Erfüllt leben = Lieben lernen. Eine christliche Sicht auf (Selbst)hilfe und Gesellschaft im Zeitalter des Algorithmus
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Über dieses E-Book
In unserer heutigen Algorithmus-Gesellschaft fühlen Menschen sich immer mehr wie Zahlen in einem System behandelt. Auch für unser Gesundheitswesen, dessen Ursprünge schließlich im jüdisch-christlichen Gedankengut liegen, hat dies weitreichende Folgen. Denn dort steht die Liebe im Mittelpunkt, also die Sorge für den Menschen als Person. Später folgte das humanistische Zeitalter, das nun wiederum von einer Datenreligion abgelöst zu werden scheint. Diese geht davon aus, Fürsorge könne zum größten Teil analysiert und von Big Data reguliert werden. Durch eine solche Entwicklung wird Selbsthilfe und Hilfeleistung immer unpersönlicher, was das Risiko in sich birgt, dass Menschen sich nicht mehr gehört und gesehen fühlen.
Im Hinblick auf Messbarkeit richten sich Big Data vor allem auf die biologische Dimension und den Verhaltensanteil der psychischen Dimension. Das im Gesundheitswesen gängige biopsychosoziale Modell wird auf diese Weise von vorneherein reduziert. Die spirituelle Dimension wird dabei erst recht außer Acht gelassen. Diese steht vor allem für Lenkung und Bedeutung und komplettiert das biopsychosoziale Modell, so dass von einem biopsychosozialspirituellen Modell (BPSS) die Rede sein kann.
Die optimale Gestaltung der spirituellen Dimension wird in diesem Buch aus christlicher Sicht betrachtet, wodurch auch die übrigen Dimensionen beeinflusst werden. Im großen Gebot der Bibel geht es um die Liebe von und zu Gott sowie um die Liebe zum Mitmenschen und zu sich selbst. Diese Liebe kann als Zuneigung aufgefasst werden. Die Liebe Gottes hat sich ganz wesentlich im Leben, Leiden und Sterben Jesu Christi zum Ausdruck gebracht. Er ist auferstanden und inspiriert Menschen durch Seinen Heiligen Geist dazu, lieben zu lernen. Durch Ihn kann ein Leben als erfüllt betrachtet werden, wohingegen die heutige pharisäische Regel- und Algorithmus-Gesellschaft Menschen leer und unerfüllt zurücklässt.
Margreet de Vries-Schot veröffentlichte bereits vier Bücher: ihre Doktorarbeit, auch in einer populärwissenschaftlichen Version, sowie zwei weitere Bücher, die sich für Gesprächskreise, aber auch zum Selbststudium eignen.
Sie bringt viel Praxiserfahrung und theoretisches Hintergrundwissen in allen vier Dimensionen des biopsychosozialspirituellen Modells mit, als Psychiaterin und Ärztin, als Psychotherapeutin, als Paar- und Familientherapeutin sowie als Theologin. Sie arbeitete in diversen Organisationen als (Kinder- und Jugend)psychiaterin sowie als Managerin, Ausbilder, Vorstandsmitglied und Chefärztin. Seit einigen Jahren ist sie hauptsächlich in eigener Praxis tätig. Darüber hinaus leitet sie seit fast 30 Jahren regelmäßig Gottesdienste bei der protestantischen Kirche in den Niederlanden (PKN).
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Buchvorschau
Erfüllt leben = Lieben lernen. Eine christliche Sicht auf (Selbst)hilfe und Gesellschaft im Zeitalter des Algorithmus - Margreet de Vries-Schot
Einleitung
A Lieben lernen
Lieben lernen für ein erfülltes Leben
Dieses Buch lädt Sie zur Suche nach einem erfüllten Leben ein. Unsere Suche wird jedoch nicht an einem Ort enden, an dem wir für immer angekommen sind und nichts mehr tun müssen. Ebenso wenig werden hier vorgefertigte Antworten geliefert. Vielmehr geht es um Wegweiser in eine bestimmte Richtung. An diesen Wegweisern können wir bewusst innehalten und prüfen, wohin sich unser Leben bewegt. Sind wir auf ein Abstellgleis geraten, weil die Probleme uns über den Kopf wachsen oder uns zu überwältigen drohen? Wenn wir uns möglicher Auswege bewusst werden und erkennen, in welcher Richtung wir diese finden, können wir Schwierigkeiten wieder in den Griff bekommen und unser Leben in die eigene Hand nehmen. Denn jeder von uns wird zwar mit manchen Schwächen geboren und erleidet Verletzungen, doch haben wir alle auch besondere Stärken, nicht zuletzt Resilienz und Flexibilität.
Die nahezu surrealistische Zeit, in der wir leben und in der sich das Coronavirus in Windeseile zu einer Pandemie entwickeln konnte, wie wir sie seit der Spanischen Grippe vor hundert Jahren nicht mehr erlebt haben, zeigt all dies besonders deutlich. Auf der ganzen Welt sehen wir die Notwendigkeit, zur Besinnung zu kommen, um einen weiteren Ausbruch des Virus zu verhindern.
Über lange Zeit ist die Menschheit davon ausgegangen, dass wir Gott nicht brauchen und unsere Welt mach- und messbar ist. Jetzt sehen wir, dass all diese Sicherheiten auf einen Schlag hinweggefegt werden können, sei es durch einen Krieg oder ein Virus.
Manchmal quälen uns außerdem Fragen wie diese: Warum haben wir scheinbar alles, was unser Herz begehrt, und sind trotzdem nicht glücklich und zufrieden? Viele Menschen leiden heutzutage gar nicht so sehr unter schwerwiegenden Problemen und fühlen sich dennoch innerlich leer. Wenn sie über ihr Leben nachdenken, fragen sie sich: Soll das alles gewesen sein? Mit anderen Worten: Sie sind auf der Suche nach einem erfüllten Leben.
Was hat es nun mit der Liebe auf sich und wieso müssen wir sie erlernen? Können wir das nicht schon längst, Lieben? Oder denken wir vielleicht sogar, dass die Liebe aus der Mode gekommen oder sowieso vergänglich ist, und wagen uns darum gar nicht erst an sie heran?
Wie ist unser Verhältnis zu einer Gesellschaft, in der wir von immer mehr Regeln umgeben sind? Möglicherweise haben Sie sich all diese Fragen auch schon einmal gestellt.
Vielleicht wundern Sie sich manchmal, wo Sie herkommen, wo Sie hingehen und was der Sinn Ihres Lebens ist. Diese Fragen sind so alt wie die Menschheit selbst, doch in unserer Zeit, die geprägt ist von einem Übermaß an Informationen und Unterhaltung, nehmen wir uns selten die Zeit, diese Fragen auf einer tieferen Ebene zu uns durchdringen zu lassen.
Meine Motivation für dieses Buch liegt in der Suche nach Faktoren, die zur Beantwortung all solcher Fragen beitragen können. Wenn wir sie nicht beachten, so scheint mir, gerät die Entwicklung unserer Persönlichkeit auf eine schiefe Bahn. Diese Fehlentwicklung macht sich sowohl in unserem Gesundheitswesen als auch in der Gesellschaft als Ganzes bemerkbar.
Hilfe und Selbsthilfe
Es gibt eine Menge von Selbsthilfebüchern und auch das Internet wimmelt von Methoden, die Selbstverwirklichung als ein erreichbares Ziel darstellen, wenn wir uns nur genug anstrengen. Häufig lösen diese Angebote zwar nur einen Teil des Problems, aber auch das ist nicht unwichtig. Wenn wir die verschiedenen Bereiche identifizieren, die unser Leben ausmachen, so wie es sich uns gerade darstellt, kann uns das in unserer Selbstreflektion voranbringen. Wir erkennen so besser die unterschiedlichen Facetten, die unser Leben in all seiner Komplexität bunter machen und es uns bisweilen auch erschweren. Zugleich wird uns bewusst, wie wir als Individuum mit unserer Eigenheit immer mehr in ein Korsett aus gesellschaftlichen Normen gepresst werden. Diese Regeln können sich allerdings aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Umwälzungsprozessen in der Gesellschaft so häufig verändern, dass wir nicht mehr mitkommen und kaum einen Halt finden. Wir tun darum gut daran, über die Chancen und Risiken der gesellschaftlichen Gegebenheiten für die Ausgeglichenheit unseres eigenen Lebens nachzudenken.
Dieses Buch eignet sich für Menschen, die sich aus den verschiedensten Gründen für die Themen Therapie, Gesundheitswesen und Selbsthilfe interessieren, vor allem auf psychosozialem Gebiet. Die gleichen Prinzipien lassen sich auch auf die Medizin und die Seelsorge sowie darüber hinaus anwenden und gelten für die gesamte Gesellschaft.
Es ist bekannt, dass in Deutschland mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung erfüllt. In den Niederlanden hat fast die Hälfte aller Menschen irgendwann in ihrem Leben mit einer psychischen Erkrankung zu tun. Jedes Jahr leidet dort fast ein Fünftel aller Erwachsenen an einer psychischen Störung, die häufig vorübergehender Natur ist und von alleine oder mit der richtigen Behandlung wieder verschwindet. In diesem Sinne dreht sich dieses Buch auch um das Thema Prävention.
Praxiserfahrung
In meiner Praxis als Psychiaterin und Psychotherapeutin führe ich immer wieder Gespräche mit Klienten, die mehr oder weniger bewusst solche existenziellen Fragen mit sich herumschleppen. Diese und andere Gründe führen dazu, dass ihre Beziehungen scheitern oder sie Schwierigkeiten auf der Arbeit, im Studium oder in der Gesellschaft als Ganzes haben. Was fehlt ihnen?
Diese Frage möchte ich mit Ihnen zusammen erforschen und aus meiner Sicht als Ärztin, Psychiaterin und Theologin beleuchten. Ich erwähne an dieser Stelle meine Fachrichtungen, weil ich mich dem Thema von der Biologie/Physiologie, der Psychologie, der Soziologie und der (christlichen) Spiritualität her annähern möchte. Als Ärztin kenne ich mich mit der biologischen/körperlichen Dimension aus, als Psychiaterin und Psychotherapeutin mit der psychischen Dimension, als Paar- und Familientherapeutin mit der sozialen Dimension und als Theologin mit der spirituellen Dimension. Im Jahr 2006 habe ich im Grenzgebiet zwischen Psychiatrie und Theologie promoviert (später mehr dazu). Was mich schon immer fasziniert hat, ist das Ungleichgewicht, in das wir uns in unserer postmodernen Zeit verstrickt haben. Wir stellen enorm hohe Ansprüche an unser Leben und sind oft bereit, viel einzusetzen, um all unsere Erwartungen zu erfüllen. Aber was geben wir dabei auf? Welchen Preis bezahlen wir dafür? Was, wenn wir trotz allem nicht erreichen, was wir uns vorgenommen haben? Wie geht es dann weiter?
Meine eigene Entwicklung
Ich bin im christlichen Glauben erzogen worden und habe ihn mir durch Gebet und Bibellese zu eigen gemacht. Als Kind wurde uns aus der Kinderbibel vorgelesen. Von klein auf war mir bewusst, wie einsam und kalt das Leben wäre, wenn es Gott nicht gäbe oder wenn Er sich nicht um mich kümmerte, so wie Er für jeden Menschen sorgen möchte.
Mein Ideal war es damals schon, Tropenärztin zu werden, vor allem um anderen Kindern helfen zu können, denen es nicht so gut wie mir ging. Nach dem Gymnasium erhielt ich einen Studienplatz in Medizin, wandte mich jedoch zunächst der Theologie zu, um meinen Glauben zu vertiefen. Dieses Studium ließ mich auch danach nicht mehr los und ich setzte es neben dem Medizinstudium in Utrecht fort. Zwei Mal war ich im Sommer für einige Monate in den Tropen, am Amazonas und im heutigen Kongo, um dort in einer Poliklinik und in einem Krankenhaus mitzuhelfen. Es war eine wunderbare und unvergessliche Zeit. Doch dann spürte ich keine klare Berufung mehr, weiter dort zu arbeiten. Ich fühle mich aber nach wie vor der Mission und Entwicklungshilfe sehr verbunden.
Nach der Ausbildung als Ärztin habe ich mich auf die Psychiatrie spezialisiert. Später wurde ich außer (Kinder- und Jugend)psychiaterin auch Psychotherapeutin sowie Paar- und Familientherapeutin. Weil der Glaube oder vielmehr Gott das Wichtigste in meinem Leben war und ist, habe ich mich immer damit auseinandergesetzt, wie das Verhalten in der Therapie und im Gesundheitswesen zum christlichen Glauben passt. Und umgekehrt: Wie können Glaube und Sinnfindung in der Therapie und im Gesundheitswesen einen bedeutsamen Platz bekommen? Immer wieder zeigte sich mir nämlich, dass es durchaus ein Bedürfnis danach gibt. Auch wenn Glaubensfragen in der Psychiatrie manchmal belächelt werden, habe ich dies im Allgemeinen nicht als Spannungsfeld erlebt. Dennoch ist es für mich ein mahnendes Zeichen und auch befremdlich, wenn ich von Patienten immer wieder höre, dass das Glaubensthema ein therapeutisches Gespräch eher beendet als dass es zum Gesprächsstoff gemacht wird. Es sollte doch die Grundhaltung eines Therapeuten sein, das ernst zu nehmen, was seinem Klienten wichtig ist. Warum sollten wir anders damit umgehen, wenn es um unseren Glauben geht?
Spannungsfelder in Institutionen
Seit einigen Jahren fällt mir immer mehr ein Spannungsfeld auf, und zwar nicht bei anderen Therapeuten, die im Allgemeinen ihren Mitmenschen wirklich helfen wollen, sondern vor allem in der Art und Weise, wie Therapie und Gesundheitswesen institutionell gestaltet werden. Die Betonung liegt dort immer stärker auf Behandlungsmethoden und deren Standardisierung. Es ist natürlich gut, dass es immer mehr anwendbare Methoden gibt, solange sie vor allem als das betrachtet werden, was sie sind, nämlich als ein Mittel, Menschen zu helfen, und nicht als Selbstzweck, bei dem Menschen genau so und nicht anders geholfen werden muss.
Unter dem Stichwort ‚Aufgabendifferenzierung‘ wird innerhalb unseres Gesundheitswesens immer mehr aufgaben- und weniger personenorientiert gearbeitet. Der wichtigste Grund dafür scheint in der einfacheren Steuerung durch Management und Krankenversicherungen zu liegen. So muss man sich als Therapeut in psychischen Gesundheitsdiensten meistens auf ein einziges Krankheitsbild beschränken und auch das nur für eine bestimmte Altersgruppe.
Da ich dies als Verarmung meines Fachs erlebe, habe ich mich vor einigen Jahren dazu entschieden, nicht mehr in einer Institution, sondern in meiner eigenen Praxis zu arbeiten. Für diese Praxis habe ich das Motto gewählt: Leben ist Lieben lernen. Dieses Motto dient als Grundlage für meinen Buchtitel. Wenn jeder Mensch die Erfahrung machte, ungeachtet seiner Unvollkommenheiten und Verletzlichkeit geliebt zu sein und diese Liebe auch weitergeben zu können, wäre schon viel gewonnen. Viele Menschen, die in ihrem Leben in eine Sackgasse geraten, fühlen sich wertlos, haben Angst, nicht zu zählen, oder haben den Eindruck, an den Rand gedrängt zu werden. Wenn sie sich durch eine Therapie bewusst werden, dass es sie geben darf und dass sie ihre eigenen Entscheidungen treffen dürfen, während sie zugleich Rücksicht auf andere nehmen, dann erfahren diese Menschen ihr Leben fast immer als lebenswerter. Wenn sie, auf welche Art auch immer, Akzeptanz und Liebe an andere weitergeben können, kommt dies für gewöhnlich ihrer eigenen Sinnstiftung zugute. Können sie Gott als Quelle der Liebe dankbar sein, kommt eine weitere Dimension ins Spiel, die Stabilität bietet.
Ein Beispiel: Früher wären wir mit Mitleid oder Herablassung behandelt worden, wenn wir das Wort ‚Produktion‘ im Zusammenhang mit Therapie in den Mund genommen hätten. Heute ist es ein neutrales Wort. Aber was produzieren wir eigentlich als Therapeuten und Ärzte? Meistens ist damit gemeint, ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Das