

Wagemutige Wanderschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Nach einem Vulkanausbruch in Indonesien gelangen Tonnen von Asche nach Europa. Das Klima verändert sich dramatisch, und eine Hungersnot verschärft die ohnehin prekäre Lebenssituation der Bevölkerung. Auch im Toggenburg leiden Menschen. Doch ein Webersohn aus ärmsten Verhältnissen widersetzt sich dem Schicksal. Er bricht auf, nutzt seine Talente und wenigen Möglichkeiten, um sein Glück zu machen. Wenn sich diesem bloss nicht fortwährend ein neues Hindernis in den Weg stellen würde …
Ein bewegender Roman über eine wagemutige Wanderschaft und ungewöhnliche Jugend zu Beginn des 19. Jahrhunderts, inspiriert vom Tagebuch «Das Toggenburger Rudeli – eine biographische Skizze aus den letztverflossenen Hungerjahren» von 1825 (Toggenburger Museum, Lichtensteig).
SpracheDeutsch
Herausgeberorte Verlag
Erscheinungsdatum5. Sept. 2022
ISBN9783858303097
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    Buchvorschau

    Aschenwind und Sommerschnee - Monika Rösinger

    Prolog

    In manchen Teilen Europas herrschte Hungersnot. Der Januar 1816 war furchtbar. Das Elend im Tal stieg ins Unermessliche. In den Jahren zuvor war bereits der Tuchhandel zusammengebrochen, die armen Leute hatten keine Reserven. Sie hungerten, und ein böses Nervenfieber raffte Männer und Frauen in den besten Jahren dahin. Reihe um Reihe füllte sich im Gottesacker neben der Kirche. Junge Männer zogen in fremde Kriegsdienste, manche ergaben sich dem Schnaps. Kinder wurden von ihren Eltern auf Betteltour ennet den Ricken oder über die Hulftegg geschickt; viele von ihnen verkamen. Nur einige kehrten zurück, verroht, liederlich und ohne Respekt vor ihren Eltern. Die Obrigkeit beklagte Anarchie und Zügellosigkeit der Bevölkerung. Pfarrer Johann Friedrich getraute sich kaum mehr, zu predigen. Trost boten ihm Briefe von seiner Schwester auf Java.

    Tambora

    Bencoolen, Mitte April 1816

    Mein lieber Bruder

    Du weisst, dass ich mich immer über Deine Zeilen freue. Sie lassen die Heimat vor meinem inneren Auge auferstehen, auch wenn sie mir – Dir kann ich es ja sagen – eigentlich kaum fehlt. Nun lebe ich über zwei Jahre in Java. Mein Leben hier ist um vieles angenehmer und leichter als in England oder zu Hause in der Schweiz. Die Herrschaft ist grosszügig. Sir Thomas ist ein Gentleman, ganz der englische Landedelmann eben. Lady Sophie ist freundlich, nie überheblich. Sie sind ein schönes, liebenswürdiges Paar und behandeln mich respektvoll.

    Ich muss nie nähen, stricken oder sticken, kochen und waschen – alles Dinge, die ich nie gerne gemacht habe. Das Einzige, was ich hin und wieder vermisse, sind die wechselnden Jahreszeiten. Jetzt, im April, würde ich gerne wieder einmal einen blühenden Apfelbaum sehen. Auch die Schlüsselblumen fehlen mir. Dafür wachsen hier Früchte und Orchideen, die Du Dir gar nicht ausmalen kannst. Ich lege Dir einige Skizzen bei.

    Ananas, Mango, Orangen, Papaya, Bananen und Avocados gehören zum täglichen Speiseplan. Auch die Durianfrucht esse ich gerne, obwohl sie übel stinkt. Es ist eigenartig, dass etwas, das so grässlich riecht, derart lecker schmecken kann. Die meisten Früchte sind riesig und wunderbar süss, nicht wie die winzigen Mäuschenoder Schafsbirnen, die wir früher in der Hofstatt des Nachbars stibitzt haben. Den Geschmack mancher Früchte kann ich Dir gar nicht beschreiben, Du müsstest sie selbst kosten. Hier gedeiht alles überbordend. Manchmal wird sie mir fast zu viel, diese Üppigkeit der Natur. In Bencoolen gibt es keine winzigen Leberblümchen, keinen Löwenzahn, keine Weidenkätzchen oder Sumpfdotterblumen wie im lieblichen Thurgau.

    Die beiden Mädchen sind reizend. Charlotte ist manchmal launisch, das liegt wohl an ihrem Alter. Ella hat jeden Tag neue Einfälle. Hier dürfen die Kleinen viel länger fröhliche Kinder bleiben als im steifen England. Sie hatten grosses Glück, dass sie nach dem Tod von Sir Thomas’ erster Frau nicht in ein Internat gesteckt wurden und Lady Sophie ihnen eine liebevolle Mutter ist. Ich bin froh für die beiden und natürlich auch für mich, die ich sonst wohl immer noch im nebligen Grossbritannien sässe. Inzwischen lehre ich die Töchter auch Deutsch. Französisch und Englisch stehen sowieso auf dem Stundenplan. Mit dem Personal sprechen Charlotte und Ella Javanisch. Ich bin oft erstaunt, dass die Kinder wie selbstverständlich in vier Sprachen parlieren. Mir bereitet es Freude, dass ich hier heimatliche Laute höre und spreche. Stell Dir vor, an Weihnachten habe ich mit ihnen «Vom Himmel hoch da komm ich her» gesungen und letzte Woche haben wir ein Frühlingslied eingeübt. Die kleine Hausorgel klingt wegen der tropischen Feuchtigkeit immer etwas heiser, aber das stört niemanden. Die Mädchen können sich die Jahreszeiten nicht vorstellen, aber die Bilder mit den blühenden Apfelbäumen und die Zeichnung mit den Haselsträuchern schauen sie gerne an. Johann Friedrich, bei uns regnete es Asche vom Himmel. Alles ist mit einem grauen Schleier überzogen. Die Hausmädchen schimpfen; das Staubwischen gehört nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Aber die Gouvernante – sie ist eine strenge Jungfer aus Schottland – kennt kein Pardon. Ella freute sich an der Staubschicht, denn sie konnte heute Morgen mit dem Finger direkt auf dem Pult schreiben. Mich dagegen kratzt der Hals und kitzelt es in der Nase. Ich weiss nicht, ob von der feinen Asche, die überall eindringt – sogar zwischen die Seiten der Bücher –, oder vom eigenartigen Geruch in der Luft. Zu Hause würden wir sagen, «es seichelet».

    Sir Thomas hat mir erklärt, es seien Salpetergase, die starke Winde hergetragen haben. Ein Vulkan ist ausgebrochen, zum Glück weit weg, ungefähr 800 Kilometer westlich von uns. Er heisst Tambora, liegt auf der Insel Sumbawa und hat wohl die ganze Bevölkerung das Leben gekostet. Der Schreiber erreicht den britischen Stützpunkt nicht, die Telegraphenleitung ist tot. Von benachbarten Inseln haben wir gehört, dass eine riesige Flutwelle Tausende ins Meer gerissen hat. All die armen Leute, sie tun mir leid.

    Hier haben wir nichts zu befürchten. Die Ländereien des Gouverneurs sind gross. Uns wird es an nichts fehlen. Herr Groothuis, ein holländischer Plantagenbesitzer, hat angeboten, mir auf seiner Plantage Zuflucht zu gewähren, falls es nötig sein sollte. Ha, ich denke nicht daran. Er ist zwar recht gutaussehend und reich dazu, aber ich mag seine herablassende Art nicht. Ausserdem trinkt er zu viel. Und was noch schlimmer ist: Auf seiner Plantage hält er immer noch Sklaven, obwohl Sir Thomas die Sklavenhaltung verboten hat.

    Damit will ich schliessen. Bitte überbringe meine Grüsse den Eltern, Bethli und den anderen Schwestern. Ich hoffe, ihr seid alle wohlauf. Falls ihr vom Vulkan hört, macht euch keine Sorgen. Es geht mir bestens.

    Liebe Grüsse

    Deine Schwester Magdalena

    Im Winkel, Herbst 1816

    Liebe Magdalena

    Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, endlich von Dir zu hören. Dass Du gesund bist und genügend zu essen hast – Gott sei’s gedankt! Mutter hat sich Sorgen gemacht, sie wüsste Dich halt gerne unter der Haube.

    Die Zeitungen berichten über den Vulkan und bilden dazu Zeichnungen ab. Im Akademischen Zirkel haben wir darüber gesprochen, und ein Herr Professor Scheidtlin aus St. Gallen hat an einem Sonntagnachmittag im «Hirschensaal» darüber referiert und die Insel auf einer Landkarte gezeigt. Auch wenn wir den Vulkan mit diesem eigenartigen Namen nie gesehen haben, spüren wir seinen Ausbruch jeden Tag.

    Der Wind hat Tonnen von Asche nach Europa getragen und den Himmel verdunkelt. Die Sonne vermochte im Sommer nicht richtig zu wärmen. Es regnete oft und war viel kühler als sonst. Jeden Monat, auch im Juli und August, schneite es. Schnee, mitten im Sommer! Das Gras wuchs nicht. Kein Heu, kein Emd, kein Gemüse, alles verregnet und verkommen. Die Kartoffeln gelangten nicht einmal zum Blühen, wo es doch im letzten Jahr schon so mager um die Ernten gestanden hatte. An meinem Spalier konnte ich nur drei winzige Birnen pflücken. Sie waren sauer und holzig. Meine Bienenwaben stehen fast leer. Die meisten Bienen sind erfroren oder verhungert.

    Aber ich will mich nicht beklagen. Schliesslich muss ich keine Familie durchbringen. So gerne würde ich meinen Pfarrkindern helfen, doch mein Äckerlein hat kaum etwas hergegeben, und das Säuli im Stall ist mager. Die Eicheln, die ich als Futter im Wald holen wollte, sind schon alle verschwunden. Die Kinder sammeln sie, und ihre Mütter strecken damit das überteuerte Mehl oder rösten sie als Kaffeeersatz. Bethli hat für das Säuli Tannzapfen gekocht. Das heikle Tier hat erst missmutig daran geschnuppert, bevor es den groben Brei übellaunig gefressen hat.

    Etwas Besonderes und sogar Schönes hat der Vulkanausbruch dennoch gebracht. Professor Scheidtlin hat es erklärt: Die Veränderung der Gase in der Atmosphäre führt oft zu wunderbaren Sonnenuntergängen. An manchen Tagen erstrahlt der Abendhimmel in Farben, die ich mir nicht ausdenken könnte. Grünblau, Orange, Violettrot, bis hin zu Purpur. Alles schwebt und wabert wie verzaubert. Ich wollte, ich könnte die Farben malen.

    In meinen Predigten spreche ich nicht über den schönen Abendhimmel, das wäre der pure Hohn für die darbenden Gläubigen. Die Looserin im Grund – sie hat ein scharfes Mundwerk – würde sonst zu Recht sagen: «Von diesem Hokuspokus am Himmel haben wir nicht gefressen.»

    Ich hoffe, dass der Herrgott bald ein Einsehen hat und diese schwere Prüfung vorübergeht. Ich weiss nicht, wie die Menschen im Tal den Winter überstehen werden. Gott sei uns gnädig!

    Ich schliesse meinen Brief und umarme Dich.

    Dein Bruder

    Johann Friedrich

    PS: Wir würden die üppigen Früchte gerne essen, uns könnten sie nicht zu gross sein. Bethli hat fast geweint, als ich ihr Deine Zeichnungen gezeigt habe. «Was könnte ich davon wunderbare Marmelade und Kompott kochen», hat sie geseufzt.

    Bencoolen, Januar 1817

    Lieber Johann Friedrich

    Wenn ich euch doch von unserem Überfluss etwas schicken könnte! Ja, der Tambora hat uns zwar Asche geschickt und tausende Menschen auf den weit verstreuten Inseln getötet, aber wir auf Java sind wohlauf. Die Asche hat den Boden sogar noch fruchtbarer gemacht. Es tut mir leid, dass ich euch nicht helfen kann. Im Park wachsen riesige Bäume mit grünen, grossen Kugeln daran. Sie heissen Brotfrucht. Wenn ich euch bloss solche schicken könnte. Der Koch legt sie mitsamt der Schale ins siedende Wasser und schneidet sie nachher auf. Wir essen die Scheiben einfach so oder in Fett gebraten. Die schmecken dann tatsächlich ähnlich wie Brot, nur viel besser. Meistens essen wir Reis. Das ist ein weisses Korn, das selbst wenig Geschmack hat, aber wunderbar zu Fleisch und zu Gemüse passt. Der Koch bereitet die Speisen jeden Tag frisch für uns zu, meistens Hühnchen oder Rindfleisch, manchmal auch Fisch.

    Das meiste isst man hier mit Saucen, die aus Kokosnussmilch und allerlei Gewürzen zusammengesetzt sind. Die Nuss ist so gross wie das Köpfchen eines Säuglings. Sie ist aus Holz, und man muss sie mit der Machete aufschlagen, um an das weisse Fruchtfleisch zu gelangen. Es schmeckt wunderbar.

    Mein lieber Bruder, was erzähle ich Dir vom Essen, wo ich doch weiss, dass ihr Hunger leidet. Ich habe Sir Thomas von der Not in Deiner Gemeinde erzählt. Er war äusserst erstaunt und betroffen. Ende des Monats reist einer seiner Adjutanten mit der East India Company zurück nach England. Ich darf ihm einen Sack Reis mitgeben. Vielleicht schmeckt euch diese fremde Nahrung nicht besonders. Aber ich hoffe, dass ich euch damit wenigstens ein bisschen helfen kann. Eigentlich wollte Sir Thomas mit der ganzen Familie im Juli nach England reisen. Als Erzieherin der Mädchen hätte ich die Familie begleitet und euch alle besuchen können. Da der Vulkanausbruch in seinem Gouvernement so viel Schaden angerichtet hat, muss er die Reise auf ungewisse Zeit verschieben.

    Wie gerne hätte ich Dich, Bethli und die Familie wiedergesehen. Auch mit meinen Freundinnen aus meiner Internatszeit in Lausanne, Dorette und Irmgard, möchte ich wieder einmal lachen und schnattern.

    Jeden Abend schliesse ich euch alle in mein Gebet ein, dass Gott euch und die Gemeinde vor dem Hungertod bewahren möge.

    Ich umarme Dich.

    Deine Schwester Magdalena

    Im Winkel, Mai 1817

    Liebe Magdalena

    Ach, käme der versprochene Sack Reis nur bald an! Die Leute verhungern, die Misere ist unbeschreiblich. Meine Pfarrkinder welken dahin wie Blumen unter der Sichel im Heuet. Es ist kaum auszuhalten. Der Müller vom Taa hat mir erzählt, dass Arme von überall durch die Gänge seiner Mühle schleichen. Sie wischen mit blossen Händen den Mehlstaub vom Boden oder von den Mahlgängen und essen ihn. Im Schweinestall nebenan machen sie den Tieren das Futter streitig.

    Wir haben so sehr auf den Frühling gehofft. Der Gemeinderat hat im Welschland weit überteuertes Saatgut eingekauft und an die Bauern verteilt. Aber der kalte Regen liess die Saat nicht einmal aufgehen. Glücklich und voller Hoffnung sahen wir einige zarte Blättchen spriessen. Dann kam wieder Schnee, und sie verschwanden. Ich getraue mich nicht von den wenigen Kartoffeln, die noch da sind, in die Erde zu stecken. Bei dem Dauerregen würden sie verfaulen.

    Bethli kocht jetzt jeden Tag eine Brühe aus Wurzeln und reibt Baumrinde hinein. Dazu gibt sie Bartflechten. Die Brühe schmeckt nicht gerade lecker, aber sie füllt den Magen. Die Eltern haben uns einen Sack Gerste und eine Speckseite geschickt. Es war wie Weihnachten. Wir haben uns fast nicht getraut, die gute Suppe zu essen, wo wir doch wissen, dass ganze Familien verhungern. Aber ich muss wenigstens einigermassen bei Kräften bleiben. Wie soll ich sonst meinen Dienst in der weitläufigen Gemeinde tun? Wie ein ehrwürdiger Pfarrer sehe ich nicht mehr aus, eher wie eine Vogelscheuche. So geht es allen. Die Kleidung schlottert an unseren Leibern. Manche verlieren Haare und Zähne. Die Haut ist fahl und schorfig. Die Kinder haben aufgedunsene Hungerbäuche. Manche der Kleinen gehen wie elende Betrunkene, unsicher vor lauter Schwäche. Unsere Augen sind ohne Glanz, die Wangen hohl, und wir sind alle bleich wie der Gevatter Tod.

    Der Messmer, der Gute, hat uns letzte Woche einen Fisch geschenkt. Er habe zwei Stück aus dem Necker gezogen, brauche aber nur einen, hat er dabei traurig gesagt. Seine junge Frau ist vor einem halben Jahr im ersten Kindbett gestorben; auch das Neugeborene ist mit ihr in die Ewigkeit gegangen. Ich konnte es, Gott sei Dank, nottaufen.

    Bethli hat die geschenkte Äsche in Mehl aus getrockneten Rosskastanien und Eicheln gewendet und gebraten. Schmeckte etwas herb, aber ganz ordentlich. Manchmal fängt der Messmer Mäuse, oder er erwischt eine magere Ratte. Obwohl es Bethli graust, häutet und siedet sie die Tierchen, und wir essen die Fleischbrühe zu dritt. Wir nagen die feinen Knochen blank und schwärmen dabei von Hasen- und Rehbraten. Die abgenagten Knöchelchen kocht Bethli dann nochmals für eine Suppe aus.

    Selbst wenn man wildern wollte – die Wälder sind ausgestorben. Kein Eichhörnchen, kein Reh, kein Hase, sogar die Füchse und Dachse sind verschwunden. Kann man es den Menschen verdenken, dass sie sich nicht ans Jagdgesetz halten? Ich glaube, sogar der Messmer würde wildern, damit er uns oder vielmehr dem Bethli hin und wieder Fleisch bringen könnte.

    Bethli tut ihm gut. Wer weiss, vielleicht bahnt sich da etwas an. Ich würde unserer Schwester einen guten Mann gönnen. Pfarrköchin zu sein ist auf Dauer nicht das Wahre für eine junge, gesunde Frau. Mein katholischer Amtsbruder, Pfarrer Ochsner, hat zusammen mit bessergestellten Bürgern im Tal eine Hilfsgesellschaft gegründet. Diese Gesellschaft wird ab nächster Woche im oberen Waschhaus beim «Schäfli» Rumfordsuppe an alle Bedürftigen verteilen. Diese Speise wird in der Hauptstadt schon seit einiger Zeit an die Armen abgegeben. Ein englischer Graf Rumford hat das Rezept ausgeklügelt. Die Brühe besteht aus Graupen, Kartoffeln, Erbsen, altem Brot, Sauerbier, Weinessig, Wasser und wird stundenlang zu einem dicken Brei gekocht. Ich habe mir sagen lassen, sie sei ganz annehmbar. Ich bin dankbar, dass diese Speisung der Armen auch in unserer Gemeinde die grösste Not lindern wird.

    Ach, Magdalena, so gerne würde ich Dir Angenehmes berichten. Für mich jammere ich gar nicht, aber die Menschen tun mir leid. Am schlechtesten geht es den kleinen Webern. Ihre Stoffe sind nichts mehr wert. Tücher, die früher neunzig Gulden einbrachten, sind heute kaum zwanzig wert. Während die Bauern über etwas Gemüse aus ihrer Selbstversorgung verfügen, besitzen diese armen Familien in ihren schäbigen Häuschen gar nichts. Viele von ihnen haben in den guten Zeiten die Vorsorge liederlich versäumt. Im Appenzellerland, im Glarnerland und in unserem Tal – überall diese unsägliche Misere. An manchen Tagen möchte ich am liebsten nach Amerika auswandern wie etliche aus unserem Tal. Aber ich werde meine Schäfchen nicht verlassen.

    Einige Eltern haben begonnen, ihre Kinder auf Betteltour in andere Gegenden zu schicken, obwohl es die Obrigkeit verbietet. Diese Kinder und Halbwüchsigen ziehen durch die Lande. Dass sie dabei verlottern und oft genug der Unsittlichkeit anheimfallen – wer kann es ihnen verübeln? Zwei Burschen aus unserem Dorf, der Kilian Strässli und der Franz Erb, haben sich für fremden Kriegsdienst anwerben lassen und sind vor einem Monat fortgewandert. Sie wollen lieber für einen Fürsten in der Schlacht sterben, als an Hunger verrecken. Aber ich meine, niemand sollte des Geldes wegen in den Krieg ziehen.

    Der Zar von Russland hat der Talobrigkeit einige hundert Gulden geschickt. Unsere Gemeinde hat auch davon erhalten und für fünfundsechzig Gulden Gerste, Roggen und Hafer gekauft. Auch einige Fässer Saatkartoffeln sollen verteilt werden. Gebe Gott, dass diese gedeihen.

    Gestern war eine arme Weberin bei mir. Sie wohnt mit ihrer vielköpfigen Familie in der Schwendi in einer elenden Behausung. Ihr Mann leidet schon lange an der Auszehrung und vermag nicht mehr zu arbeiten. Ihre beiden Geissen sind im Winter eingegangen. Die Frau macht sich bittere Vorwürfe, weil sie ihren beiden Mädchen den Jüngsten auf die Betteltour mitgegeben hat. Deswegen war sie allerdings nicht gekommen. Sie wollte einen Rat. Ihr ältester Bub, Ruedi, sei so widerspenstig geworden. Er gehorche dem Vater nicht, und statt am Webstuhl zu arbeiten, verplämpere er die Zeit in der Schule oder stromere durch die Gegend. Dem Vater gegenüber erlaube er sich Frechheiten, und was sie zu ihm sage, berühre ihn überhaupt nicht. Er werfe ihr vor, dass sie nichts Rechtes auf den Tisch bringe. Es sei ein rechtes Kreuz mit ihm. Er habe sogar gedroht, davonzulaufen. Wie um Gottes Willen sollten sie diese schlimme Zeit überleben, wenn er gar nichts mehr zum Einkommen beitrage, jammerte die Frau. Ach, Magdalena, ich kann der armen Mutter nicht helfen. Ähnlich sieht es in vielen Familien aus. Ich traue mich sonntags kaum, zu predigen, da ich weder Rat noch Trost geben kann.

    In der Hoffnung auf bessere Zeiten grüsse ich Dich.

    Dein Bruder Johann Friedrich

    Auf der Schwendi

    Ruedi hielt die Falle mit beiden Händen und drückte die Tür zum Webkeller vorsichtig in das rostige Schloss. Leise tappte er die Treppe hinauf, an der Küchentür vorbei in den Stallgang. Durch das Misttörchen im leeren Ziegenstall verliess er das Haus. Ha, geschafft. Langsam stelzte er durch das nasskalte Gras. Die Holzböden hatte er im Keller gelassen, ihr Klappern hätte ihn verraten. Am nahen Waldrand setzte er sich auf einen Baumstrunk unter einer Tanne, riss Kuckucksklee ab und schob ihn in den Mund. Die sauren Blätter machten ihn noch mürrischer. Wie sollte er am Webstuhl arbeiten, wenn er keine Kraft hatte? Die Arbeit war ihm verhasst, viel lieber hätte er mit Holz etwas gezimmert. Die blöden Tücher waren ohnehin kaum noch etwas wert. Niemand kaufte Stoff in diesen schweren Zeiten. Der Fergger kam nicht mehr ins Haus, alle Weber mussten das Garn im Nachbardorf abholen und ihm die Stoffe nachtragen.

    Ja, wenn er sich den Bauch richtig vollschlagen könnte, Kartoffeln oder Hafermus essen, so viel er wollte, oder gar ein Stück Fleisch zwischen die Zähne bekäme wie früher, als sich das Weben gelohnt hatte; ja dann wäre alles gut. Der Vater würde wieder gesund und selbst am Webstuhl sitzen. Das Ruthli würde noch leben und die Mutter nicht den ganzen Tag seufzen und jammern.

    Rosa und Zilli hatten es gut, sie waren auf Wanderschaft. Wer weiss, was die ennet dem Ricken bei den Bauern alles ergatterten. Sicher konnten sie sich satt essen. Womöglich hatten sie Brot mit einer Fleischtunke. Dass sie fort waren und den Bertli auch mitgenommen hatten, war in Ordnung. So blieben drei Mäuler weniger zu stopfen. Das hatte Balz am Vortag beim Abendessen gesagt, und die Brüder hatten zustimmend genickt. Der Vater war darüber zornig geworden und fluchend vom Tisch aufgestanden. Die Mutter hatte geweint und geschimpft, es sei unrecht von Balz. Aber Ruedi wusste genau, dass sie dasselbe dachte. Warum sonst hätte sie die beiden Grossen gehen lassen und ihnen den Bertli mitgegeben. Er konnte noch nicht einmal laufen.

    Wenn er selbst davon sprach, dass er auf Betteltour gehen wolle, tobte der Vater. Er brauche ihn im Webkeller. Als ältester Bub habe er die Pflicht, an seiner Stelle zu arbeiten, um die Familie durchzubringen.

    Ruedi spürte Zorn und Ohnmacht. Wie sollte das gehen? Er war noch ein Bub. Wie sollte er die grosse Familie ernähren? Wütend schlug er die Fersen in den moosigen Waldboden und biss sich in die Faust. Sein Magen rumorte, Tränen schossen aus seinen Augen, doch er wischte sie nicht weg.

    Beim Eindunkeln schlich er ins Haus zurück. Er wollte unbemerkt in den Keller gelangen und noch ein gutes Stück weben. Aber auf der Bank sass der Vater und empfing ihn mit groben Worten und harten Hieben.

    «Schlägt uns Gott nicht genug mit dem Hunger? Muss Er mich auch noch mit einem faulen Nichtsnutz von Buben strafen? Wie habe ich das verdient?», lamentierte er. «In der Schule unnützes Zeug lernen und faul im Wald herumhocken, statt zu arbeiten, wie es sich für einen Dreizehnjährigen gehört. Das ist jetzt vorbei. Ab morgen bist du den ganzen Tag am Weben. Als ich so alt war wie du, hat mir das auch nicht geschadet.» Er atmete keuchend und drückte die Hand auf die Brust. «Du siehst ja, dass ich es jetzt nicht mehr kann, ich kriege im feuchten Keller kaum mehr Luft. Schluss mit dem Schulfirlefanz, haben wir uns verstanden!»

    «Aber der Lehrer sagt, die Kinder müssen in die Schule und dort möglichst viel lernen, um später einen Beruf auszuüben», entgegnete Ruedi trotzig, sich unter den Schlägen windend.

    «Was – Beruf ausüben? In unserer Familie wird gewoben. Das bringt gutes Geld. Der Lehrer setzt dir nur dumme Ideen in den Kopf. Diese Studierten haben keine Ahnung, was man fürs Leben braucht. Wir auf der Schwendi sind Weber und damit basta.»

    Die Schläge prasselten auf den Rücken des Buben und Wut stieg in ihm hoch wie eine Stichflamme.

    «Das Weben lohnt sich nicht mehr, die blöden Fetzen sind ja nichts wert, sagst du doch selbst», schrie Ruedi.

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