Lesereise Nordirland: Gärten, Geister und Giganten
Von Stefanie Bisping
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Buchvorschau
Lesereise Nordirland - Stefanie Bisping
Am Wendepunkt
In der Regel im Regen: Der Weg nach Belfast
Die Anweisungen waren präzise: Auf der Ankunftsebene des Flughafens Dublin sollte ich an einer zentral gelegenen gelben Skulptur einen Fahrer treffen, der sich durch ein Schild mit meinem Namen darauf ausweisen und mich nach Belfast bringen würde. Es klang einfach genug. Folgsam schaute ich mich um. Gut zwei Dutzend Herren diverser Altersgruppen standen da, die Blicke auf die ankommenden Passagiere geheftet oder, bei entspannterer Disposition, miteinander plaudernd. Zehn von ihnen trugen schwarze Anzüge zu heiterem Lächeln und hielten schicke Schilder einer Fluggesellschaft aus dem Nahen Osten mit den Namen ihrer Zielpersonen vor ihre weißen Hemden. Offensichtlich war eine ganze Delegation von Geschäftsleuten auf dem Weg zu lukrativen Abschlüssen in der Irischen Republik. Von einem Fuhrunternehmen aus Nordirland war indes nichts zu sehen.
Was hatte das zu bedeuten? Das Schicksal sollte mir ein wenig Zeit schenken, darüber nachzudenken. Hier die Irische Republik, die ihren Underdog-Status lange schon überwunden hatte, sich als hellwache, innovative, kreative Nation präsentierte, ein verlässliches Mitglied der EU – und dort das britische Restgebiet auf der Grünen Insel, das über Jahrzehnte, eigentlich Jahrhunderte, vor allem eines gehabt hatte: Ärger. Womöglich war es kein Wunder, dass die Republik hier mit einem Dutzend gut gelaunter, adretter Chauffeure vertreten war, der geknechtete Norden hingegen durch Abwesenheit auch nur eines einzigen noch so abgehetzten Botschafters glänzte.
Auf dem Luftweg nach Belfast zu gelangen war kompliziert, wie immer man es auch anfing. Dabei besitzt die Stadt sogar zwei Flughäfen. Einer von ihnen, der George Best Belfast City Airport, ist nach jenem legendären nordirischen Fußballspieler benannt, der unter anderem zu Protokoll gab, er habe viel Geld für Alkohol, Frauen und schnelle Autos ausgegeben – den Rest habe er einfach verprasst. Ein Mann mit Witz und Konsequenz, wenn auch nach konventionellen Maßstäben nicht gerade der Inbegriff von Nüchternheit und Seriosität, jenen Tugenden also, mit denen die Luftfahrt gewöhnlich um Vertrauen wirbt. Auch kein ganz typischer Sohn der Freien Presbyterianer-Kirche Ulsters, die sich selbst als fundamentalistisch und evangelikal bezeichnet und deren Mitglieder traditionell eher Erfüllung in Verzicht und Bibelstudium finden als in weltlichen Ausschweifungen. Best war kein langes Leben beschieden, eine Lebertransplantation war schließlich nur eines von mehreren gravierenden Problemen. Im November 2005 starb er im Alter von neunundfünfzig Jahren. Hunderttausend Menschen geleiteten ihn in Belfast zur letzten Ruhe – so viele, wie am 31. Mai 1911 zum Stapellauf der »Titanic« erschienen waren. Die Trauerfeier wurde aus dem Parlamentsgebäude ins Freie übertragen. Es war eines der größten Begräbnisse in der Geschichte einer Stadt, die viele tragische und unzeitige Beisetzungen gesehen hat.
Einen Flughafen, der sich mit dem Namen eines torgefährlichen Trinkers schmückt, hätte ich natürlich gerne gesehen. Doch für Kontinentaleuropäer, die sich in Nordirland umschauen wollen, gibt es keinen einfachen Weg nach Belfast, weder zum Internationalen Flughafen noch zum George Best Belfast City Airport. Sie müssen entweder über Amsterdam oder über London in die nordirische Hauptstadt fliegen. Oder eben in die Republik. Und so stand ich hier, am namenlosen Flughafen der schönen Stadt Dublin, die einerseits Welten, andererseits aber nur gut eineinhalb Autostunden von Belfast trennt.
Ein freundlich blickender Mann trat auf mich zu. »Miss King?«, fragte er hoffnungsvoll. Ich verneinte bedauernd. Er seufzte und erzählte, dass er schon eine Dreiviertelstunde auf die unzuverlässige Miss King warte. Dabei sei ihr Flug pünktlich gewesen. »Ausgerechnet heute«, klagte er. Sein Enkel feiere Erstkommunion, er habe die Festtafel nur kurz verlassen wollen, um seinem Chef einen Gefallen zu tun. Und nun stand er hier, im Schatten der Skulptur, und die undankbare Miss King ließ sich nicht blicken. Er zückte sein Telefon und zeigte mir Bilder des Enkels im Feststaat. Gerne hätte ich ihn in das Glück seiner Familienfeier entlassen, konnte mich aber jetzt nicht mehr gut als Miss King ausgeben. Außerdem wollte ich nach Belfast. Da trat die Gesuchte aus der Menge und eilte auf das Schild meines neuen Bekannten zu. Er schüttelte mir herzlich die Hand und eilte mit Miss King davon. Ich war wieder alleine. Fast buchstäblich, denn auch die schwarzen Anzüge waren nach und nach verschwunden.
Immerhin begann ich zu begreifen, warum die gewaltige gelbe Skulptur zu den bekanntesten Kunstwerken der irischen Insel gehört. Sehr viele Menschen hatten schon Zeit, sie in Ruhe zu betrachten. »Turning Point« heißt sie mit vollem Namen, geschaffen hat sie die 1974 in Dublin geborene Künstlerin Isabel Nolan. Welchen Wendepunkt ihre Arbeit wohl für mich bedeuten würde? Endlich fiel mir ein, die Zentrale des Belfaster Taxiunternehmens anzurufen. Ein Band lief. Es war Sonntag, auch in Nordirland der Tag des Herrn; dies war noch nicht der Wendepunkt. Ich setzte mich auf eine Bank, stand wieder auf und starrte vor mich hin. In Belfast würde vermutlich kaum jemand auf die Idee kommen, Fremden konfessionsenthüllende Kommunionsbilder unter die Nase zu halten, überlegte ich, während draußen etwas Schönes entstand: ein sonniger irischer Frühlingstag, dessen kühler Wind von meinem neuen Zuhause unter der Skulptur aus nicht wahrzunehmen war. Die Einheimischen zollten ihm mit kurzen Röcken oder Hosen und bloßen Armen Tribut. Mich fröstelte. Nach Angaben des Piloten, der mich hierhergebracht hatte, lagen die Außentemperaturen im niedrigen zweistelligen Bereich.
Gerade überlegte ich, ob es sehr unhöflich wäre, meinen Posten zu verlassen, um den Bus nach Belfast zu nehmen, als mein Telefon klingelte. Jemand hatte meine Nummer gesehen und rief zurück. Er sei der Fahrer selbst, behauptete eine Stimme, und er habe größte Probleme zu parken. Ob ich herauskommen könnte? Ich warf meiner Skulptur einen warmen Abschiedsblick zu und trat hinaus in die kalte Brise des späten Apriltags, wo ein Mann in kurzärmeligem Hemd mit einem Schild wedelte und meinen Koffer in sein Auto warf. Bald erzählte er mir seine Leidensgeschichte, die mit Staus und überfüllten Parkhäusern zu tun hatte. Ich verstand nicht alles, da sein Akzent das Sprachzentrum meines Gehirns auf einige Proben stellte. Ob ich Norniron kannte, wollte er wissen. Es brauchte zehn Kilometer und einige »Sorry?«, »Who?« und »What?«, bis ich begriff, dass er von Northern Ireland sprach. Während wir die A1 nach Norden hinaufbrausten, prasselten Regen und Hagel auf die Windschutzscheibe, dann schien die Sonne hell auf saftige Wiesen, bevor sich ein weiterer Wolkenbruch ergoss. Schafe standen und betrachteten nachdenklich die wechselnden Wetterphänomene. Die Grenze passierten wir, ohne dass ich es bemerkte.
Dies also war Norniron: die Heimat des Dichters und Nobelpreisträgers Seamus Heaney, des Schöpfers der Narnia-Chroniken, C. S. Lewis, des Musikers Van Morrison, der Schauspieler Kenneth Branagh und Liam Neeson; Heimat auch der »Titanic« und einer der Drehorte der Serie »Game of Thrones«; gesegnet mit spektakulären Naturlandschaften und einer Hauptstadt, die dank Leinenherstellung, Seilfertigung und Schiffsbau ein Gigant des Industriezeitalters war und sich heute mit Informationstechnologie, Tourismus und der Unterhaltungsindustrie ganz gut durchschlägt. Ein Stück des Vereinigten Königreichs, das einen Bürgerkrieg überwunden hat und durch den Brexit auf neue Proben gestellt wird. Um den Frieden zu erhalten, wurde auf eine EU-Außengrenze auf der irischen Insel verzichtet. Aber auch dieser scheinbare Königsweg erwies sich als kompliziert. Denn die Alternative einer Grenze in der Irischen See zwischen beiden Inseln empfinden nicht wenige protestantisch-loyale Nordiren, die sich den härtesten denkbaren Brexit wünschten, als Verrat – und verspüren die Sorge, heimlich, still und leise in die Republik eingegliedert zu werden. Zugleich knüpfte die republikanische Seite den Fortbestand des Friedens mit beunruhigender Vehemenz an eine offene Grenze. Und nicht zuletzt hat die Verlegung der Grenze ins Meer dazu geführt, dass der Handel