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Analytische Psychotherapie zwischen 18 und 25: Besonderheiten in der Behandlung von Spätadoleszenten
Analytische Psychotherapie zwischen 18 und 25: Besonderheiten in der Behandlung von Spätadoleszenten
Analytische Psychotherapie zwischen 18 und 25: Besonderheiten in der Behandlung von Spätadoleszenten
eBook442 Seiten4 Stunden

Analytische Psychotherapie zwischen 18 und 25: Besonderheiten in der Behandlung von Spätadoleszenten

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Über dieses E-Book

Psychotherapie mit Patienten im Übergang zum Erwachsenwerden

Die Spätadoleszenz ist eine Zeit des Abschieds. Eines Abschieds von den Eltern, von einem gesellschaftlichen Schutzraum (der bis dato Handeln ohne allzu weitreichende Konsequenzen ermöglichte) und von kompensierenden Omnipotenz- und Grandiositätsvorstellungen. Durch den Verlust äußerlich strukturierender Gegebenheiten kommt in dieser Lebensphase die „innere Ausstattung“ auf den Prüfstand. In der Versorgungspraxis besteht eine Besonderheit bei der Psychotherapie junger Erwachsener: Je nach Alter beim Behandlungsbeginn werden die jungen Patientinnen und Patienten von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder von Erwachsenentherapeuten behandelt. Die Praxis zeigt oft: Beide Therapeutengruppen sind unzureichend auf diese Patientengruppe vorbereitet.

Praxisorientiert: Nutzen und Fallstricke in der Therapie

Der therapeutische Umgang mit Patientinnen und Patienten in dieser Lebensphase (18-25 Jahre) stellt besondere Anforderungen an die Therapeutin, den Therapeuten und spielt sich ab im Spannungsfeld von

- diagnostischer Unsicherheit und heftigen Gegenübertragungsreaktionen auf Seiten der Therapeutinnen und Therapeuten bzw. des therapeutischen Teams sowie

- Sprachlosigkeit, Ambivalenz gegenüber dem therapeutischen Angebot, massiver Scham und (unbewusster) Angst vor der eigenen Destruktivität auf Seiten des jungen Patienten.

Dieses Buch bietet eine praxisorientierte Einführung in die Besonderheiten der Psychotherapie mit Spätadoleszenten und jungen Erwachsenen.

Geschrieben für analytische  und tiefenpsychologische Psychotherapeuten in Ausbildung und Praxis, aber auch Praktiker anderer theoretischer Orientierung, die sich mit der Therapie und Beratung von Patienten zwischen 18 und 25 vertraut machen möchten

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum8. Juli 2014
ISBN9783642353574
Analytische Psychotherapie zwischen 18 und 25: Besonderheiten in der Behandlung von Spätadoleszenten

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    Buchvorschau

    Analytische Psychotherapie zwischen 18 und 25 - Holger Salge

    Holger SalgeAnalytische Psychotherapie zwischen 18 und 252013Besonderheiten in der Behandlung von Spätadoleszenten10.1007/978-3-642-35357-4_1© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

    1. Einführung

    Holger Salge¹  

    (1)

    Fachklinik f. analytische Pschotherapie, Sonnenberg Klinik, Christian-Belser-Str. 79, 70597 Stuttgart, Deutschland

    Holger Salge

    Email: holger.salge@t-online.de

    Zusammenfassung

    Zu Beginn dieses Buches soll eine junge Frau zu Wort kommen (▶ Kasten „Kurzgeschichte: Der andere Tiger"), die ich 2009 kennengelernt habe. Die damals 19-jährige Patientin tat sich im Rahmen einer stationären Behandlung zunächst sehr schwer, den therapeutischen Raum für sich zu nutzen und sich aus ihrem idealisierten Rückzugsarrangement herauszuwagen.

    „Es dürfte so um das Abi herum gewesen sein. Da fiel der Startschuss zu unserer Verpassens- und Versagensangst. Da eröffnete sie sich zum ersten Mal vor unseren Augen: die große, endlos weite Fläche. Offen, horizontlos, infinit lag sie plötzlich da. Zukunft, so lautete dieses Neuland. Eine unangenehme, zu gestaltende weiße Leere. Ohne einen einzigen Farbtupfer, ohne Begrenzungen, Zwänge, Zäune, Hindernisse. Wir nahmen all unseren Mut zusammen und betraten, zögerlich, das weiße kühle Glatteis des Noch-Nichts."

    Nina Pauer

    Zu Beginn dieses Buches soll eine junge Frau zu Wort kommen (▶ Kasten „Kurzgeschichte: Der andere Tiger"), die ich 2009 kennengelernt habe. Die damals 19-jährige Patientin tat sich im Rahmen einer stationären Behandlung zunächst sehr schwer, den therapeutischen Raum für sich zu nutzen und sich aus ihrem idealisierten Rückzugsarrangement herauszuwagen.

    Die von der Patientin verfasste Kurzgeschichte skizziert und verdichtet eine Vielzahl spätadoleszenter Phänomene. Ein Nebeneinander von hoher (hier gestalterischer) Kompetenz, beeindruckender Unmittelbarkeit, tiefen Selbstzweifeln und Identitätsunsicherheit wird ebenso deutlich wie Grandiositätsfantasien im Dienste der Vermeidung von Entwicklung, die kompensierende Funktion von Tagträumen und die Idealisierung der eigenen Rückzugsorganisationen . Außerdem wird ein häufig erkennbares Ringen sichtbar, das junge Menschen mit Entwicklungsschwierigkeiten aufweisen, ein ständiges Oszillieren zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen progressiven und regressiven Tendenzen, zwischen dem Versuch der Aneignung des eigenen Körpers, der eigenen Geschlechtlichkeit und dessen befürchtetem Scheitern, zwischen Rückzug in eine Tagtraumwelt und dem Versuch, sich in der Realität zurechtzufinden, zwischen dem kritisch-ängstlichen Blick auf sich selbst und dem schaminduzierenden Blick der anderen.

    Kurzgeschichte: Der andere Tiger

    Sie ist stark, schnell, ausdauernd. Genau wie die anderen Tiger hier im Gehege. Sie sind alle ungefähr im selben Alter. Noch nicht ganz ausgewachsen, aber bald alt genug, um eigene Wege zu gehen. Endlich raus in die Freiheit zu kommen. Sie sind nämlich alle in einem Auswilderungsgehege aufgewachsen.

    Wenn man die Tiger hier alle so betrachtet, fällt eigentlich gar nicht auf, dass eine Tigerin anders ist. Aber trotzdem ist sie irgendwie anders. Sie versteht sich gut mit den anderen, sie mögen sie und sie mag die anderen eigentlich auch. Aber dennoch ist sie oft gerne allein. Wenn sie gerade nicht jagt, sondern einfach nur der Sonne liegt, denkt sie nicht wie die anderen Tiger über die nächste Beute nach. Sie denkt über ganz andere Sachen nach. Sie träumt sich in ihre eigene Welt oder denkt über sich und ihr Leben nach. Sie kann natürlich nicht wissen, dass die anderen sich nicht solche Gedanken machen wie sie – man kann Gedanken nicht lesen – aber manchmal merkt sie, dass sie irgendwie anders ist.

    Wie alle Tiger hier träumt auch sie von der Weite Afrikas. Es muss toll sein, alleine durch die endlose Savanne zu ziehen, völlig frei zu sein, kein Zaun, der einen umgibt. Sie will genauso wie die anderen endlich ausgewildert werden, und bald ist es wahrscheinlich auch so weit. Sie träumt davon, endlich allein zu sein, denn das braucht sie. Sie kann so eingesperrt nicht länger leben.

    So denkt sie oft, wenn sie in der Sonne vor sich hin döst. Genauso wie alle anderen Tiger hier drinnen auch. Aber es ist nicht genauso. Manchmal erkennt sie das selber. Und dann macht es ihr Angst. Dann erkennt sie nämlich, dass diese Träume, so wie sie sich das mit der Freiheit vorstellt, für sie, im Gegensatz zu den anderen, völlig unrealistisch sind. Dass sie sich nur einredet, dass sie in die Freiheit will, alleine sein will, weil sie erwachsen wird. In Wirklichkeit hat das bei ihr ganz andere Gründe, und diese Gedanken machen ihr Angst.

    Anders als die anderen Tiger macht sie sich nämlich nicht nur Gedanken, wie sie ihre Beute erlegen kann, sondern auch, wie sie sich selbst schaden kann. Irgendetwas in ihr will sie am liebsten zerstören. Vielleicht nicht völlig, aber ihr zumindest schaden. Vielleicht auch nur, um danach die Wunden wieder heilen zu lassen. Sie weiß es nicht. Aber sie weiß, dass sie in Wirklichkeit nicht ausgewildert werden will, weil sie die Freiheit braucht, sondern weil sie sich dann zum Beispiel ungestört in die Sonne legen kann und warten, bis sie verhungert ist. Oder sich kurz davor dann vielleicht doch mit letzter Kraft zurück in ihr Gehege schleppen und von den Wärtern wieder aufpäppeln lassen kann. Um Kraft zu sammeln, bis sie sie wieder in die Wildnis lassen und sie sich wieder weiter zerstören kann.

    Die Tigerin weiß, dass das ihre eigentlichen Pläne sind. Aber sie weiß, dass das nicht normal ist, und sie weiß nicht, warum sie solche Gedanken hat. Sie will solche Gedanken nicht haben. Deshalb versucht sie sich immer wieder einzureden, dass sie die Freiheit braucht, weil es ihr dann besser geht, und dass sie alt genug ist, für sich allein zu sorgen. Das sagt sie natürlich auch den anderen. Sie kann ihnen ja schlecht sagen, dass sie sich nur selbst zerstören will. Dann würden sie sie auch nie gehen lassen. Und wenn die anderen es wüssten, wäre es für sie ja noch schwerer, das selbst zu verdrängen. Sie will diese Gedanken doch nicht haben. Sie will glauben können, dass sie ganz normal ist, bald ausgewachsen sein wird und dann alleine für sich sorgen kann. Dann könnte alles so einfach sein.

    Aber es gibt immer wieder Situationen, in denen sie merkt, dass sie anders ist. Beziehungsweise eigentlich weiß sie gar nicht, wie sie wirklich ist, weil sie sich so viel Mühe gibt, normal zu sein, und immer nur das macht, von dem sie denkt, dass andere Tiger das auch so machen würden, ohne wirklich zu wissen, ob sie das eigentlich selber auch will. Sie sagt, dass sie die Freiheit will. Sie sagt, dass sie sich dort ein tolles Tigermännchen suchen will. Sie sagt, dass sie gerne mit anderen Tigern zusammen ist und oft nur so alleine in der Sonne liegt, weil sie so schüchtern ist, aber das ändern will. Sie sagt, dass sie ausgewildert werden will, um ihre eigene Wege zu gehen. Sie sagt solche Sachen, weil sie denkt, dass andere so etwas wollen würden, und sie will doch auch einfach normal sein. Aber in Wirklichkeit will sie nicht in die Freiheit, weil die Freiheit sie überfordert. In Wirklichkeit will sie sich kein Tigermännchen suchen, weil sie nicht versteht, was sie damit machen soll und was andere so anziehend an den Männchen finden. In Wirklichkeit will sie nicht mit anderen zusammen sein, sondern will nur alleine sein, weil sie da nicht so tun muss, als wäre sie normal. In Wirklichkeit weiß sie gar nicht, was ihre eigenen Wege wären. Sie versucht immer nur, die Verhaltensweisen der anderen zu verstehen, zu lernen und nachzumachen, um nicht aufzufallen. Aber sie kann nie einfach sie selbst sein. Sie weiß gar nicht, was sie machen würde, was sie wollte, wenn sie mal nicht versuchen würde, wie die anderen zu sein. Deshalb muss sie weiter versuchen, sich wie die anderen zu verhalten, weil sie nicht weiß, was sie sonst machen sollte.

    Letztens zum Beispiel kam ein Tigermännchen zu ihr. Sie wusste, dass er sich jetzt mit ihr paaren will, sie hatte das schon oft genug bei anderen Tigern gesehen. Sie hat auch schon oft gehört, wenn andere Tiger darüber geredet haben. Sie hat das alles aufgenommen und sich in Gedanken eine Vorstellung davon gemacht, wie es sich anfühlen könnte. Sie dachte, dass irgendwelche tollen Gefühle aufkommen, dass man sich voll auf den Sex konzentriert und alles andere ausblenden kann, dass es sich irgendwie gut anfühlt und man das will. Aber bei ihr kamen solche Gefühle nicht. Es war nicht unangenehm, aber es war auch nicht weiter toll. Es war einfach so, wie es war, sie hat alles mit sich machen lassen und es war ihr einfach gleichgültig. Sie konnte nicht mal sagen, ob sie das jetzt eigentlich will oder nicht. Sie hat auch nicht verstanden, was das Männchen daran toll fand. Sie zumindest hatte überhaupt kein Gefühl dazu. Es hat sich nur irgendwie richtig angefühlt, weil sie dachte, dass andere so was auch machen und es schön finden. Aber im Nachhinein fühlte es sich eigentlich ziemlich falsch an, weil sie ja nicht einmal weiß, ob sie das wollte oder nicht. Sie hat einfach mitgemacht, ohne zu wissen warum, einfach nur, weil sie dachte, dass es normal ist, und sie will doch auch normal sein.

    An solchen Tagen, wenn sie die Wahrheit erkennt, wenn sie merkt, dass sie nicht normal ist, dann überfordert sie diese Einsicht. Dann will sie überhaupt nicht mehr weg hier. Dann will sie am liebsten den ganzen Tag in der Sonne liegen und von den Wärtern gekrault werden. Aber das würde ja auch auffallen, das wäre ja auch nicht normal, also versucht sie lieber wieder sich einzureden, dass sie ganz normal ist und nicht solch seltsame Gedanken hat, von denen sie nicht weiß, woher sie kommen. Wenn sie sich eingestehen würde, dass sie nicht auf sich selber aufpassen kann, dann müsste sie sich ja noch mit viel mehr Fragen auseinandersetzen. Was wird aus einem Tiger, der nicht auswilderungsfähig ist? Sie kann doch nicht immer hier in ihrem Gehege bleiben. Da würden lauter Fragen und Probleme auftauchen, mit denen sie sich nicht auseinandersetzen will, die ihr alle zeigen würden, wie anders sie ist.

    Also legt sie sich lieber einfach wieder wie alle anderen in die Sonne, träumt von der Freiheit, der unendlichen Weite der afrikanischen Savanne, wie gut es ihr dort gehen könnte, was sie dort alles machen könnte und wie schön es sein könnte, auf eigenen Füßen zu stehen.

    Die Kurzgeschichte illustriert: Die Spätadoleszenz ist eine Zeit des Abschieds; eines Abschieds von den inneren und äußeren Eltern, von einem gesellschaftlichen Schutzraum, der bis dahin Handeln ohne allzu weitreichende Konsequenzen ermöglichte, aber auch von kompensierenden Omnipotenz- und Grandiositätsvorstellungen. Wenn dieser Abschied misslingt, wird es keinen wirklichen Aufbruch in ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben geben.

    Bei der Adoleszenz handelt es sich aber auch um einen Zeitraum des Übergangs. Insofern ist diese Lebensphase in jeder Biografie – und auch im Fall des Gelingens – einem krisenhaften Charakter unterworfen und stellt hohe Anforderungen an die Integrationsmöglichkeiten des Individuums. Während die frühe und mittlere Adoleszenz eine Zeit des Ausprobierens, der versuchten Rollenübernahme, des Entscheidens und des Verwerfens beinhalten, stellt die Spätadoleszenz eher einen Moment der Bilanzierung dar. Die bis jetzt erworbene innere Ausstattung kommt gewissermaßen auf den Prüfstand (Salge 2009). Mit dem Versuch der schrittweisen Verselbstständigung und der damit verbundenen Ablösung von den inneren und realen Eltern sowie dem vertrauten Umfeld wird deutlich, ob der junge Mensch – der Definition der seelischen Gesundheit Freuds folgend – in eigenverantwortlicher Weise lieben, genießen und arbeiten kann.

    In intensiver Verschränkung der äußeren Lebensveränderungen und den inneren Entwicklungsprozessen vollzieht sich dieser Lebensabschnitt im Spannungsbogen zwischen Krise und Chance. Im äußeren Leben stellen sich plötzlich massive Veränderungen und auch Anforderungen ein, bislang Sicherheit und Schutz vermittelnde äußere Strukturen wie Familie, Heimat und Schule, die in den Jahren zuvor fehlende innere Stabilität wie durch ein äußeres Korsett gestützt haben, brechen weg oder müssen aufgegeben werden. Im Fall des Gelingens ist der Übergang in das Erwachsenenalter mit seinen Verpflichtungen und Verbindlichkeiten möglich, andernfalls droht ein Verharren in dieser lebensgeschichtlichen Übergangsphase oder sogar der spätadoleszente Zusammenbruch. Peter Blos schreibt dazu: „Die Abschlussphase der Adoleszenz ist der Zeitpunkt, wo adaptives Misslingen seine endgültige Form annimmt, wo der Zusammenbruch eintritt (Blos 1973, S. 164). Und an anderer Stelle: „Die Spätadoleszenz ist ein entscheidender Wendepunkt und daher eine Zeit der Krise. Hier ist es, wo wir die eigentliche Krise der Adoleszenz suchen müssen, die so oft die Integrationsfähigkeiten des Individuums überfordert und adaptives Versagen, Ich-Missbildungen, Defensivmanöver und schwere Psychopathologie verursacht (Blos 1973, S. 152).

    Mit der Verwendung des Begriffs Adoleszenz soll der gesamte Entwicklungsabschnitt, der durch die Pubertät angestoßen wird, mit Beginn im Alter von 12 oder 13 Jahren bis zur vorläufigen Konsolidierung der Persönlichkeitsentwicklung etwa Mitte 20 beschrieben werden. Die Spätadoleszenz oder das junge Erwachsenenalter erfassen hingegen lediglich den letzten Teil dieser Entwicklung, die Zeit der Verselbstständigungsanforderungen vom 18. bis etwa dem 25. Lebensjahr. Aufgrund der unscharfen Abgrenzung werde ich die beiden Begriffe synonym gebrauchen. Die in den zurückliegenden ein bis zwei Dekaden zu beobachtende Desynchronisation von Identitätsentwicklungen mit der Verlagerung spätadoleszenter Lebensthemen in spätere Phasen der individuellen Biografie kann nur am Rande Erwähnung finden.

    Die aktuellen Klassifikationssysteme des ICD-10 und des DSM-IV beinhalten keine diagnostischen Entitäten, die es erlauben, in der Adoleszenz bevorzugt auftretende oder an die Adoleszenz assoziierte Störungsbilder spezifisch zu erfassen. Somit droht die erhebliche Gefahr, in der psychotherapeutischen Diagnostik adoleszenter und spätadoleszenter Patienten dem Aspekt der Entwicklungsdynamik nicht ausreichend Rechnung zu tragen. Insbesondere im Lebenslauf ubiquitär auftretende Störungen wie Ängste und Depressionen sind oft an spezifische und alterstypische psychogenetische oder psychodynamische Gegebenheiten gebunden und aus dieser Perspektive nicht aus einer entwicklungspsychologischen Betrachtungsweise heraus lösbar. Der Ausdruckscharakter von adoleszenter Verunsicherung und Hemmung, Entwicklungsblockierung und sozialem Rückzugsverhalten sowie die Assoziation mit spezifischen Lebensthemen wie der Identitätsentwicklung und Konflikten zwischen Explorationswünschen und -ängsten finden somit keinen Niederschlag. Es gibt aber eine Reihe von Störungsbildern, die weitgehend an die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter bzw. an entsprechende Lebensformen gebunden sind oder zumindest hier ihren Beginn haben: Störungen des Sozialverhaltens, Substanzabusus, anorektische und bulimische Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten, soziale und dysmorphophobe Ängste.

    In meiner Darstellung möchte ich zunächst einen kurzen Überblick über die Theoriebildungen zur Adoleszenz und Spätadoleszenz aus psychoanalytischer Perspektive geben (Kap. 2), um dann auf die innerpsychische Entwicklung von Spätadoleszenten einzugehen, d. h. einige entwicklungspsychologische Besonderheiten skizzieren (Kap. 4). Bedeutsam erscheint auch die Frage, inwieweit die soziokulturellen Veränderungen in der westlichen Welt – mit Schlagworten wie Globalisierung, Beschleunigung, digitales Zeitalter und Werteverfall umrissen – auf die Entwicklungsbedingungen junger Menschen Einfluss nehmen. Hierzu werden einige Gedanken formuliert (Kap. 3). Im Anschluss werde ich versuchen, einige Schlaglichter auf den interessanten Diskurs zu Fragen der spezifischen Entwicklungspsychologie und der Identitätsentwicklung zu werfen. Dabei erscheint es mir auch geboten, ein Augenmerk auf die aktuell unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen von Mädchen und Jungen bzw. jungen Männern und jungen Frauen zu richten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch kurz auf die zunehmenden Schwierigkeiten eingehen, mit denen sich junge Männer offenkundig heute in ihrer Identitätsentwicklung konfrontiert sehen.

    In einem folgenden Abschnitt möchte ich dann den differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten und daraus folgenden Unsicherheiten in der Formulierung verlässlicher diagnostischer Einschätzungen, aber auch den Problemen in der psychotherapeutischen Indikationsstellung nachgehen, denen sich ein Psychotherapeut in der Begegnung mit spätadoleszenten Patienten ausgesetzt sehen kann (Kap. 5). Schließlich erscheint es mir notwendig, einige – in diesem Lebensabschnitt besonders bedeutsame und häufig anzutreffende – spezifische psychodynamische Figuren und Phänomene herauszuarbeiten und in ihrer Bedeutung für die Bewältigung oder das Scheitern der Entwicklungsaufgaben, aber auch in ihrer Einflussnahme auf den psychotherapeutischen Behandlungsprozess zu untersuchen (Kap. 6).

    Da in dieser Arbeit die psychotherapeutische Behandlung junger Menschen im Vordergrund stehen soll, die an den Entwicklungsaufgaben der (Spät-)Adoleszenz gescheitert sind oder zumindest zu scheitern drohen, verdient die Frage nach dem Verständnis für dieses Scheitern besondere Beachtung. In psychogenetisch-psychodynamischer Hinsicht möchte ich dabei Aspekte des unfertigen Selbst als Folge eines nicht erreichten stabilen (sexuellen) Identitätsgefühls, damit im Zusammenhang stehende Gefühle von Neid und Rache wie auch der Angst vor der eigenen Destruktivität besondere Beachtung schenken. Schließlich erscheint mir die Betonung der Scham in ihrer entwicklungsfördernden oder entwicklungshemmenden Auswirkung von eminenter Bedeutung (Kap. 7).

    Einen Schwerpunkt in der Darstellung möchte ich auf die behandlungstechnischen Besonderheiten und auch die besonderen Anforderungen an die therapeutische Haltung (Kap. 10) und die Person des Therapeuten in der psychotherapeutisch-psychoanalytischen Arbeit mit Patienten in dieser Lebensphase legen (Kap. 11). Ein stabiler Zugang zu den eigenen Adoleszenzerfahrungen bei einer ebenso stabilen inneren Verortung des Therapeuten in der Erwachsenenwelt, eine unkorrumpierbare Überzeugung der Notwendigkeit und Unumkehrbarkeit von Entwicklung, die immer mit (Trauer-)Arbeit verbunden ist, aber auch ein humorvoller Umgang mit den Erfahrungen von Gelingen und Scheitern sind hilfreiche Eigenschaften aufseiten des Therapeuten in der psychotherapeutischen Begegnung mit Spätadoleszenten und jungen Erwachsenen.

    Dabei gilt es immer, das Paradox im Auge zu behalten, das sich das Behandlungsangebot mit seinen regressionsfördernden Momenten an Patienten richtet, die in ihrer inneren und äußeren Lebensorganisation mit den komplexen Anforderungen von Verselbstständigung und Individualisierung konfrontiert sind. Die Bewältigung von bzw. das Scheitern an den Lebensanforderungen der äußeren Welt steht subjektiv sehr im Vordergrund, die Turbulenzen der inneren Welt werden in der Regel vor den Einblicken der Außenwelt und damit auch des Psychotherapeuten, häufig genug aber auch vor der eigenen Wahrnehmung geschützt. In dieser Lebensphase einen Psychotherapeuten aufzusuchen, bedeutet immer auch eine erhebliche Kränkung für den jungen Patienten, weil dieser Schritt das Eingeständnis einschließt, an der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben (zumindest partiell) gescheitert zu sein.

    Diese Feststellung verweist schon auf die hohe Bedeutung des Schamaspekts in der Begegnung mit Patienten dieser Altersgruppe. Gleichzeitig stellen die zum Teil (immer noch) fehlenden oder zumindest eingeschränkten Reflexions- und Versprachlichungsmöglichkeiten und die damit einhergehende Bevorzugung von Handlungsbotschaften besondere Anforderungen an die Vorgehensweise des Therapeuten und/oder des therapeutischen Teams. Spezifische Übertragungs- und Gegenübertragungsfiguren sowie massive Affekte, wie sie aus der Behandlung von Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen vertraut sind, treten ausgesprochen häufig in Erscheinung und beeinflussen den Behandlungsprozess in besonderer Art und Weise. Verschiedene destruktive Verhaltensweisen wie manipulative Einflussnahmen auf den eigenen Körper, massive Selbstverletzungen, „militante" Verweigerung, aber auch vordergründige Anpassung, verbunden mit dem Risiko, sich in der Therapie nicht wirklich berühren zu lassen, tragen dazu bei, dass sich die Behandlung von Patienten dieser Altersgruppe im Spannungsfeld von diagnostischer Unsicherheit, Verwirrung, Wut- und Versagensgefühlen und anderen heftigen Gegenübertragungsreaktionen aufseiten des Therapeuten/des therapeutischen Teams sowie Sprachlosigkeit, Ambivalenz gegenüber dem Therapieangebot, Überforderungserleben, Identitätsverlustangst, massiver Scham und (unbewusster) Angst vor der eigenen Destruktivität aufseiten des jungen Patienten abspielt.

    In einem abschließenden, aber ausführlichen Kapitel möchte ich die psychotherapeutische Behandlung Spätadoleszenter und junger Erwachsener in verschiedenen Settings beleuchten (Kap. 8). Dabei nehme ich nur Bezug auf die Verfahren, mit denen ich eigene Erfahrungen gesammelt habe.

    Schon sehr früh in der Geschichte der Psychoanalyse haben sich die Schwierigkeiten mit Patienten in der Adoleszenz und dem jungen Erwachsenenalter nachhaltig zu erkennen gegeben. Die dramatischen behandlungstechnischen Schwierigkeiten Josef Breuers im Fall der Anna O. können einerseits als Geburtsstunde der psychoanalytischen Behandlung gesehen werden, verwiesen aber schon damals auf das massive Verwicklungspotenzial in der Behandlung junger Erwachsener bzw. auf die Bedeutung des Generationenunterschieds zwischen Patient und Therapeut.

    Auch die psychoanalytische Bewegung selbst ist in ihrer Frühzeit durch nicht zu bewältigende „spätadoleszente Auseinandersetzungen" geprägt, die alsbald zu Abspaltungsbewegungen und Gründung neuer Schulrichtungen durch Alfred Adler und Carl Gustav Jung geführt haben. Auch auf dieser Ebene werden die erheblichen und oft auch nicht leistbaren Integrationsanforderungen erkennbar, die möglicherweise auch dazu beigetragen haben, dass die Besonderheiten von Menschen im Übergang zum Erwachsenendasein innerhalb der Psychoanalyse und ihren theoretischen Konzepten zunächst eine vorsichtige und später nur sporadische Beachtung gefunden haben.

    Gegenüber der in diesem Buch skizzierten Betrachtungsweise von (Spät-)Adoleszenz als einer besonderen und störanfälligen Lebensphase gibt es auch durchaus kritische Stellungnahmen (Coleman 1984; Remschmidt 1992). Selbstverständlich ist auch ein neurobiologischer, soziologischer, neuropsychiatrischer oder empirisch-statistischer Zugang zu der gewählten Thematik möglich, der dann eventuell auch zu anderen Einschätzungen gelangt oder andere Aspekte in den Vordergrund rückt.

    Der große Vorteil einer psychoanalytischen Perspektive scheint mir darin zu liegen, dass die Psychoanalyse sowohl für die gesunde als auch für die gestörte Entwicklung der Adoleszenz und des Übergangs in das Erwachsenenalter letztlich doch kohärente theoretische Modelle entwickelt hat, die sich in der klinischen Anwendung als überaus brauchbar erweisen. Der Hinweis von Rainer Huppert, dass umfangreiche epidemiologische Studien die Adoleszenz als einen mehr oder weniger kontinuierlich ablaufenden Entwicklungsprozess darstellen, in dem ein umfangreiches Konvolut von Entwicklungsaufgaben von dem weitaus größten Teil der Adoleszenten ohne psychopathologische Auffälligkeiten absolviert wird (Huppert 2002), widerspricht der Feststellung des (individuell) krisenhaft verlaufenden Charakters dieser Lebensphase nicht unbedingt. Oder um mit Peter Blos zu sprechen: „Integration geht eben leiser vor sich als Desintegration" (Blos 1973, S. 152).

    Die Besonderheit psychoanalytischer Konzept- und Theoriebildung, deren klinischer Überzeugungskraft und Nutzen sich auch heute noch derjenige, der die Mühe der echten Auseinandersetzung nicht scheut, kaum entziehen kann, bleibt die Annahme eines dynamischen Unbewussten mit seinen vielfältigen Einflüssen auf das Fühlen, Denken und Handeln des Individuums. Dieses lässt sich mit den Methoden empirisch-statistischer Forschung und Betrachtungsweise (zumindest bislang) nicht wirklich erfassen, beschreiben und quantifizieren.

    Holger SalgeAnalytische Psychotherapie zwischen 18 und 252013Besonderheiten in der Behandlung von Spätadoleszenten10.1007/978-3-642-35357-4_2© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

    2. Ein kurzer Abriss der psychoanalytischen Adoleszenztheorien

    Holger Salge¹  

    (1)

    Fachklinik f. analytische Pschotherapie, Sonnenberg Klinik, Christian-Belser-Str. 79, 70597 Stuttgart, Deutschland

    Holger Salge

    Email: holger.salge@t-online.de

    2.1 Sigmund Freud

    2.2 Siegfried Bernfeld

    2.3 Anna Freud

    2.4 August Aichhorn

    2.5 Erik H. Erikson

    2.6 Peter Blos

    2.7 Jeanne Lampl-de Groot

    2.8 Donald H. Winnicott

    2.9 M. Egle und Moses Laufer

    2.10 Mario Erdheim

    2.11 Fazit und neuere Entwicklungen

    Zusammenfassung

    Obwohl schon die ersten Fallgeschichten der Psychoanalyse in den Studien zur Hysterie die Begegnungen mit sehr jungen Patientinnen zum Gegenstand haben, hat Freud selbst dieser Lebensphase für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung keine besonders herausragende Bedeutung beigemessen, sie zumindest nicht explizit theoretisiert. Allerdings finden sich über sein Werk verstreut doch verschiedene Hinweise, die nicht nur die psychosexuelle Entwicklung im Blick haben, sondern auch die Bedeutung dieser Lebensphase für die soziale Entwicklung des Individuums hervorheben: „Die Ablösung des Kindes von den Eltern wird […] zu einer unentrinnbaren Aufgabe, wenn die soziale Tüchtigkeit des jungen Individuums nicht gefährdet werden soll (S. Freud 1909, S. 51). In seiner letzten großen Arbeit Das Unbehagen in der Kultur (S. Freud 1930, S. 462) schreibt er: „Die Familie will aber das Individuum nicht freigeben. Je inniger der Zusammenhalt der Familienmitglieder ist, desto mehr sind sie oft geneigt, sich von den anderen abzuschließen, desto schwieriger wird ihnen der Eintritt in den größeren Lebenskreis […] Die Ablösung von der Familie wird für jeden Jugendlichen zur Aufgabe, bei deren Lösung ihn die Gesellschaft oft durch Pubertäts- und Aufnahmeriten unterstützt.

    „Da hatte ich mich selbst, ganz für mich allein, und niemand beobachtete mich und niemand hemmte meine Schritte, ich konnte mit meinem Tag machen, was ich wollte, und das war das Unmögliche, mit mir selbst fertig zu werden, mir selbst ein Dasein zu verschaffen."

    Peter Weiss

    2.1 Sigmund Freud

    Obwohl schon die ersten Fallgeschichten der Psychoanalyse in den Studien zur Hysterie die Begegnungen mit sehr jungen Patientinnen zum Gegenstand haben, hat Freud selbst dieser Lebensphase für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung keine besonders herausragende Bedeutung beigemessen, sie zumindest nicht explizit theoretisiert. Allerdings finden sich über sein Werk verstreut doch verschiedene Hinweise, die nicht nur die psychosexuelle Entwicklung im Blick haben, sondern auch die Bedeutung dieser Lebensphase für die soziale Entwicklung des Individuums hervorheben: „Die Ablösung des Kindes von den Eltern wird […] zu einer unentrinnbaren Aufgabe, wenn die soziale Tüchtigkeit des jungen Individuums nicht gefährdet werden soll (S. Freud 1909, S. 51). In seiner letzten großen Arbeit Das Unbehagen in der Kultur (S. Freud 1930, S. 462) schreibt er: „Die Familie will aber das Individuum nicht freigeben. Je inniger der Zusammenhalt der Familienmitglieder ist, desto mehr sind sie oft geneigt, sich von den anderen abzuschließen, desto schwieriger wird ihnen der Eintritt in den größeren Lebenskreis […] Die Ablösung von der Familie wird für jeden Jugendlichen zur Aufgabe, bei deren Lösung ihn die Gesellschaft oft durch Pubertäts- und Aufnahmeriten unterstützt.

    Im Sinne seines „zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung beim Menschen galt ihm die Pubertät in erster Linie als Neuauflage der ödipalen Problematik. Freud verzichtet damit explizit auf eine Differenzierung zwischen der Pubertät als einem biologischen Vorgang und der Adoleszenz als einem überwiegend soziokulturellen Phänomen. Im 3. Kapitel der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, das mit „Die Umgestaltungen der Pubertät überschrieben ist, skizziert Freud die zu leistenden Entwicklungsschritte: die Unterordnung der erogenen Zonen unter das Primat des Genitales, unterschiedliche Sexualziele der Geschlechter und die Wahl von Sexualobjekten außerhalb der eigenen Familie (S. Freud 1905). Jones vertiefte diese Perspektive einige Jahre später zu der sogenannten Rekapitulationstheorie der Adoleszenz (Jones 1922). Die Entwicklung der ersten fünf Lebensjahre wird aus dieser Perspektive auf einem höheren seelischen Niveau erneut durchlaufen, führt aber nicht zu einer inneren Neuorganisation.

    Hervorzuheben ist allerdings die Bedeutung, die Freud der adoleszenten Ablösungsthematik für die Kulturentwicklung zusprach. In den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (S. Freud 1905, S. 128) heißt es: „Gleichzeitig mit der Überwindung und Verwerfung dieser deutlich inzestuösen Phantasien wird eine der bedeutsamsten, aber auch schmerzhaftesten, psychischen Leistungen der Pubertätszeit vollzogen, die Ablösung von der Autorität der Eltern, durch welche erst der für den Kulturfortschritt so wichtige Gegensatz der neuen Generation zur alten geschaffen wird."

    Diese Betrachtungsweise, deren Berechtigung sich in den mehr als 100 Jahren seit ihrer Formulierung in der gesellschaftlichen Entwicklung immer wieder in beeindruckender Weise bestätigt hat, fand über Jahrzehnte hinweg allerdings nur wenig Beachtung innerhalb und außerhalb der analytischen Community. Nachdem auch die Überlegungen von Siegfried Bernfeld in den 1920er-Jahren zur „gestreckten Pubertät" in ihrer Beziehung zur Jugendbewegung letztlich wenig Resonanz fanden, war es Mario Erdheim vorbehalten, den Zusammenhang zwischen Adoleszenz und Kulturentwicklung wieder aufzugreifen und auch theoretisch systematisch weiterzuentwickeln.

    Erst kürzlich wies T. Aichhorn (2012) auf die Thematisierung der Pubertät in einer frühen Arbeit Freuds –Entwurf einer Psychologie (S. Freud 1950) – hin. Im 2. Kapitel dieser Arbeit, 1895 verfasst, aber 1950 erstmalig und 1987 in korrigierter und vollständiger Form veröffentlicht, werden die Aspekte des zweizeitigen Ansatzes des Sexuallebens und das Phänomen der Nachträglichkeit erstmalig formuliert. Auch der Einfluss von affektivem Erleben auf andere Bereiche des Seelenlebens, besonders auf das Denken, wird in dieser Darstellung berührt: „Es ist eine ganz alltägliche Erfahrung, dass Affektentwicklung den normalen Denkablauf hemmt, und zwar in verschiedener Weise" (S. Freud 1950, S. 449). In dieser Lesart beschäftigt sich bereits eine der ersten psychoanalytischen Arbeiten Freuds mit der Pubertät und ihren nachhaltigen Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums.

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