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Die Kinder des Königs – ein Märchen
Die Kinder des Königs – ein Märchen
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eBook318 Seiten4 Stunden

Die Kinder des Königs – ein Märchen

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Über dieses E-Book

Als Herwulf und seine Männer König Alrik töten und dessen Land einnehmen, begeben sich die Königskinder Signy, Regin und Buri auf eine halsbrecherische Flucht. Weit im Osten, jenseits eines hohen Gebirges, liegt ein fremdes Reich. Dort hoffen sie Hilfe zu erhalten, um den Tod ihres Vaters zu rächen und ihr Heimatland zurückzuerobern. Die Geschwister müssen all ihren Mut zusammennehmen, denn auf ihrem Weg durchqueren sie eine Welt voller Gespenster, Elfen, Riesen, Trollen und Zauberinnen. Werden sie gemeinsam allen Gefahren trotzen und das Abenteuer bestehen?"Spannende und gut erzählte Wikingergeschichte mit vielen Fäden über Kreaturen der nordischen Mythologie. [...] Äußerst empfehlenswert!" – DBC-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum15. Sept. 2022
ISBN9788728112984
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    Buchvorschau

    Die Kinder des Königs – ein Märchen - Peter Gotthardt

    Peter Gotthardt

    Die Kinder des Königs – ein Märchen

    Übersezt von Alina Becker

    Saga

    Die Kinder des Königs – ein Märchen

    Titel der Originalausgabe: Kongebørn - en eventyrsaga

    Originalsprache: Dänisch

    Coverbild/Illustration: Kristian Eskild

    Copyright © 2022 Peter Gotthardt und SAGA Egmont

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN: 9788728112984

    1. E-Book-Ausgabe

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

    www.sagaegmont.com

    Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

    Teil 1

    In den Tiefen der Erde

    Der Wolf kommt schnell näher, mit zurückgezogenen Lefzen und gefletschten Zähnen. Er knurrt heiser und starrt den Jungen bösartig kann. Der möchte gegen das Tier ankämpfen – aber die Kraft hat seine Arme verlassen. Und gleichzeitig will er fliehen – aber seine Beine fühlen sich an, als wären sie aus Wasser. Ich kann nichts tun, denkt er angsterfüllt. Und genau jetzt setzt der Wolf zum Sprung an …

    Buri erwachte mit einem Schrei. Er schlug die Augen auf und der Albtraum fiel von ihm ab. In der kleinen Kammer, die er sich mit seinem Bruder Regin teilte, war es stockdunkel.

    Regin setzte sich im Bett auf und meckerte: „Jetzt hast du mich schon wieder geweckt! Ich habe es satt!"

    „Dafür kann ich nichts, erklärte Buri kleinlaut. „Ich hatte wieder diesen Albtraum – den, mit dem Wolf. Das war jetzt die dritte Nacht in Folge, und jedes Mal kommt er näher. Ich fürchte, dass sich etwas Böses anbahnt.

    „Ach! Du immer mit deinen ängstlichen Vorahnungen, sagte Regin. „Kein Wolf wird sich je bis hierher zum Hof des Königs wagen. Wölfe halten sich eher von den Menschen fern.

    „Ja, wahrscheinlich hast du recht", murmelte Buri nicht gänzlich überzeugt. Die Angst steckte ihm noch immer in den Knochen.

    Regin schwang die Beine über die Bettkante und stand auf.

    „Nach all dem Reden bin ich jetzt wach, stellte er fest. „Und hungrig. Wir könnten uns zum Küchenhaus hinüberschleichen und etwas Honigkuchen stibitzen. Gestern haben sie frischen gebacken. Kommst du mit?

    „Und wenn wir erwischt werden?", fragte Buri.

    „Das werden wir nicht, sagte Regin. „Es ist mitten in der Nacht. Alle schlafen. Jetzt komm schon.

    Buri und Regin waren die Söhne des Königs. Regin war ein Jahr älter als sein Bruder. Die beiden Heranwachsenden hatten lange, schlaksige Arme und noch längere schlaksige Beine. Buris struppiges Haar war so hell, dass es fast weiß wirkte. Regins Haar war ebenso hell, fiel ihm aber glatt in Stirn und Nacken. ‚Als hätte ihm eine Kuh über den Kopf geleckt‘, pflegten die Leute zu sagen, wenn Regin es nicht hörte.

    Die Jungen schlüpften in Hosen und Strickjacken, zogen sich ihre Schuhe an und verließen die Kammer.

    „Sollen wir Signy fragen, ob sie mitkommen will?", fragte Buri.

    Regin schüttelte den Kopf. „Nein. Sie würde bestimmt nur versuchen, uns abzuhalten."

    Signy war ihre große Schwester. Sie war ein paar Jahre älter als die beiden Jungen. Ihre Mutter war einige Jahr zuvor gestorben, und ihr Vater, Alrik, war der König von Nordmark, einem Land mit kargen, steilen Felsküsten, grünen Heiden, düsteren Mooren und hohen Berggipfeln, auf denen das ganze Jahr über Schnee lag.

    Regin und Buri schlichen sich aus dem Gebäude, in dem ihre Schlafkammer lag, und überquerten den offenen Platz zwischen den einzelnen Gebäuden des Königshofes. Zwischen den Häusern hindurch war weißer Nebel zu sehen, der über dem Fjord unter dem Hof lag.

    Plötzlich durchbrach der Klang eines Horns die nächtliche Stille. Dann ertönten lautes Geschrei und das Klirren von Stahl vom Strand herauf.

    „Da bläst jemand zum Angriff!, rief Regin aus. „Was geht da vor sich?

    Die beiden Jungen blieben stehen und blickten auf den Fjord hinaus.

    In diesem Moment kam ein Mann mit einer Fackel in der Hand herbeigelaufen. Es war Skagge, einer der engsten Vertrauten des Königs.

    „Da seid ihr ja!, sagte er erleichtert. „Gut, dass ich euch gefunden habe. Ihr kommt mit mir.

    „Wohin? Warum? Was ist hier los?", fragte Regin.

    „Wir werden angegriffen, erklärte Skagge. „Aber wir wissen nicht, von wem. Wie aus dem Nichts sind feindliche Langschiffe aus dem Nebel aufgetaucht. Der König kämpft an vorderster Front mit seinen Kriegern. Mir wurde aufgetragen, euch Kinder in Sicherheit zu bringen. Kommt jetzt mit mir mit.

    „In Sicherheit? Wo?", hakte Regin nach.

    „Keine Zeit für Fragen, sagte Skagge und packte ihn am Arm. „Los jetzt.

    Er zog Regin mit sich und Buri versuchte angestrengt, mit den beiden Schritt zu halten.

    „Was ist mit Signy?", fragte er.

    „Sie wartet schon auf euch, sagte Skagge. „Im Gegensatz zu euch beiden war sie in ihrer Kammer. Ich musste sie nicht erst suchen.

    Skagge führte sie hinunter zu einem kleinen Steg, an dem ein Ruderboot vertäut lag. Im Boot saßen Signy und ein weiterer Vertrauter des Königs.

    „Da seid ihr ja!", rief Signy erleichtert aus, als die beiden Jungen ins Boot kletterten. Zum Schutz gegen die nächtliche Kälte hatte sie sich in ein großes Tuch gehüllt. Es bedeckte ihr langes, blondes Haar und einen großen Teil ihres Kleides.

    In der Dunkelheit waren noch immer wütendes Gebrüll und das Klirren von Waffen zu hören. Die drei Kinder versuchten herauszuhören, wie sich die Schlacht entwickelte, aber keines von ihnen wagte, auch nur ein Wort zu sagen. Signy biss sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten. Ohnmächtig vor Wut ballte Regin die Hände. Buri schaute sich besorgt nach Feinden um.

    „Verschwinden wir schnell", sagte Skagge und griff nach einem der Ruder. Der zweite Gefolgsmann ergriff das andere und das Boot glitt in den Fjord hinaus.

    „Wo geht es hin?", fragte Buri.

    „Zur Insel, erklärte Skagge. „Und jetzt will ich kein Wort mehr hören. Wir sind nicht allein hier draußen auf dem Wasser.

    Ein Stück weiter im Fjord lag eine bewaldete Insel. Das war ihr Ziel.

    Skagge und sein Gefährte ruderten mit kräftigen Zügen. Jedes Mal, wenn die Ruder ins Wasser eintauchten, ertönte ein leises Plätschern. Ansonsten war kein Geräusch zu hören.

    Das Wasser des Fjords war schwarz und ruhig. Feine Nebelschwaden zogen langsam über sie hinweg wie bleiche, nächtliche Gestalten, und Buri konnte den Blick nicht von ihnen abwenden.

    Einen Augenblick später tauchte der schwarze Kopf eines Drachens aus dem Nebel auf, und Buri unterdrückte nur mit Mühe einen angsterfüllten Schrei.

    Skagge und dem anderen Gefolgsmann war das nicht entgangen. Sie hoben die Ruder aus dem Wasser und ließen das Boot lautlos weitergleiten.

    Auf den Drachenkopf folgte der Bug eines Langschiffs.

    „Hast du auch etwas plätschern gehört?", rief jemand auf dem Deck.

    „Das war bestimmt nur ein Seevogel, erwiderte eine andere Stimme. „Die landen hin und wieder auf dem Wasser. Aber es ist eine Schande, dass wir hier auf dem Schiff Wache halten müssen, während alle anderen den Ruhm ernten und die Beute abstauben.

    „Das kannst du laut sagen, gab die erste Wache zurück. „Wir sind eben zwei Pechvögel.

    Die Kinder gaben keinen Mucks von sich. Sie wagten kaum zu atmen. Das Boot trieb lautlos weiter und wurde von der Strömung vorangetragen. Langsam verschwand das Drachenschiff hinter ihnen im Nebel.

    Skagge und sein Gefährte atmeten erleichtert auf und griffen wieder nach den Rudern. Nun ging es wieder schnell voran.

    Nach einer Weile tauchte die Insel vor ihnen aus der Dunkelheit auf, und das Boot glitt in eine kleine, von hohen Bäumen gesäumte Bucht. Am Ufer wurden sie von einem Mann erwartet.

    Skagge half den Kindern an Land und sagte: „Das ist Grutte Graubart. Er wird sich um euch kümmern."

    „Ich habe gehört, wie jemand zum Angriff geblasen hat, sagte Grutte. „Ging es um den Königshof?

    „Ja, und es geht hart zur Sache, sagte Skagge. „Wir müssen sofort zurück und an der Seite unseres Königs kämpfen.

    „Ich will auch mit, sagte Regin. „Ich …

    „Auf gar keinen Fall, unterbrach ihn Skagge. „Das ist kein Kinderspielplatz. Wenn Männer in die Schlacht ziehen, dann sitzt ihnen stets der Tod im Nacken.

    Er kletterte zurück ins Boot und ließ es schnell wieder auf den Fjord hinausgleiten.

    Die Kinder musterten Grutte neugierig. Sein Bart war von grauen Strähnen durchzogen und seine Haut so runzelig wie ein vertrockneter Apfel. Aber sein Blick war klar und seine Haltung aufrecht.

    „Warum mussten wir hierherkommen?, fragte Signy. „Und wer seid Ihr überhaupt?

    „Ich bin ein alter Freund eures Vaters, erwiderte Grutte. „In meinen besten Jahren lehrte ich ihn den Umgang mit dem Schwert und begleitete ihn auf vielen Abenteuern. Da war er kaum größer als ihr zwei Knaben. Als ich zu alt für den Krieg und das Kämpfen geworden war, habe ich mich auf dieser Insel niedergelassen. Seitdem lebe ich hier allein. Aber ich habe eurem Vater versprochen, dass ihr hier immer Zuflucht findet, wenn ihr sie braucht. So wie jetzt … Aber nun kommt erst einmal mit in meine Hütte.

    Grutte Graubart wohnte an einem Hang mit Blick auf das Wasser. Vor seiner Hütte hing ein Fischernetz zum Trocknen, und an einem Pfahl in der Mitte der Bucht war ein kleines Boot vertäut.

    Die Kinder folgten Grutte in seine Behausung. Er breitete ein paar Tierfelle auf dem Boden aus und sagte: „Bestimmt sorgt ihr euch um euren Vater. Aber versucht trotzdem, ein wenig zu schlafen."

    Gehorsam legten die drei sich hin, und trotz all der nächtlichen Aufregungen fielen sie bald darauf in einen unruhigen Schlaf.

    *

    Sie wurden vom durchdringenden Geruch gekochten Fischs geweckt. Durch das Rauchloch im Dach fiel das Morgenlicht in die Hütte.

    „Zeit zum Frühstücken, sagte Grutte und stellte eine Schüssel auf den Tisch. „Das kommt wahrscheinlich nicht an das heran, was ihr vom Königshof gewohnt seid, aber Essen ist Essen.

    Die Kinder setzten sich an den Tisch, und Grutte öffnete die Tür, um auf den Fjord hinausblicken zu können. Der Nebel war verschwunden und die Wellen glitzerten in der Sonne. Ein Schwarm schwarzer Kormorane flog knapp über der Wasseroberfläche dahin.

    Die drei Kinder verrenkten sich die Hälse, um in Richtung des Königshofs schauen zu können. Sie hofften, einen Hinweis auf den Ausgang der Schlacht zu erhaschen, aber eine bewaldete Anhöhe versperrte die Sicht.

    „Wenn wir doch nur wüssten, wie alles ausgegangen ist", sagte Signy und seufzte.

    „Vaters Krieger sind die Besten im ganzen Land, sagte Regin. „Sie haben den Feind heute Nacht besiegt.

    „Dort ist ein Schiff!, rief Buri aus. „Es umrundet gerade die Landspitze. Könnte das Vater sein, der uns abholt?

    Grutte sprang auf, stellte sich in die Türöffnung und schirmte seine Augen mit der Hand gegen die Sonne ab.

    „Das ist keines von König Alriks Schiffen, sagte er. „Das ist ein Drache, und es dürstet ihn nach eurem Blut. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Werft eure Schüsseln und das Essen in das Fass mit den Abfällen und folgt mir.

    Die Kinder beeilten sich, den Tisch abzuräumen, während Grutte die Felle, auf denen sie geschlafen hatten, zur Seite räumte. Danach führte er sie tief in den Wald hinein.

    Die ersten Blätter verfärbten sich allmählich gelb, und obwohl die Sonne durch das Astwerk schien, war es im Schatten auf dem Boden kalt und feucht.

    Die Kinder mussten kräftig ausschreiten, um mit Grutte Schritt zu halten.

    „Ob Vater wohl … Was, glaubt Ihr, ist ihm zugestoßen?, fragte Signy. „Und allen anderen?

    „Ich weiß es nicht, gestand Grutte. „Jetzt geht es erst einmal darum, ein Versteck für euch zu finden. Die Insel ist nicht allzu groß, und eine Gruppe von Männern kann sie im Handumdrehen durchsuchen. Aber ich kenne einen Ort, der seinen Zweck erfüllen wird.

    Kurz darauf blieb Grutte an einer riesigen Eiche stehen, die einst in einem Wintersturm umgestürzt war. Der mächtige Stamm lag auf dem Waldboden, und die Wurzeln ragten in alle Himmelsrichtungen. Dort, wo sie noch im Boden steckten, befand sich ein großes Loch. Im Laufe der Jahre war der Boden mit Birkenablegern und Brombeersträuchern zugewachsen, und eine dicke Schicht vertrockneter Blätter war in die Senke geweht worden.

    „Unter den Wurzeln findet ihr eine Art Höhle, sagte Grutte. „Dort könnt ihr euch verstecken. Wenn man nichts von ihr weiß, ist sie kaum zu erkennen. Normalerweise hält dort ein Bär seinen Winterschlaf.

    „Wir sollen uns also bei einem Bären verstecken?", fragte Buri und schnappte nach Luft.

    Grutte lachte kurz auf.

    „Der legt sich erst zum Schlafen, wenn der Frost kommt", sagte er und fegte die verdorrten Blätter zur Seite. Die Kinder krochen zwischen die Büsche. Tatsächlich verbarg sich hier ein Loch im Boden, gerade groß genug, dass sie sich hineinhocken konnten.

    Grutte schob das Laub wieder zurück an seinen Platz und legte ein paar lange Brombeerranken über die Blätter.

    „So, sagte er. „Ihr bleibt hier, bis ich euch hole. Und denkt daran – macht keinen Mucks!

    Dann eilte er zurück zu seiner Hütte und kam gerade rechtzeitig, als ein Schiff mit drachenförmigem Rumpf in der Bucht vor Anker ging. Eine Gruppe Männer sprang über die Reling und watete an Land. Sie waren mit Speeren und Äxten bewaffnet, und ihr Anführer trug ein kostbares Schwert und einen silbernen Reif um den rechten Arm.

    Er trat ohne Umschweife auf Grutte zu und sagte: „Wir sind Herwulfs Männer. Mein Name ist Bodwar, und ich bin sein Heerführer."

    Grutte biss die Zähne zusammen, um sich seinen Zorn nicht anmerken zu lassen. Er hatte schon viel von Herwulf gehört – allerdings nichts Gutes. Herwulf war kein Landbesitzer. Seine Macht bestand einzig aus einer ganzen Flotte schneller Schiffe. Er und seine Krieger segelten von Küste zu Küste, gingen an Land, schlugen zu und plünderten, was das Zeug hielt. Sie waren weithin verhasst, und König Alriks Truppen waren schon mehr als einmal mit ihnen aneinandergeraten.

    „Herwulf ist jetzt an der Macht, fuhr Bodwar fort. „Er hat uns mit dem Auftrag gesandt, drei Kinder zu finden. Ein halbwüchsiges Mädchen und zwei Jungen. Habt Ihr sie gesehen? Wir belohnen denjenigen, der uns sagen kann, wo sie stecken, mit einem Beutel voller Silbermünzen.

    „Kinder?, wiederholte Grutte erstaunt. „Hier gibt es keine Kinder.

    „Das wollen wir doch erst einmal sehen, sagte Bodwar. Er wandte sich an seine Gefolgsleute und rief ihnen zu: „Legt los.

    Zwei der Männer hatten bereits die Hütte durchsucht. Sie schlossen sich den anderen an, die sich in kleine Gruppen aufteilten und zwischen den Bäumen umherzustreifen begannen.

    „Ihr sagtet, dass Herwulf jetzt an der Macht sei, sagte Grutte zu Bodwar. „Wie ist das zu verstehen?

    „Ganz einfach, sagte Bodwar und grinste. „Wir haben letzte Nacht den Hof des Königs angegriffen und König Alrik niedergeschlagen. Er hat sich tapfer geschlagen, das muss man ihm lassen.

    Grutte verzog keine Miene und bereitete sich auf das Schlimmste vor.

    „Nachdem Alrik gefallen war, haben sich viele seiner Männer ergeben und sind in den Dienst von Herwulf übergetreten, fuhr Bodwar fort. „Der Rest hat den Weg ins Jenseits gefunden – mit ein wenig Hilfe. Herwulf ist nun der König von Nordmark. Aber Alrik hat drei Kinder, die wir nicht auf dem Königshof vorgefunden haben. Eine Dienstmagd hat mir gesagt, sie habe zwei Männer mit drei Kindern in einem Boot wegrudern sehen. Und Ihr sollt ja König Alriks treuester Gefolgsmann sein.

    „Ich bin kein Freund von Alrik", erklärte Grutte und spuckte auf die Erde. „Ja, ich stehe schon lange in seinen Diensten, aber als ich zu alt und schwach zum Kämpfen wurde, jagte er mich fort. Einem zahnlosen Jagdhund opfert man kein Essen, sagte er. Diese Worte habe ich nie vergessen. Seine Kinder sind nicht hier. Aber wenn sie es wären, so wäre ich der Erste, der sie fangen würde."

    Bodwar stieß ein kurzes Lachen aus.

    „Wortgewandt seid Ihr wohl, sagte er. „Aber ich traue Euch nicht über den Weg, alter Fuchs. Schauen wir zunächst, was meine Männer finden.

    *

    Buri fiel das Luftholen schwer. Der feuchte Geruch der nackten Erde in der Höhle war erdrückend. Er konnte Signy und Regin leise atmen hören, ansonsten war alles ruhig. Die dichte Schicht aus welkem Laub schirmte das Tageslicht ab.

    Dunkel und kalt wie in einer Gruft ist es hier, dachte er und spürte, wie die Angst in ihm aufstieg. Wenn sie uns aufspüren und umbringen, können sie uns einfach liegenlassen. Begraben sind wir ja eigentlich schon.

    Er konnte sie in der dunklen Erde vor sich sehen – die vielen, vielen bleichen Gesichter, die das Tageslicht hinter sich gelassen und an diesem Ort gelandet waren, in ewiger Reglosigkeit erstarrt. Aber immer noch lag Kraft in ihren Blicken, die sie auf die drei verängstigten Kinder in der Höhle gerichtet hatten.

    „Die Toten …, flüsterte Buri. „Sie sehen uns.

    Signy legte die Hand auf seinen Mund und presste ihm den Kiefer zusammen.

    „Sei still!", zischte sie ihm ins Ohr.

    Buri gehorchte, während Signy angespannt den gedämpften Geräuschen von draußen lauschte.

    Die Blätter raschelten kaum hörbar im Wind. Ein paar Meisen zwitscherten leise.

    Plötzlich durchschnitt der Schrei eines Eichelhähers die Luft.

    Signy erstarrte. Dann legte sie beruhigend die Arme um Buri und Regin.

    Einen Augenblick später hörten sie die Stimmen. Zwei Männer.

    „Wie lange wollen wir noch hier noch wie die Verrückten herumirren?, fragte der Erste. „Das ist doch reine Zeitverschwendung.

    „Da hast du recht, erwiderte der Zweite. „Aber versuch mal, das Bodwar begreiflich zu machen.

    „Was hältst du von dem welken Laub dort unten? Meinst du, dort könnte sich jemand verstecken?"

    „Aber natürlich. Mäuse und Asseln. Nun komm schon, die anderen sind uns weit voraus."

    „Ich schaue trotzdem einmal nach."

    Signy hielt vor Schreck den Atem an und presste ihre Brüder an sich. Jemand stieß eine Speerspitze durch das Blattwerk und stocherte damit herum.

    Die Speerspitze streifte Signys Schuh. Dann verschwand sie wieder hinter den Blättern.

    „Und, was ist jetzt?"

    „Ja, ja, ich komme ja schon."

    Die beiden Stimmen entfernten sich und Signy stieß langsam den Atem aus. Buri und Regin richteten sich auf, so gut es ging. Allmählich fiel die Angst von ihnen ab.

    Sie saßen nun schon eine ganze Weile in dem engen Loch, das es ihnen weder erlaubte, aufrecht zu sitzen, noch die müden Glieder zu strecken. Regin bekam einen Krampf im Bein, der immer schlimmer und schlimmer wurde. Er versuchte, das Bein auszustrecken, stieß aber gegen die Höhlenwand.

    „Sie sind weg, flüsterte er. „Wollen wir herauskriechen?

    Signy umklammerte seinen Arm mit festem Griff.

    „Hast du nicht zugehört?, fragte sie. „Wir sollen hierbleiben.

    Regin seufzte inbrünstig, blieb aber gehorsam sitzen.

    Eine ganze Weile später hörten die Geschwister, wie Grutte nach ihnen rief. Sie schoben das Blätterdach zur Seite und blinzelten ins helle Sonnenlicht.

    „Die Männer sind fortgesegelt, sagte Grutte. „Ihr seid außer Gefahr. Zunächst. Es war wirklich Herwulf, der den Königshof angegriffen hat. Sie haben …

    „Herwulf!", platzte Buri heraus. „Wusste ich es doch! Er war also der Wolf!"

    „Was sagst du?", fragte Grutte verblüfft.

    „Ähm … ich hatte da so einen Traum", murmelte Buri.

    „Bestimmt habt ihr schon von Herwulf gehört, fuhr Grutte fort. „Er und seine Männer sind die größte Bande von Gaunern und Räubern auf dieser Erde. Ich selbst habe gegen sie gekämpft, bevor ich zu alt wurde, um …

    „Grutte, unterbrach Signy seine Erinnerungen. „Ihr habt kein Wort über Vater gesagt. Was …?

    Grutte schaute sie mit hilflosem Blick an.

    „Er … er ist tot, nicht wahr?", flüsterte Signy.

    Grutte nickte.

    „Er fiel an der Spitze seiner tapferen Männer, sagte er. „Und er starb einen ehrenvollen Tod – aber das wird euch kein großer Trost sein.

    Signy begann lautlos zu weinen, und die Tränen liefen ihr über die Wangen.

    Unbeholfen legte Buri den Arm um seine Schwester, während Regin erbleichte.

    „Das schreit nach Rache!, presste er heraus. „Dafür wird Herwulf mit seinem Leben bezahlen! Ich werde ihn in Stücke hacken – zuerst seine Hände, dann seine Füße und zum Schluss seinen erbärmlichen Kopf!

    Grutte packte Regin fest an den Schultern.

    „Erst, wenn die Zeit reif ist, sagte er. „Du hast noch einen weiten Weg vor dir. Du musst lernen, deinen Jähzorn zu zügeln, sonst wirst du dich Kopf voraus ins Unglück stürzen. Und du musst den Umgang mit Waffen erlernen. Das gilt für euch alle. Hier wimmelt es von Leuten, die euch am liebsten tot sehen würden.

    „Ich weiß, wie man mit dem Schwert umgeht", sagte Regin.

    „Ganz bestimmt, sagte Grutte. „Aber du weißt nicht, wie es ist, gegen einen erfahrenen Krieger zu kämpfen. Das musst du lernen – und das kannst du hier. Auch wenn ich mit den Jahren grau wie ein Dachs geworden bin, habe ich meine Kampfkünste nicht verlernt.

    Die Sonne stand schon tief, als Grutte und die Kinder zur Hütte zurückkehrten. Schweigend verzehrten sie ihr Abendessen.

    Mehrmals blickten Buri und Regin auf das Wasser hinaus, als hofften sie, ein Schiff mit ihrem Vater an Bord zu sehen. Sie konnten nicht fassen, dass er für immer fort sein sollte.

    Als sie ihr Mahl beendet hatten, holte Grutte seine Waffen herbei.

    „Ich habe sie immer poliert und von Rost befreit, erklärte er. „Ansonsten ist nichts daran auszusetzen. Sie haben mir treu gedient, als ich noch in König Alriks Diensten stand. Und jetzt kommen sie euch, seinen Kindern zugute. Ihr seid die Letzten eurer Sippe – wenn ihr sterbt, ist niemand mehr da, der euren Vater rächen wird. Ihr müsst lernen, auf euch selbst achtzugeben.

    Die Kinder nickten. Von einem auf den anderen Moment war ihr Leben aus den Fugen geraten. Nachdem

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