Theorie des Gehens: Eine Stunde aus meinem Leben
Von Honoré de Balzac
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Honoré de Balzac
Honoré de Balzac (1799-1850) was a French novelist, short story writer, and playwright. Regarded as one of the key figures of French and European literature, Balzac’s realist approach to writing would influence Charles Dickens, Émile Zola, Henry James, Gustave Flaubert, and Karl Marx. With a precocious attitude and fierce intellect, Balzac struggled first in school and then in business before dedicating himself to the pursuit of writing as both an art and a profession. His distinctly industrious work routine—he spent hours each day writing furiously by hand and made extensive edits during the publication process—led to a prodigious output of dozens of novels, stories, plays, and novellas. La Comédie humaine, Balzac’s most famous work, is a sequence of 91 finished and 46 unfinished stories, novels, and essays with which he attempted to realistically and exhaustively portray every aspect of French society during the early-nineteenth century.
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Theorie des Gehens - Honoré de Balzac
THEORIE DES GEHENS
Worauf, wenn nicht auf ein elektrisches Fluidum, lässt sich jene Wunderkraft zurückführen, mit der der Wille so majestätisch den Blick regiert, um all das zu zerschmettern, was sich den Geboten des Genies widersetzt, oder mit der er, all unseren Heucheleien zum Trotz, durch die Hülle des Menschen dringt?
Geschichte der Ideen von Louis Lambert¹
Beim gegenwärtigen Stand menschlicher Erkenntnis stellt diese Theorie nach meinem Dafürhalten die allerneueste Wissenschaft dar und sollte mithin unsere Neugierde vorzugsweise beschäftigen. Sie ist so gut wie unberührt. Ich hoffe die effiziente Ursache² dieser kostbaren wissenschaftlichen Jungfräulichkeit anhand einiger Beobachtungen aufzeigen zu können, die für die Geschichte des menschlichen Geistes von Nutzen sind. Einer Kuriosität dieser Art zu begegnen war bereits zu Rabelais’ Zeiten eine äußerst schwierige Angelegenheit; doch mag es in der heutigen Zeit noch mehr Mühe bereiten, ihre Existenz zu erklären: Müsste denn nicht alles, Laster wie Tugenden, um sie herum im Schlaf gelegen haben? In dieser Hinsicht hätte Perrault in seinem Dornröschen – ohne ein Ballanche zu sein³ – unwissentlich einen Mythos geschaffen.⁴ Bewundernswürdiges Privileg jener Männer, deren Genie ganz und gar Naivität ist! Ihre Werke sind fein geschliffene Diamanten, deren Facetten die Ideen aller Epochen widerspiegeln und erstrahlen lassen. Hat nicht Lautour-Mézeray,⁵ ein Mann von Geist, der sich wie kein anderer auf das restlose Ausmelken eines Gedankens versteht,⁶ im Gestiefelten Kater den Mythos der Reklame aufgespürt, dieser modernen Großmacht, die mit Dingen spekuliert, deren Gegenwert man in den Kassen der Bank von Frankreich nie und nimmer finden wird, nämlich mit all dem, was noch an Geist im einfältigsten Publikum der Welt, an Leichtgläubigkeit in der ungläubigsten aller Epochen, an Mitgefühl im Innersten des selbstsüchtigsten Jahrhunderts steckt?
Doch muss es nicht in einer Epoche, in der jeden Morgen unzählige Gehirne erwachen, die nach Ideen gieren, weil sie den Geldwert einer Idee abzuwägen wissen; und die es eilig haben auf Ideenjagd zu gehen, weil ja jeder neue Umstand des irdischen Lebens eine ihm eigentümliche Idee hervorbringt; als ein wenig verdienstvoll gelten, auf einem so ausgetretenen Pflaster wie Paris eine Gangart⁷ zu finden, der sich noch ein Plättchen Gold abringen ließe? Das klingt überheblich; aber bitte verzeihen Sie dem Autor seinen Hochmut: ja noch mehr? gestehen Sie ihm zu, dass er berechtigt ist. Ist es in der Tat nicht wirklich ganz außergewöhnlich festzustellen, dass, seit der Mensch geht, sich niemand je die Frage gestellt hat, warum er geht, wie er geht, ob er geht, ob er besser gehen könnte, was er beim Gehen tut, ob es kein Mittel gäbe, seinen Gang zu reglementieren, zu verändern, zu analysieren: Fragen, die alle philosophischen, psychologischen und politischen Systeme betreffen, mit denen sich die Welt seit jeher beschäftigt hat.
Was zum Teufel! hat doch der selige Herr Mariotte⁸ von der Akademie der Wissenschaften die Wassermenge berechnet, die innerhalb der kleinsten Zeiteinheit unter jedem einzelnen Bogen des Pont Royal hindurchfließt, und dabei die jeweiligen Unterschiede beobachtet, die der Trägheit des Wassers, der Spannweite des Bogens und den atmosphärischen Veränderungen der Jahreszeiten geschuldet sind! Und da sollte es keinem dieser gelehrten Köpfe je eingefallen sein, zu erforschen, zu messen, zu wiegen, zu analysieren, und mithilfe der Binome in Formeln zu fassen, wie viel Fluidum der Mensch durch einen rascheren oder langsameren Gang verliert oder was er an Kraft, Leben, Tun, an jenem unbeschreiblichen gewissen Etwas einsparen könnte, das wir verbrauchen, wenn wir hassen, lieben, uns in der Konversation und in Abschweifungen ergehen! …
O weh! eine Menge von Männern, allesamt ausgezeichnet durch den Umfang ihres Schädels, durch die Schwere und die Windungen ihres Gehirns; in der Mechanik und Mathematik Geschulte schließlich haben Tausende von Theoremen, Sätzen, Lemmata und Korollarien über die eigentümliche Bewegung der Dinge abgeleitet, haben die Gesetze aufgezeigt, nach denen sich die Himmelskörper bewegen, die Gezeiten in all ihrer Launenhaftigkeit erfasst und sie in eine Reihe von Formeln gepfercht, die unbestreitbar die Sicherheit der Schifffahrt gewährleisten; doch niemand, kein Physiologe, kein von Patienten unbehelligter Arzt, kein unbeschäftigter Wissenschaftler, kein Irrer aus der Anstalt von Bicêtre,⁹ kein über dem Zählen seiner Getreidekörner müde gewordener Statistiker oder irgendein anderes Exemplar der menschlichen Gattung hat je die Gesetze der eigentümlichen Bewegung des Menschen auch nur eines Gedankens für würdig befunden! …
Was! leichter fänden Sie wohl die Abhandlung De pantouflis veterum, die Charles Nodier in seiner pantagruelschen Satire Die Geschichte des böhmischen Königs erwähnt,¹⁰ als noch das dünnste Bändchen De re ambulatoria! …
Und dennoch hat schon vor mehr als zweihundert Jahren der Graf Oxenstierna¹¹ den Ausspruch getan:
»Es ist das viele Herumlaufen, das die Soldaten und Höflinge verschleißt!«
Ein fast schon vergessener Mann, der bereits im Ozean jener dreißigtausend Namen von berühmten Männern untergegangen ist, in dem sich mit Müh und Not ein paar hundert Namen über Wasser halten, Champollion,¹² hat sein Leben auf das Entziffern der Hieroglyphen verwendet, jenes Übergangs von einer naiv bildhaften Darstellung menschlicher Gedanken zum chaldäischen Alphabet, das von einem Hirten gefunden und von Kaufleuten vervollkommnet worden war; dem nächsten Wechsel von der notierten Lautsprache zum Buchdruck fiel dann das gesprochene Wort unwiderruflich zum Opfer;¹³ und bei alledem hat niemand je daran gedacht, uns den Schlüssel zu den immerwährenden Hieroglyphen des menschlichen Ganges zu liefern! …
Bei diesem Gedanken ließ ich, nach dem Vorbild Sternes,¹⁴ der seinerseits wohl ein wenig Archimedes nachgeahmt hatte, meine Finger knacken, warf meine Mütze in die Luft und rief: »Heureka!« (»Ich hab’s gefunden!«)
Aber warum hat man gerade diese Wissenschaft mit Nichtachtung geehrt? Ist sie nicht ebenso weise, ebenso tiefsinnig, ebenso unseriös und ebenso lächerlich wie alle anderen Wissenschaften auch? Lauert denn nicht etwa ein hübscher kleiner Unsinn, das Fratzenspiel machtloser Dämonen, auf dem Grunde ihrer Schlussfolgerungen? Wird der Mensch hier nicht durchweg einen gar vornehmen Hanswurst abgeben, wie es ihm auch sonst so trefflich gelingt? Wird er nicht auch hier stets einen Herrn Jourdain vorstellen, der Prosa spricht, ohne es zu merken,¹⁵ der während er geht keine Ahnung davon hat, welch hochfliegende Fragen sein Gang aufwirft? Warum nur hat der Gang des Menschen den Kürzeren gezogen und weshalb hat man sich lieber mit dem Lauf der Gestirne beschäftigt? Wären wir denn nicht auch hier, ebenso wie in anderen Belangen, glücklich oder unglücklich, je nachdem ob wir (ungeachtet dessen, wie viel jeder Einzelne von uns jeweils von jenem Fluidum mitbekommen hat, das so unpassend Einbildungskraft genannt wird), alles oder nichts über diese neue Wissenschaft wissen?
Armer Mensch des neunzehnten Jahrhunderts! Welche Freuden hast du zu guter Letzt aus der Gewissheit geschöpft, der zufolge du nach Cuvier¹⁶ der jüngste Abkömmling in der Abfolge der Arten oder nach Nodiers Ansicht das »progressive Wesen« bist?¹⁷ und welche wohl aus dem Nachweis der Tatsache, dass einst Meere die höchsten Berggipfel überfluteten? und welche gar aus der unwiderlegbaren Erkenntnis, die das Prinzip sämtlicher asiatischer Religionen und alles Glück vergangener Zeiten vernichtet, indem sie der Sonne, durch Herschels Stimme, Wärme und Licht abspricht?¹⁸ Welchen politischen Ruhezustand hast du aus den in vierzig Jahren Revolution vergossenen Blutströmen herausdestilliert? Armer Mensch! Abhandengekommen sind dir die Marquisen, die Petits Soupers¹⁹ und selbst die Académie française; du darfst deine Dienstboten nicht mehr schlagen, und die Cholera hat dich geplagt.²⁰ Wären da nicht Rossini²¹, die Taglioni²² und Paganini²³, würde dir die Unterhaltung abgehen; und dennoch trägst du dich mit dem Gedanken, falls du nicht endlich dem kalten Sinn Einhalt gebietest, der in deinen neuen Institutionen herrscht, Rossini die Hände, der Taglioni die Beine und Paganini seinen Geigenbogen zu brechen. Nach vierzig Jahren Revolution hat Bertrand Barrère²⁴ unlängst die Quintessenz seiner politischen Weisheit folgendermaßen formuliert:
»Stör niemals eine Frau beim Tanzen, um ihr einen Rat zu geben! … «
Diese Sentenz hat man mir gestohlen. Ist sie denn nicht ein wesentlicher Bestandteil der Axiome meiner Theorie?
Sie werden sich fragen, warum so viel Emphase für diese prosaische Wissenschaft, wozu das ganze lärmende Trompetengeschmetter für die Kunst, den Fuß zu heben? Wissen Sie denn etwa nicht, dass sich die Würde einer Sache umgekehrt proportional zu ihrer Nützlichkeit verhält?
So ist diese Wissenschaft denn mein! Als Erster stelle ich hier mein Banner auf, gerade so wie Pizarro, als er mit dem Ausruf »Dies gehört dem König von Spanien!« seinen Fuß auf den Boden von Amerika setzte.²⁵ Er hätte jedoch wohl gut daran getan, noch eine Proklamation zur Amtsausübung der Ärzte anzuhängen.²⁶
In der Tat hat vor mir allerdings bereits Lavater²⁷ gesagt, alles im Menschen sei homogen und darum müsse sein Gang zumindest genauso beredt sein wie seine Physiognomie; der Gang ist die Physiognomie des Körpers. Doch war dies die ganz offensichtliche Schlussfolgerung aus seinem ersten Lehrsatz: Alles in uns entspricht einer inneren Ursache. Mitgerissen von dem gewaltigen Lauf einer Wissenschaft, welche die Beobachtung jedes einzelnen Ausdrucks des menschlichen Denkens zu einer eigenständigen Kunst erhebt, war es ihm nicht möglich, die Theorie des Gehens zu entwickeln, die in seinem großartigen und sehr weitschweifigen Werk nur wenig Raum einnimmt. Daher gilt es die Probleme, die in dieser Sache zu klären sind, erst noch in aller Ausführlichkeit zu studieren ebenso wie die Verbindungen, die diesen Teil der Lebenskraft mit dem Ganzen unseres individuellen, sozialen und nationalen Lebens zusammenschließen.
… Et vera incessu
Patuit dea …
Durch ihren Gang offenbarte sich
als wahrhaft die Göttin.²⁸
Dieses Versfragment Vergils wie im Übrigen auch eine ähnliche Zeile bei Homer,²⁹ die ich aber aus Angst, der Pedanterie gescholten zu werden, nicht zitieren mag, bezeugen die große Bedeutung, welche die Alten dem Gang beimaßen. Wer von uns armen Schülern, denen man Altgriechisch eingepeitscht hat, weiß denn nicht, dass Demosthenes dem Nikobul vorgeworfen hat, er gehe auf ungehobelte Weise, und damit dessen Gang als Beispiel für schlechte Umgangsformen und unziemliches Benehmen einer frechen Redeweise gleichstellte?³⁰
La Bruyère hat über dieses Thema ein paar denkwürdige Zeilen geschrieben; doch haben diese Zeilen keinerlei wissenschaftlichen Wert und zeigen schlicht einen Umstand an, der sich tausendfach in dieser Kunst antreffen lässt: »Bei bestimmten Frauen findet man eine künstliche Größe, die an die Augenbewegungen, an eine Kopfhaltung, an einen gewissen Gang gebunden ist«³¹ usw.
Nachdem ich all dies als Zeugnis für mein aufrichtiges Bemühen angeführt habe, der Vergangenheit Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, durchstöbern Sie ruhig die Bibliografien, schmökern Sie in den Bibliothekskatalogen und Manuskripten;³² Sie werden, abgesehen vielleicht von einem frisch abgekratzten Palimpsest, am Ende nichts als diese Fragmente finden, die sich nicht weiter um die Wissenschaft als solche bekümmern. Wohl gibt es Abhandlungen über den Tanz und die Mimik; wohl gibt es die Abhandlung Von der Bewegung der Tiere von Borelli;³³ des Weiteren ein paar Fachaufsätze von Medizinern, die jüngst von dem wissenschaftlichen Stillschweigen zu unseren bedeutsamsten Lebensvorgängen aufgeschreckt worden sind;³⁴ doch ganz nach Borellis Manier haben sie weniger nach Ursachen geforscht als bloß Tatsachen konstatiert: In dieser Materie ist es offensichtlich schwierig, nicht zu Borelli zurückzukehren, es sei denn, man ist Gott höchstpersönlich. Also nichts Physiologisches, Psychologisches, Transzendentes,³⁵ nichts peripatetisch Philosophisches, rein gar nichts! Darum gäbe ich alles, was ich je gesagt oder geschrieben habe, für die schäbigste Geldschnecke her,³⁶ verkaufte jedoch selbst nicht gegen einen goldenen Globus diese neue Theorie, die so bildhübsch ist wie alles Neue. Eine neue Idee ist mehr als eine Welt; sie gebiert eine ganze Welt, vom Rest ganz zu schweigen. Ein neuer Gedanke! welch ein Reichtum für den Maler, den Musiker, den Dichter!
Damit endet meine Vorrede. Ich fange an.
Eine Idee hat drei Lebensalter. Gelingt es Ihnen, ihr in der ersten fruchtbaren Wärme ihrer Empfängnis Ausdruck zu verleihen, werden Sie Ihre Idee rasch in einem Wurf aufs Papier bringen, der mehr oder weniger glücklich ausfällt, aber zweifelsohne vom Schwunge Pindars beseelt ist. So Daguerre, als er sich zwanzig Tage lang einschloss, um sein bewundernswertes Gemälde der Insel St. Helena zu malen, ein Bild ganz im Geiste Dantes.³⁷
Wenn Sie aber dieses erste Glück der geistigen Zeugung nicht erfassen und der erhabene Paroxysmus des stimulierten Intellekts gar nichts in ebendem Augenblick produziert, da die Geburtswehen den Wonnen der zerebralen Übererregtheit weichen, dann stürzen Sie jäh in ein Schlamassel von zahllosen Schwierigkeiten: Alles versinkt, alles bricht in sich zusammen; Ihre Sinne werden stumpf; der Stoff löst sich auf; Ihre Gedanken ermüden Sie. Die Peitsche Ludwigs XIV., mit der Sie eben noch Ihre Ideen herumkommandiert haben, ist jenen fantastischen Kreaturen selbst in die Hände gefallen; nun sind es Ihre eigenen Ideen, die Sie unterjochen, Sie müde hetzen, Ihnen schallende Ohrfeigen verpassen und denen Sie zu trotzen haben. So sehen wir die Dichter, die Maler, die Musiker spazieren gehen und auf den Boulevards herumflanieren, um einen Spazierstock feilschen und mit alten Truhen handeln, sich in tausend flüchtigen Liebhabereien verlieren, wo sie ihre Idee zurücklassen, so wie man einer Geliebten den Laufpass gibt, deren Liebe und Eifersucht das ihr gebührende Ausmaß übersteigt.
Dann bricht das letzte Lebensalter der Idee an. Sie ist auf fruchtbaren Boden gefallen, hat Wurzeln in Ihrer Seele geschlagen; sie ist in ihr herangereift; und dann, eines Abends oder Morgens, wenn der Dichter sein Halstuch löst, der Maler noch gähnend seine Glieder streckt, der Musiker gerade dabei ist, seine Lampe zu löschen, während er sich noch an eine herrliche Koloratur erinnert, einen schlanken Frauenfuß vor Augen hat oder ihm eine dieser vagen, ungreifbaren Sachen in den Sinn kommt, mit denen man sich beim Einschlafen oder Aufwachen beschäftigt, da gibt sich ihnen plötzlich ihre Idee zu erkennen, in der ganzen Anmut ihrer frischen Triebe, in voller Blüte, die kokette und üppige Idee, von verschwenderischer Pracht, so schön wie eine hinreißend schöne Frau, schön wie ein Pferd ohne Fehl und Makel! In diesem Augenblick schlägt der Maler seine Daunendecke zurück, sofern er eine hat, und ruft:
»Genug! Ich werde mein Bild malen!«
Dem Dichter war nur eine einzige Idee in den Sinn gekommen, und schon sieht er seinen Namen auf der Titelseite seines Werkes prangen.
»Wehe dem Jahrhundert!«, ruft er aus und schleudert einen seiner Stiefel quer durch das Zimmer.³⁸
Das ist die Theorie des Ganges unserer Ideen.
Ohne hier den ehrgeizigen Anspruch dieses pathologischen Forschungsprogramms, dessen systematische Ausarbeitung ich den Dubois und Maygriers des Gehirns überlasse,³⁹ einer Rechtfertigung unterziehen zu wollen, erkläre ich, dass mich die Theorie des Gehens mit allen Freuden der ersten Empfängnis überschüttet hat, der Liebe zur Idee; sodann aber mit allen Sorgen, die ein verwöhntes Kind bereiten kann, dessen Erziehung einen teuer zu stehen kommt und die nichts als dessen Untugenden vervollkommnet.
Wenn ein Mann einen Schatz findet, gilt sein zweiter Gedanke der Frage, durch welchen Zufall er ihn entdeckt hat. Hier also mein Bericht, wo ich der Theorie des Gehens zuerst über den Weg lief und warum niemand vor mir ihrer je gewahr wurde …
Ein Mann verfiel in Irrsinn, weil er zu viel über den Vorgang des Öffnens und Schließens einer Tür grübelte.⁴⁰ Er unternahm es, den Ausgang menschlicher Auseinandersetzungen mit dieser Bewegung zu vergleichen, die in beiden Fällen vollkommen identisch ist, wenngleich sie jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. In der benachbarten Zelle befand sich ein anderer Irrsinniger, der herauszufinden suchte, ob das Ei vor der Henne da gewesen war oder die Henne vor dem Ei.⁴¹ So befragten alle beide Gott, der eine anhand seiner Tür, der andere mittels seiner Henne, doch ohne Erfolg.
Ein Irrer ist ein Mensch, der einen Abgrund sieht und hineinstürzt. Der Wissenschaftler hört ihn fallen, nimmt seinen Messstab, misst die Tiefe, steigt auf einer Leiter hinunter, kommt wieder herauf und reibt sich die Hände, nachdem er der Welt verkündet hat: »Dieser Abgrund ist eintausendachthundertundzwei Fuß tief, die Temperatur auf seinem Grunde ist um zwei Grad wärmer als die unserer Atmosphäre.« Dann lebt er im Kreise seiner Familie. Der Irre bleibt in seiner Zelle. Alle beide sterben sie. Gott allein weiß, ob der Irrsinnige oder der Wissenschaftler der Wahrheit näher gekommen ist. Empedokles war der erste Naturforscher, der diese beiden Positionen gleichzeitig einnahm.⁴²
Es gibt nicht eine einzige