Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe: Mitgliedschaftstheoretische Reinterpretationen
Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe: Mitgliedschaftstheoretische Reinterpretationen
Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe: Mitgliedschaftstheoretische Reinterpretationen
eBook358 Seiten3 Stunden

Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe: Mitgliedschaftstheoretische Reinterpretationen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Soziologie der Mitgliedschaft legt einen besonderen Anschnitt bei der Untersuchung der klassischen soziologischen Grundbegriffe Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe. Er besteht darin, dass sie im Hinblick auf die Strukturbestandteile sozialer Systeme zu untersuchen sind. Der Band führt in zentrale Grundbegriffe der Soziologie ein, die dem Soziologiestudenten eine Orientierung für die Beobachtung von Kommunikation und Mitgliedschaft bereitstellen. Er wertet soziologisches Wissen aus und führt die Kommunikation mit der Tradition des Faches fort.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Sept. 2012
ISBN9783531941219
Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe: Mitgliedschaftstheoretische Reinterpretationen

Ähnlich wie Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe

Ähnliche E-Books

Sozialwissenschaften für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe - Gerhard Preyer

    Teil 1

    Die Problemstufenordnung

    Gerhard PreyerRolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe2012Mitgliedschaftstheoretische Reinterpretationen10.1007/978-3-531-94121-9_1© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012

    1. Soziologische Theorie

    Gerhard Preyer¹  

    (1)

    Goethe-Universität Frankfurt am Main, Stephan-Heise-Str. 56, 60488 Frankfurt, Deutschland

    Gerhard Preyer

    Email: preyer@em.uni-frankfurt.de

    Zusammenfassung

    Für den Anschnitt, den die allgemeine Theorie sozialer Systeme vornimmt, ist es hervorzuheben, dass sie nicht vom Gesellschaftsbegriff ausgeht. Als allgemeine Theorie ist es für sie grundlegend, welche einfachen Unterscheidungen sie für die Untersuchung von komplex sozialen Strukturen vornimmt. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass die allgemeine Theorie bei ihrer Spezifikation auf den soziologischen Gegenstandsbereich einschränkenden Bedingungen unterliegt. Es ist insofern hervorzuheben, dass sie gerade nicht für alle sozialen Systeme gelten, z. B. sind die Mitgliedschaftsbedingungen formal organisierter sozialer Systeme nicht auf andere Systemtypen anzuwenden. Insofern können die Ergebnisse dieser Forschung nur begrenzt verallgemeinert werden. Die Theorie sozialer Systeme wird in einem Segment des Wissenschaftssystems als einem Teilsystem des funktional differenzierten Gesellschaftssystems aufgestellt und ist eine Kommunikation in diesem System. Gehen wir von dieser Systemreferenz aus, so erkennen wir, dass die Systemtheorie nicht den Anspruch hat, in andere Funktionssysteme eingeführt zu werden. Sie hat, so wie jede Theorie, auch keinen direkten Anwendungsbezug, und sie kann nur durch die Verbesserung und Neufassung der Theorie fortgeschrieben werden. Damit wird aber nicht bestritten, dass sie als eine systemspezifische Kommunikation nicht auch des Marketings und des Engagements bedarf.

    Für den Anschnitt, den die allgemeine Theorie sozialer Systeme vornimmt, ist es hervorzuheben, dass sie nicht vom Gesellschaftsbegriff ausgeht. Als allgemeine Theorie ist es für sie grundlegend, welche einfachen Unterscheidungen sie für die Untersuchung von komplex sozialen Strukturen vornimmt. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass die allgemeine Theorie bei ihrer Spezifikation auf den soziologischen Gegenstandsbereich einschränkenden Bedingungen unterliegt. Es ist insofern hervorzuheben, dass sie gerade nicht für alle sozialen Systeme gelten, z. B. sind die Mitgliedschaftsbedingungen formal organisierter sozialer Systeme nicht auf andere Systemtypen anzuwenden. Insofern können die Ergebnisse dieser Forschung nur begrenzt verallgemeinert werden. Die Theorie sozialer Systeme wird in einem Segment des Wissenschaftssystems als einem Teilsystem des funktional differenzierten Gesellschaftssystems aufgestellt und ist eine Kommunikation in diesem System. Gehen wir von dieser Systemreferenz aus, so erkennen wir, dass die Systemtheorie nicht den Anspruch hat, in andere Funktionssysteme eingeführt zu werden. Sie hat, so wie jede Theorie, auch keinen direkten Anwendungsbezug, und sie kann nur durch die Verbesserung und Neufassung der Theorie fortgeschrieben werden. Damit wird aber nicht bestritten, dass sie als eine systemspezifische Kommunikation nicht auch des Marketings und des Engagements bedarf.

    Es ist uns aus der wissenschaftlichen Kommunikation vertraut, dass Fachwissenschaftler unter Theorie unterschiedliches verstehen. Das liegt durch die Begriffsgeschichte nahe, die von dem bios theoreticos des Aristoteles bis zur Rede von „Theorie" als Kalkül reicht.¹ Für das neuzeitliche Denken tritt die Berechenbarkeit für das Verständnis des Theoretischen und des Denkens in den Vordergrund. Berechenbarkeit ist aus dieser Sicht die Limitationalität des Denkens. Ich gehe davon aus, dass wir die zwangsläufig auftretenden Unebenheiten bei der Rede von „Theorie" dadurch vermeiden können, wenn wir davon ausgehen, dass Theorie nichts anderes heißt als Unterscheidungen zu treffen, um damit ihr vorausgesetztes Universum zu systematisieren und die getroffenen Unterscheidungen der Beobachtung auszusetzen.² Man könnte sich darauf berufen, dass das schon Aristoteles wusste, aber unsere Denkvoraussetzungen haben sich insofern verändert, da Unterscheidungen die strukturellen Merkmale des Gegenstandsbereichs betreffen, die sich nicht mehr am Beispiel der ontologischen Unterscheidungen zwischen Form und Materie sowie zwischen Subjekt und Objekt gewinnen lassen, sondern nur noch im Hinblick auf den Beobachter, seine Selbstreferenz, seine begrifflichen Ressourcen, seine Ontologie und der Wiedereinführung der Unterscheidung in den Bereich des Unterschiedenen. Dieser Anschnitt bei der Erkenntnisgewinnung geht auf Spencer Brown zurück.³

    Die wissenschaftliche Disziplin der Soziologie hat keinen eindeutig belegbaren Anfang, den wir nur einem bestimmten Gründungsautor zuschreiben. Es ist für sie aus unserer heutigen Sicht auch typisch, dass sie keinen theoretischen Abschluss finden wird. Wir können dennoch davon ausgehen, dass es sie vor dem 19. Jahrhundert in unserem heutigen Verständnis nicht gegeben hat. A. Comte hat den Ausdruck zuerst gebraucht und dem Soziologen eine in die Zukunft weisende Rolle zugewiesen. Die in der Folge eingetretene Entwicklung der Soziologie wäre aber nicht möglich gewesen, ohne die Ideen, Unterscheidungen und Verfahren, die aus der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit überliefert waren.

    Comte hatte den Anspruch, die Soziologie als eine positive Wissenschaft zu etablieren, die ein Teil der Beherrschung von Natur und Gesellschaft sein sollte. Auf ihn geht der Begriff zurück. Das Programm der positiven Wissenschaft besagt, dass sie sich von Religion und Philosophie befreien sollte. Paradigmatisch war für ihn die Erkenntnisgewinnung der Naturwissenschaften. Soziologie sollte als eine Gesetzeswissenschaft etabliert werden, die soziale Ereignisse erklärt und vorhersagt. Im Fortgang finden wir bis heute eine Kontroverse über die Unterschiede in den Arten der Erklärungen zwischen den Natur- und Sozialwissenschaften. In der gegenwärtigen Philosophie sind hier R. Chisholm, D. Davidson, M. Frank, D. Henrich, J. McDowell und G. H. von Wright zu nennen, die vereinfacht gesagt hervorheben, dass die Charakterisierung von Mentalem durch Selbstbewusstsein, Selbstwissen und propositionale Einstellungen, aber auch unsere begrifflichen Fähigkeiten, nicht in den Bereich naturwissenschaftlicher Begriffsbildung und des Gesetzeswissens fallen.⁴ Das grundlegend erörterte Problem dieser Kontroverse war und ist die Beschreibung der unterschiedlichen Verfassung der beiden Gegenstandsbereiche und die Frage danach, ob und wie sich z. B. die Handlungserklärung in das allgemein anerkannte wissenschaftliche Erklärungsschema einordnen lässt.

    Comte (1798–1842) Cours de philosophie positive (1830–1842) und H. Spencer (1820–1903) A System of Synthetic Philosophy (1862–1896) gaben den Anstoß für die Soziologie als ein wissenschaftliches Fach, aber als Gründungsväter werden rückblickend Durkheim und M. Weber angesprochen.⁵Die Soziologie beginnt in einer Zeit, in der dem privaten Unternehmertum eine Führungsrolle im Zuge bei der Durchsetzung der funktionalen Differenzierung des Wirtschaftssystems zukam. Dadurch wurden frühere Auffassungen von Individualismus erweitert und zu einer Selbstbeschreibung von Gesellschaft stilisiert. Die Selbstbeschreibung des Wirtschaftsliberalismus als Gesellschaftsmodell und Selbstverständnis einer neuen Epoche, machte aber durch das Organprinzip der unsichtbaren Hand (A. Smith) seine eigene Funktionsweise unsichtbar. Man könnte das so umschreiben: Es stellt Gesellschaft aus der Perspektive der Teilnehmer als nutzenorientierte Entscheider, dem homo oeconomicus, nicht der Mitgliedschaft in der sich seit dem 19. Jahrhundert durchsetzenden funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems dar.⁶ Es war vor allem Durkheims Verdienst, dass er zeigte, dass der moderne Individualismus durch eine soziale Struktur zu erklären und er selbst nicht etwas Ursprüngliches ist. Er spricht deshalb vom Kult des Individuum, dem sich die Gesellschaftsmitglieder nicht entziehen können: „Niemand bestreitet heute mehr den verpflichtenden Charakter der Regel, die uns befiehlt, eine Person und immer mehr eine Person zu sein."⁷ Nach A. Gehlen ist ein Individuum eine Institution in einem Fall. Was das Individuum ist, ist allerdings eine Rätsel geblieben.

    Die Soziologie hat sich unglücklicherweise auf die grundbegriffliche Unterscheidung zwischen Individuum und Gesellschaft für die Systematisierung ihres Gegenstandsbereichs festgelegt.⁸Der Begriff des Individuums als etwas Einzigartiges, das sich in seiner Einzigartigkeit selbst identifiziert, gehört zwar in die moderne Gesellschaft, die, sofern sie sich an ihm zu orientieren vorgibt, über sich selbst noch keine Klarheit gewonnen hat. Das hat auch zu der Merkwürdigkeit geführt, dass man unabhängig von dem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis die unendliche Erforschung des Selbst für möglich gehalten hat. Henrich hat darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns als selbstbewusste Entitäten nicht nur aus uns selbst und nicht nur aus unserem in der Welt sein verstehen können.⁹ Angesprochen ist damit das Problem der Selbstreferenz, der persönlichen und der sozialen Identität, die wir uns selbst und anderen als Mitglieder sozialer Systeme zuschreiben und dass unser persönliche Identität zwar von außen identifizierbar ist, z. B. durch Namen, Kennzeichnungen, Rollen und Statuspositionen, aber sie ist kein Selbstwissen, das sich in der Einstellung der dritten Person objektivieren lässt. Was die dahinterstehende Problemstellung betrifft, so gilt immer noch, auch bei der Berücksichtigung der Zeitspanne und der Gesellschaft, die uns von F. Hölderlin trennt, sein Satz: „Weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, dass mehr als Maschinengang, dass ein Geist, ein Gott ist in der Welt."

    Für die Entstehungszeit der Soziologie ist hervorzuheben, dass sich die funktionale Differenzierung im 19. Jahrhundert durchsetzte. Thematisiert wurden die Industrialisierung und Urbanisierung – auch mit ihren Folgeproblemen – in Europa und den Vereinigten Staaten. Insofern war ihr Erkenntnisinteresse auf das Neue in der Gesellschaft gerichtet. Das hat sich theoretisch dahin gehend bemerkbar gemacht, dass die technische und soziale Arbeitsteilung und die Reorganisation des Schichtungssubstrats zu einem soziologischen Forschungsprogramm der Gesellschaftstheorie erklärt wurde. Rückblickend ist dazu anzumerken, dass man sich damit zu früh auf bestimmte Gesichtspunkte von Modernisierung festlegte. Sie stellten sich im Fortgang für die theoretische Systematisierung des soziologischen Wissens und auch für Teile der sozialwissenschaftlichen Forschung als blockierend und unfruchtbar heraus. Im 19. Jahrhundert war keine Theorie der modernen Gesellschaft möglich, sondern wir erkennen rückblickend teilsystemspezifische Vereinseitigungen, sei es des Wirtschafts-, Rechts-, Wissenschaftssystems und der Gemeinschaftsorientierung. Rückblickend ist festzuhalten, dass die moderne Gesellschaft ihre Klassik nicht gefunden hat. Es liegt mittlerweile nahe, dass sie das auch nicht kann. Sie kann ihre Klassik auch deshalb nicht finden, da sich funktionale Differenzierung nicht durch eine Einheitsformel beschreiben lässt.¹⁰

    Die soziologische Theorie hat sich in der Klassifikation ihres Gegenstandsbereichs von ihren Anfangsgründen bei Comte, Spencer, Durkheim und Weber, aber auch von dem sozialpädagogisch orientierten amerikanischen Pragmatismus im letzten Jahrhundert weitgehend entfernt. Es betrifft dies die Antworten auf die Fragen wie:

    1.

    Welche Formen von sozialer Kohärenz, z. B. Gegenseitigkeiten und von Konflikten sind nachweisbar, erforderlich und nützlich?

    2.

    Welche Arten von sozialen Beziehungen – oder anders ausgedrückt –: Kommunikationen, Handlungen, Erwartungen und Erwartungserwartungen, Rollen, Organisationen, Ziele sowie welche Typen von Gesellschaften, Autorität, sozialen Systemen, Verwandtschaftsbeziehungen sind analytisch zu unterscheiden?

    3.

    Welche konstruktive und destruktive Rolle spielt die charismatische Dimension bei der sozialen Ordnungserhaltung und Ordnungstransformation?¹¹

    Angesprochen sind damit auch andere Antworten auf die Fragen:

    1.

    Wie ist Gesellschaft möglich?

    Wir sollten die Frage anders formulieren:

    2.

    Unter welchen Voraussetzungen reproduziert und prozessualisiert sich die gesellschaftliche Kommunikation in einer als überkomplex und kontingent erlebten Umwelt?

    3.

    Wie können soziale System als zeitdeterminierte Systeme fortbestehen, die sich fortlaufend in den Zustand der selbsterzeugten Unbestimmtheit versetzten?

    Die soziologische Theorie geht mittlerweile davon aus, dass ein grundsätzliches Erlebnis der Willkürlichkeit und der Ambivalenz der Gesellschaftsmitglieder gegenüber institutionalisierten Ordnungen und ihren Regelungen besteht. Eisenstadt hebt als Folgerung aus seinen vergleichenden Untersuchungen zur Zivilisationsforschung hervor, dass die angesprochene Ambivalenz mit der Institutionalisierung der charismatischen Dimension der menschlichen Existenz einhergeht. Der Fokus sind die Spannungen, die mit der Konstruktion des Vertrauens zwischen den Mitgliedern der unterschiedlichen sozialen Systeme einer Gesellschaft in der Folge der Verfügung über Ressourcen und die Funktion der institutionellen Unternehmer bei der Gestaltung der institutionellen Formationen einhergehen.¹²

    Die Soziologie und die soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft sollten von der Einsicht ausgehen,

    dass mit der De-Sozialisation der Umwelt das Auflösungsvermögen der Gesellschaft im Verhältnis zu ihrer Umwelt steigt und entsprechend auch die Probleme der Rekombination analytisch gewonnener Elemente mit systeminternen Mitteln zunehmen. Das würde bedeuten, dass die Komplexität sowohl der Umwelt als auch der Gesellschaft selbst auf der Ebene des jeweils Möglichen zunimmt und dass das Komplexitätsgefälle zwischen Umwelt und System entsprechend neu ausbalanciert werden muss. Ein weiteres Gedankenexperiment suggeriert ähnliche Sachverhalte – auf ganz anderer Basis. Wir formulieren dazu die These, dass der De-Sozialisation der gesellschaftlichen Umwelt eine De-Humanisierung des Gesellschaftssystems selbst entspricht. Und wir meinen damit, dass die Gesellschaft nicht human finalisiert, d. h. nicht mehr nach dem Bild des Menschen oder der Menschengruppen begriffen und eingerichtet werden kann. Wenn das Gesellschaftssystem sich selbst als ein Sondersystem für die Artikulation spezifisch sozialer Prozesse evolutionär ausdifferenziert, muss die steigende Komplexität und die Innendifferenzierung dieses Systems an eine Schwelle führen, an der erkennbar wird, dass die Sonderbedingungen sozialer Regulierung nicht identisch sein können mit der vollen Konkretheit menschlichen Lebens in organisch-psychisch-individualisierten Existenzen, und zwar weder faktisch noch kontrafaktisch. Bei zunehmender Komplexität verlieren die Wachstums- und die Integrationsmöglichkeiten der Systeme an Spielraum. Eine Gesellschaft, die man sich als Aggregat aus Individuen vorzustellen hat, kann dann ohne vergewaltigende Annahmen nicht mehr als integrierbar und als evolutionsfähig begriffen werden.¹³

    Mit der De-Humanisierung ist nichts anderes als das Zurücktreten der Gesellschaftsmitglieder hinter eine Vielzahl von Mitgliedschaftsbündel und Teilnehmerrollen angesprochen. Als Angebot an die Mitglieder der sozialen Systeme wird die Freistellung von Gewissen und persönlicher Identität bereitgestellt. Das erfordert die Umstellung von der kontrafaktischen zu der kognitiven Orientierung und somit die Bereitschaft, zu einem laufenden Lernen und Identitätswechsel, welcher der Vielheit der Mitgliedschaften entspricht. Gesellschaft als Unbestimmtheit ist nichts anderes als die fortlaufende Entscheidung über die Mitgliedschaft in und über die Teilnahmebedingungen an sozialen Systemen, ihre Kommunikation und ihre Beobachtung. Mitgliedschaft ist die Kontingenzformel der sozialen Systeme. Für die Selbstsubstitution der Mitgliedschaft gibt es, solange es Gesellschaft gibt, kein funktionales Äquivalent. Insofern ist sie eine selbstsubstitutive Ordnung. Insgesamt sollten wir davon ausgehen, dass wir nicht nur der alteuropäischen Tradition nicht mehr unreflektiert folgen sollten, sondern wir sollten sie hinter uns lassen. Erst dann lässt sich ein Verständnis der Gegenwartsgesellschaft und rückblickend der modernen Gesellschaft ausbilden.

    Der Fortbestand in der Zeit, somit die Dauer, ist das grundlegende Überlebensproblem der sozialen Systeme. Dauer in der Zeit ist selbst als zeitlicher Vorgang zu verarbeiten. Die Selbstkonstitution sozialer Systeme als zeitlich bestimmte Systeme vollzieht sich somit selbst in der Zeit. Fortführung, Anfang und Ende und die Sequenzialisierung der Kommunikationen und Mitgliedschaften in der Zeitdimension sind selbstreferenzielle Operationen und Negationen in der Zeit und sind als zeitliche Ereignisse zu beobachten. Der Ablauf von früheren zu späteren zeitlichen Ereignissen sollte dabei nicht als Fluss (Husserl) fassen, sondern als (paradoxe) Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft, die im Horizont der Gegenwart gegeben ist. Luhmann macht darauf aufmerksam, dass „Die Gegenwart die Einheit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft (ist). Sie katapultiert sich als Zeit des Beobachters der Zeit selbst aus der Zeit hinaus. Sie ist die Zeit, in der man keine Zeit hat, weil alles, was man als Zeit erfassen kann, schon vergangen oder noch zukünftig ist. Diese zeitlose „Gesamtzeitlichkeit der Gegenwart tritt im modernen Denken an die Stelle der Ewigkeit. Und sie wird entparadoxiert, indem man zwischen der gegenwärtigen Vergangenheit bzw. Zukunft und den vergangenen bzw. künftigen Gegenwarten unterscheidet, die Zeitbegrifflichkeit also doppelt modalisiert.¹⁴ Das erfordert das nicht perfektionierbare Management des Anschlussproblems jeder Kommunikation. Es reproduziert die doppelte Modalisierung der Zeit, die nicht zu negieren ist. Sie dominiert die gesellschaftliche Kommunikation. Bei der Dauer sozialer Systeme in der Zeit geht es nicht ohne Weiteres um das Problem der Bestandserhaltung. Sie ist sicher oft nicht gegeben. Es geht dabei um die Reproduktion der Anschlussrationalität von Kommunikationen und Mitgliedschaften in der doppelten Modalisierung der Zeit.

    Das fachspezifisch überlieferte Interesse der Soziologie war vor allem das Ausmaß der Kohärenz und Inkohärenz des sozialen Bezugsrahmen, seine sozial-strukturelle Semantik und das, was aus Inkohärenz für die davon Betroffenen folgt. Das betraf die auf Durkheim zurückgehenden Anomietheorien z. B. bei R. M. Merton und Parsons und die sich daran anschließende Forschung über abweichendes Verhalten. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die beiden prominenten Richtungen der soziologischen Forschung und Analyse: diejenige, welche für die sozialwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung von der Einnahme der Teilnehmerrolle an sozialen Systemen und diejenige, welche von dem Beobachter und Interpreten ausgeht. Daran ist so viel zutreffend, dass die soziologische Beobachtung, Beschreibung und Erklärung von einem bestimmten Bezugsrahmen ausgeht. Damit stellt sich sowohl für den teilnehmenden Beobachter als auch für den Außenstandpunkt der Beobachtung die Frage, die sich jeder Soziologe zu stellen hat, „Was ist der Bezugsrahmen?. Damit geht aber zugleich die Frage einher: „Wer ist der Beobachter?. Das betrifft den Gegenstandsbereich der soziologischer Untersuchungen, d. h. technisch gesprochen des vorausgesetzten Universums bzw. die Systemreferenz über das wir unsere Sprache interpretieren und das wir beobachten.

    Es ist im Hinblick auf die sozialen Ereignisse hervorzuheben, dass sie nicht nur den Gesichtspunkt des Personalen, Emotiven und Kommunikativen aufweisen, sondern der soziale Rahmen, in dem wir uns als Mitglieder sozialer Systeme verhalten, ist selbst durch Organisationen, ihren Verfahren und Normierungen strukturiert. Dieser Rahmen ist zwar etwas, der sich verändert, er steht aber einzelnen Personen nicht frei zur Disposition. Er tritt uns als ein Ereignis in der Kommunikation von Erwartungen und Regelungen als etwas Objektives gegenüber. Ein anderer Gesichtspunkt von sozialen Ereignissen besteht darin, darüber dürfte es unter Soziologen keine allzu große Differenzen geben, dass unabhängig davon, mit welchen Absichten einzelne Personen oder Gruppen ihre Ziele verfolgen und fortfahren sie zu verfolgen, die eintretenden Ereignisse ein Muster von Regularitäten aufweisen, das von ihnen selbst nicht beabsichtigt ist. Die Kriege, die Geburtsraten, die Stadtentwicklung, die Rollenkonflikte mit Vorgesetzten, die Anzahl von Suiziden und Scheidungen, die Klassenstrukturen einer Gemeinschaft sind z. B. nicht von einer einzigen Person allein und von ihr absichtlich hervorgebracht. Ein anderer nicht weiter strittiger Gesichtspunkt der sozialen Ereignisse besteht darin, dass Gesellschaft die Ideen/Beschreibungen ihrer Mitglieder über sie selbst einschließt. Wir können dies auch so formulieren: Die gesellschaftliche Kommunikation schließt immer ihre Selbstbeschreibung und eine sozio-strukturelle Semantik ein. Diese Ideen mögen unvollständig, falsch oder ganz abwegig sein. Bei der Mehrheit liegt vermutlich eine Mischung von Unkenntnis und Verdrehung vor. Sie sind aber zugleich ein Bestandteil des Sozialen und dienen der Orientierung innerhalb sozialer Systeme.

    Die Analyse von komplexen sozialen Strukturen bedarf der Vereinfachung. Für den Objektbereich soziologischer Forschung bedeutet dies immer eine Differenzierung nach bestimmten Dimensionen. Die mitgliedschaftstheoretische Version der Theorie sozialer Systeme löst dieses Problem durch eine Reinterpretation der System-Umwelt-Relation sozialer Systeme. Sie besagt, dass sich soziale Systeme durch ihre Mitgliedschaftsbedingung und die Entscheidung über Mitgliedschaft als eine Selbstselektion (Autokatalyse) von ihrer Umwelt unterscheiden. Damit gibt sie die Richtung der Spezifikation des Objektbereichs an, welche zu der Komplexität der sozialen Wirklichkeit passt. Sie erfordert die Berücksichtigung besonderer Annahmen über die Grenzziehung und die Strukturen des Aufbaus sozialer Systeme. Sie wird durch 1. eine Evolution der Typendifferenz sozialer Systeme und 2. die systemspezifische Umweltperspektive relativiert. Daran schließt sich die Unterscheidung von Typen sozialer Systeme auf der Problemstufenordnung Gesellschaft, Organisation und einfache Interaktion unter Anwesenden an. Diese Zugangsweise in der soziologischen Theorie hat eine Nähe zu Merton, da die empirische Analyse der Grenzziehungen und der Strukturen sozialer Systeme nicht eine Verifizierung der Theorie der Soziologie der Mitgliedschaft ist, sondern die empirische Forschung „initiiert, „formuliert neu, „setzt neue Schwerpunkte und „klärt die theoretischen Unterscheidungen¹⁵. Durch die Gewichtung der Mitgliedschaftssoziologie aus der Perspektive der Problemstufenordnung können die Veränderungen der formalen Mitgliedschaften in Organisationen, der Erwartungen in den Kommunikationssystemen und die strukturellen Probleme der Inklusionsansprüche in die Funktionssysteme untersucht werden.

    Die Analyse der sozialen Rolle, des Status, der Erwartungen und der soziale Gruppe nehme ich im Rahmen der mitgliedschaftlichen Version der Systemtheorie vor. Die Reinterpretation dieses soziologischen Wissens ist naheliegend, da z. B. Merton die Analyse dieser Grundbegriffe gesellschaftstheoretisch vornimmt. Er charakterisiert dadurch die Sozialstruktur. Damit wird ein besonderer Anschnitt an die Analyse dieser soziologischen Grundbegriffe gelegt. Die Gesellschaftstheorie analysiert Gesellschaft, Organisation und Interaktionunter Anwesenden als Typen sozialer Systeme auf einer Problemstufenordnung der funktionalen Analyse.¹⁶ Von Interesse dabei ist es, die Theorie sozialer Systeme durch eine Reinterpretation der Rollentheorie zu erweitern und die soziale Gruppe in die Problemstufenordnung einzuordnen. Dadurch wird den traditionellen soziologischen Grundbegriffen der Rolle, des Status, der Erwartungen und der sozialen Gruppe ein neuer Zuschnitt gegeben, der sich von den unterschiedliche theoretischen Annahmen der Rollentheorie, wie z. B. des Strukturfunktionalismus und des symbolischen Interaktionismus zwischen den 1950er und 1970er Jahre entfernt. Die Reinterpretation geht dahin, dass der Rollenbegriff nicht auf Menschen als Umwelt sozialer Systeme instanziiert wird, sondern auf die Mitgliedschaftsselektionen sozialer Systeme und der Differenzierung von Gesellschaft, Organisation und Interaktion. Hervorzuheben ist dabei, dass dieser Anschnitt nicht mehr das Problem der sozialen Integration bei der Verortung des Rollensets in der gesellschaftlichen Kommunikation verfolgt.¹⁷ Dabei ist von der Unterscheidung von Person und Rolle auszugehen. Diese Unterscheidung wird es im Hinblick auf das Einzelbewusstsein und die Beobachtung von Kommunikation immer schon gegeben haben, da das Bewusstsein kommunikativ nicht erreichbar ist. Sie wird aber erst durch die besonderen Zuschreibungsprobleme unter der Voraussetzung von funktionaler Differenzierung derart relevant, dass sich die gesellschaftliche Kommunikation auf die Beobachtung dieser Unterscheidung einstellt. Die Rede von „Funktion" darf in diesem Text nicht mit den Funktionsbegriffen der Sozialanthropologie und des systemtheoretischen Funktionalismus in der Tradition Parsons verwechselt werden, da der Problembezug ( = Funktion) in dem Umweltbezug im Hinblick auf die Suche nach funktionalen Äquivalenten gefasst ist.¹⁸ Die Funktion als Problembezug ist somit, im Anschluss an H. M. Maturana, auf die Systemoperation zu beziehen. Mitgliedschaftstheoretisch heißt das, die Funktion ist auf die Entscheidung über Mitgliedschaft als Operation bezogen.

    Die soziologische Theorie geht davon aus, dass die Spezifikation ihres Objektbereichs einschränkende Bedingungen der Relevanz zu berücksichtigen hat. Insofern können die Ergebnisse dieser Forschungen nur begrenzt verallgemeinert werden. Sie gelten nicht für alle sozialen Systeme. Die soziologische Theorie gehört zur modernen Wissenschaft als ein Teilsystem des Gesellschaftssystems. Die Teilnehmer an diesem Kommunikationssystem mit seinen besonderen Mitgliedschaftsbedingungen schreiben sich unterschiedliche Motive zu. Ihre Kommunikation beruht darauf, dass sie von einem gesteigerten Auflösungsvermögen ihrer Gegenstände ausgehen. Daraus folgt für die Forschungsansätze, dass sie in der sachlichen Dimension nicht mehr

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1