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Das ganze Leben leben: Holt Euch das Alter wieder zurück!
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eBook628 Seiten6 Stunden

Das ganze Leben leben: Holt Euch das Alter wieder zurück!

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Über dieses E-Book

Wir wollen möglichst alt werden, verdrängen aber das Alter gleichzeitig aus unserem öffentlichen und persönlichen Bewusstsein.  Und genau mit dieser Vision einer Reintegration des Alters in der Mitte unserer Gesellschaft beschäftigt sich dieses Buch. Die Autoren, die sich seit vielen Jahren in ihrer beruflichen Praxis in der Medizin, Krankenpflege, Wissenschaft, Politik, Philosophie oder Management mit dem Thema des Alterns beschäftigen, nähern sich aus ihrer jeweils eigenen Perspektive dem Thema Altern in Würde. Dabei werden die Ursachen der aktuellen Entwicklungen, die alte Menschen so oft an den Rand der Gesellschaft treiben, analysiert und notwendige Veränderungen und Lösungsmodelle vorgestellt. Das Buch weckt Hoffnung auf Selbstbestimmung und zeigt Wege auf, wie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gelingen kann. Angesprochen werden alle Menschen, die an gesundem und aktivem Altern interessiert sind und die wissen wollen, was wir heute tun müssen, damit Alter nicht länger mit Einsamkeit, Isolation und Leben im Pflegeheim gleichgesetzt wird. 
SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum5. Aug. 2021
ISBN9783662624869
Das ganze Leben leben: Holt Euch das Alter wieder zurück!

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    Buchvorschau

    Das ganze Leben leben - Walter Schippinger

    © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021

    W. Schippinger et al. (Hrsg.)Das ganze Leben lebenhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-62486-9_1

    1. Das ganze Leben leben

    Egon Kapellari¹  

    (1)

    Diözese Graz-Seckau, Graz, Österreich

    Egon Kapellari

    Email: bischof.kapellari@graz-seckau.at

    Grundsätzliches

    Gerne habe ich die Einladung von Primarius Privatdozent Dr. Walter Schippinger, dem Ärztlichen Leiter der Albert Schweitzer Klinik in Graz, angenommen, für dieses von ihm herausgegebene Buch „Das ganze Leben leben. Holt Euch das Alter zurück!" einen Beitrag aus christlicher Sicht zu verfassen. Die Albert Schweitzer Klinik ist mir ja seit vielen Jahren besonders gut bekannt. Ich konnte ihr kompetentes Wirken in den Jahren von 2001 bis heute immer wieder auch durch Besuche in mehreren ihrer Einrichtungen unmittelbar kennenlernen und bringe daher schon einleitend zu den hier präsentierten Überlegungen meinen Respekt und meinen Dank für alles Gute zum Ausdruck, das hier beispielhaft getan wird.

    Dieses Buch behandelt das Thema „Alter unter verschiedensten wissenschaftlichen und kulturellen Aspekten und spannt so ein sehr breites Spektrum aus. Der Herausgeber hatte für mich die Befassung mit Aspekten der christlichen Religion unter dem Titel „Das vierte Gebot vorgesehen. Ich hatte dem zugestimmt. Dann aber ist mir immer deutlicher geworden, dass ich dieses Thema nur mit einem Blick auf das menschliche Leben im Ganzen behandeln sollte, also das Leben in Kindheit, Jugend, in der sogenannten Lebensmitte, am Nachmittag, am Abend des Lebens und auch im Sterben und im Tod. Zu den Einrichtungen der Geriatrischen Gesundheitszentren der Stadt Graz gehört ja auch das Albert Schweitzer Hospiz. Dessen Zielsetzungen sind offiziell mit folgenden Worten umschrieben: „Schwerkranke und sterbende Menschen finden im Albert Schweitzer Hospiz einen Ort der Ruhe und Geborgenheit. Unser wichtigstes Anliegen ist es, dass der Mensch in seiner letzten Lebensphase sein Leben selbstbestimmt und in Würde gestalten kann. Ein bewusster Umgang mit Leben, Sterben, Tod und Trauer ist uns wichtig. Wir bemühen uns, den Menschen mit seiner Krankheit, seinen Gefühlen und Bedürfnissen wahrzunehmen und ihn in diesem Lebensabschnitt bestmöglich zu begleiten. Ein liebevoller Umgang mit den HospizbewohnerInnen, Angehörigen, FreundInnen und ehrenamtlich Tätigen ist dafür Grundlage."

    Dies vorausgesetzt, spreche ich in diesem Buch weitgehend autobiografisch als ein nun auch schon alt gewordener Mensch, Christ, katholischer Priester und Bischof, der seit den 18 Jahren seiner Tätigkeit als Hochschulseelsorger für die Grazer Universitäten von 1964–1981 und dann in 33 Jahren als Diözesanbischof – davon fast 20 Jahre für Kärnten und 14 Jahre für die Steiermark – immer auch mit zusätzlichen weltkirchlichen Aufgaben zwischen Wien, Rom und Brüssel mit dem Ganzen des Themas „Leben befasst worden ist – so als sogenannter „Jugendbischof für Österreich, als „Europabischof, „Medienbischof und Bischof für Liturgie und Kultur. Meine Befassung mit dem Thema „Leben" war daher schon früh generalistisch angelegt und daher eine Herausforderung zum Versuch, jeweils auf das Ganze eines Themas zu blicken.

    Dabei war selbstverständlich immer klar, dass niemand das Ganze einer vielschichtigen Wirklichkeit erfassen kann. Ein geflügeltes Wort des Philosophen Friedrich Hegel, es lautet „Das Wahre ist das Ganze", steht wie auch Hegel selbst unter diesem Vorbehalt. Der Versuch, für das Ganze im Leben, in Religion, Philosophie, Wissenschaft und Politik offen zu sein, ist aber für das gesamte Gedeihen einer Zivilgesellschaft und der Menschheit überhaupt hilfreich, ja unverzichtbar. Das generelle Verdrängen eines solchen Versuchs zeigt seine Schädlichkeit gerade auch in der Gegenwart bei so großen Themen wie Pandemie, Klima und Weltwirtschaft.

    Jedes Lebensalter ist unmittelbar zu Gott

    Der evangelische Christ Leopold von Ranke, einer der bedeutendsten Historiker des 19. Jahrhunderts, ist mir seit meiner Studienzeit vor vielen Jahrzehnten bekannt. Von ihm stammt das geflügelte Wort „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott. Man kann es als an Gott glaubender Mensch auch abwandeln und auf die verschiedenen menschlichen Lebensalter beziehen, indem man sagt: „Jedes Lebensalter ist unmittelbar zu Gott.

    Bei der Ersten Europa-Bischofssynode, die im Dezember 1991 im Vatikan versammelt war, habe ich als Delegierter Österreichs und damals auch als sogenannter „Jugendbischof zu den versammelten Bischöfen aus ganz Europa in Gegenwart des Papstes Johannes Paul II. an das Wort Rankes erinnert und hinzugefügt: „Man kann, ja man soll dieses Wort auch abwandeln und sagen: ‚Jedes menschliche Lebensalter ist unmittelbar zu Gott‘. Darum darf die Kirche keinen Kult mit jungen Menschen treiben und darf sich ihnen nicht anbiedern, wie manche Modeschöpfer und Politiker es tun. Christen glauben aber, dass Gott uns in seinem Sohn Jesus Christus ein jugendliches Antlitz gezeigt hat. Unter allen Leit- und Gründergestalten der Weltreligionen gibt es ja nur einen, der jung gestorben ist, nämlich Jesus Christus. Junge Menschen sind einerseits eine große Verheißung für die ganze Menschheit und für die ganze Christenheit inmitten der Menschheit. Sie sind andererseits auch besonders verletzbar und gefährdet. Für die Christenheit sind sie darüber hinaus auch eine Ikone Jesu Christi, eine Ikone Jesu von Nazareth, dessen irdisches Leben mit 33 Jahren auf gewaltsame Weise zu Ende gegangen ist, dessen gekreuzigte und anscheinend gescheiterte Liebe sich aber am dritten Tag, im Osterereignis, als siegreich erwiesen hat.

    „Europa ist heute, so sagte ich damals, also 1991, vor den Synodenvätern und dem Papst, „nicht sehr reich an solchen Verheißungen für die hiesige Gesellschaft und für die Kirche in deren Mitte. Es ist auch insofern eine ‚alte Welt‘, weil hier der Anteil der Jugendlichen und der Kinder an der Gesamtbevölkerung weitaus geringer ist als in anderen Kontinenten. Es scheint so, als wären hier nur islamische Familien besonders kinderreich. Soviel aus meiner Wortmeldung im Vatikan im Dezember 1991.

    Menschen als Geburtshelfer zu einem Leben in Fülle

    „Ich will leben, das war der Titel eines Films, der vor Jahrzehnten im österreichischen Fernsehen gezeigt wurde. Der Film schilderte das Leben eines Ehepaares, dessen einziges Kind mit einer schweren Behinderung geboren worden war. Die Eltern hatten von dieser Behinderung vorher keine Kenntnis und taten sich offenbar schwer damit, dieses Kind wirklich anzunehmen. Es war aber ein nicht passives und auch schönes Kind und es war im Ganzen so etwas wie ein Appell an die Eltern, die Botschaft „Ich will leben ohne ausdrückliche Worte, aber eindringlicher als viele Worte. Der Film zeigte, dass diese Eltern und ihr Kind miteinander immer glücklicher wurden.

    Viele Menschen haben es mit ihren von Geburt an behinderten Kindern oder mit ihren im Alter behindert gewordenen Angehörigen noch viel schwerer als die junge Familie im genannten Film. Aber es gibt auch heute nicht wenige Menschen in unserer Gesellschaft, die sich ihrer behinderten Kinder, Enkelkinder oder Eltern und Großeltern großherzig und manchmal sogar heroisch annehmen, und ein Staat wie Österreich und nicht wenige ähnliche Staaten in Europa bilden ein soziales Netz, das trotz aller Mängel, an deren Behebung man immer wieder arbeiten muss, sehr viele Menschen aller Lebensalter auch jetzt schon trägt und vor radikaler Entfremdung schützt.

    Eine Zivilgesellschaft wie die unsere ist pluraler als jemals vorher in der Geschichte Europas. Die christlichen Kirchen und Gemeinschaften tragen und beseelen aber auch hier trotz aller eigenen Umbrüche und Abbrüche das Ganze entscheidend mit, gleichviel ob bedankt oder nicht. Sie suchen und finden dabei immer wieder Allianzen mit Menschen und Gemeinschaften außerhalb der eigenen Gemeinschaft. Dies gilt auch für Österreich und für die Steiermark, betreffend die helfende Zuwendung zu Menschen mit hohem Lebensalter, aber auch aller anderen Lebensalter. Unübersehbar sind in diesem Panorama z. B. das Wirken und die Institutionen der Caritas, der evangelischen Diakonie, der katholischen Ordensgemeinschaften und besonders auch des Österreichischen Roten Kreuzes.

    Das Miteinander statt einem bloßen Nebeneinander oder gar Gegeneinander kann gerade in Zeiten der Krise stärker werden und solches geschah und geschieht auch im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie. Hier ist viel Solidarität gewachsen, aber es gibt daneben, wie schon von jeher, auch viel Gleichgültigkeit und überzogene Ansprüche einzelner Menschen und ihrer Gruppen auf Kosten des ganzen sozialen Gefüges.

    Gedanken des alten Papstes Franziskus über das Alter

    „Es ist ruhig das Alter und fromm. Dieses Wort ist genommen aus einem wenig bekannten Gedicht von Friedrich Hölderlin, das er als noch junger Mann seiner Großmutter zu deren 72. Geburtstag gewidmet hat. Papst Franziskus hat dieses Wort am Beginn seines Pontifikats mehrmals und sogar in deutscher Sprache zitiert. Er wusste selbstverständlich, dass Hölderlin nach einem Zusammenbruch in der Mitte seines Lebens kein ruhiges Alter beschieden war und dass heute weltweit vielen alten Menschen ein ruhiges Alter und auch unzähligen Kindern und Jugendlichen eine glückliche Kindheit und Jugend versagt sind. Dennoch ist ein „Alter ruhig und fromm in Ländern wie dem unseren für viele betagte Mitmenschen und Mitchristen nicht nur ein unerreichbares Ideal, sondern eine gelebte Wirklichkeit, aus der man freilich auch rasch vertrieben werden kann.

    Unsere Lebensalter werden oft mit den Jahreszeiten verglichen. Dem Nachmittag des Lebens wird dann der Herbst zugeordnet. Eines der schönsten Herbstgedichte der deutschen Literatur verdanken wir Georg Trakl, der ohne Lebensherbst, weil erst 27 Jahre alt, 1914 in einem Krakauer Kriegsspital infolge eines Drogenexzesses verzweifelt gestorben ist. Über seinen von Schönheit wie von Grauen sprechenden Texten erheben sich aber unzerstörbar schöne Verse wie dieser:

    Gewaltig endet so das Jahr

    Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.

    Rund schweigen Wälder wunderbar

    Und sind des Einsamen Gefährten.

    All das weiß auch Papst Franziskus und ermutigt Menschen, denen ein harmonisches Alter geschenkt ist, mit diesem Geschenk teilend und mitteilend umzugehen und so etwas von der eigenen Harmonie in das Leben von ihnen erreichbarer Mitmenschen zu bringen. Zu dieser Art von Christen gehöre nun auch ich im Alter von mehr als 85 Jahren, davon schon 40 Jahre als Bischof. Ich übe mich täglich ein in das dankbare Loslassen von allem Erreichten in Erwartung der letzten Begegnung mit Gott. Der Papst redet darüber wie ein schlichter Pfarrer und für dieses Charisma auf dem Stuhl Petri sollten ihm auch seine oft kleinherzigen Kritiker von Herzen dankbar sein und ihn nach Kräften nachahmen.

    Gedanken des damals erst 64-jährigen Papstes Johannes Paul II. über den jungen Christus und über junge Christen

    Gott ist ein Gott für alle Menschen, also für Menschen aller Lebensalter – für die alten wie für die jungen – und die Kirche ist daher eine Gemeinschaft für alle, die auf Christus getauft sind. Aber der Gott und Vater Jesu Christi hat der Welt in seinem Sohn für immer ein jugendliches Antlitz gezeigt. Jesus ist jung gestorben. Er ist nicht alt geworden wie Buddha, Konfuzius oder Mohammed. Dieser junge Gottessohn und Menschensohn hat den Menschen gesagt, er sei gekommen, damit sie das Leben haben, das Leben in Fülle.

    Die Heilige Schrift erzählt, dass viele Menschen mit einem schwachen Leben sich zu Jesus gedrängt haben: Das waren Kranke, Stumme, Taube, halb Gelähmte, Aussätzige, das waren aber auch Sünder, die zugegeben haben, dass sie Sünder waren und die Sehnsucht gehabt haben nach einem neuen Leben. Und Jesus hat viele von ihnen geheilt. Er hat nicht alle geheilt, weil diese Welt kein Paradies, kein Himmel werden kann. Aber er hat ein Stück Paradies, ein Stück Himmel auf die Erde gebracht.

    Die Mehrheit der jungen Menschen im deutschen Sprachraum hat viel Leben in sich, einfach weil diese jungen Leute jung sind, weil sie lachen, spielen und etwas entdecken wollen. Das können sie oft besser als die Älteren und Alten. Es gibt aber noch eine höhere Art von Leben. Das kommt nicht einfach aus der Natur, sondern von Gott.

    Am Palmsamstag 1984 habe ich in Rom am ersten der Weltjugendtage mit dem damaligen Papst Johannes Paul II. teilgenommen. Damals war ich Bischof von Kärnten und zugleich österreichischer Jugendbischof. Ungefähr 150.000 junge Leute waren vor der Peterskirche versammelt und füllten den großen Platz und die Straße bis hinunter zum Fluss Tiber. In der Mitte dieser vielen jungen Leute saß der Papst mit den Bischöfen und neben ihm saß eine alte Frau, eine Ordensschwester. Sie war schon über 70 Jahre alt, hatte ein runzeliges Gesicht und war schon ein wenig gebeugt von der Last eines Lebens, das ganz für Gott und für andere Menschen da war. Diese Frau war die damals schon in der ganzen Welt bekannte Mutter Teresa. Jahre vorher hatte sie den Friedensnobelpreis erhalten, weil sie ein großes Werk zur Hilfe für verhungernde Kinder und auf der Straße zum Sterben ausgesetzte alte Menschen gegründet hatte. Der Papst zeigte am Schluss seiner Ansprache an die vielen jungen Leute auf diese alte Mutter Teresa hin und sagte zu ihnen: „Schaut sie an, sie ist jünger als wir alle." Das war kein Scherz, sondern eine tiefe Wahrheit. Die alte Frau war nämlich geistig, geistlich jung geblieben durch ihr Leben mit Gott, mit Christus, weil Gott und sein Heiliger Geist ihr die Kraft gegeben hatten, ganz für arme Menschen da zu sein.

    „Nichts ist mehr selbstverständlich"

    Jeanne Hersch, eine Schülerin von Karl Jaspers, Professorin der Philosophie in Genf und durch Jahre auch Generaldirektorin der UNESCO, hat mir vor Jahren bei einem Symposium in Frankreich gesagt: „Sie haben es heutzutage als Bischof sehr schwer, weil nichts mehr selbstverständlich ist." Dieses Wort hat seither, so glaube ich, nichts an Aktualität verloren, und zwar nicht nur für die katholische Kirche, sondern für die ganze Gesellschaft. Unsere ganze Gesellschaft ist ein Ensemble vieler Bauplätze und sie ist von einer Stabilitätskrise erfasst, die vordergründig vor allem wirtschaftliche Ursachen und Auswirkungen hat, aber auch weit in metaökonomische Dimensionen hineinreicht. Im globalen Horizont ist diese Krise der westlichen Welt umgriffen vom Problem des Klimawandels und des Hungers, der eine Milliarde von Menschen bedroht. Hilfreich in der jetzigen Situation erscheint mir das Fehlen apokalyptischer Schauer. Nachdem sich Utopien verbraucht haben, dominiert ein unpathetischer Pragmatismus. Dieser Pragmatismus ist aber in großer Gefahr, ethische Ressourcen zu verlieren, wenn er keine Allianzen mit sinnstiftenden Kräften aus Kultur, zumal auch Kunst und besonders Religionen zuwege bringt. Er kann aber jenseits fiebriger Utopien zu einem idealistischen Realismus gedeihen, der heute angesichts vieler alter und neuer offener Fragen besonders notwendig erscheint.

    Die Diagnose von Jeanne Hersch „Sie haben es schwer, weil nichts mehr selbstverständlich ist", gilt heute längst nicht mehr nur für die Kirche und für ihre Bischöfe, sondern ebenso für Politik generell, für das Gesundheitswesen, für das Bildungswesen auf allen Ebenen, sie gilt mit besonderem Gewicht für den sogenannten Generationenvertrag mit einer Jugend, die für sich viel weniger Zukunftschancen wahrnimmt als die Generation ihrer Väter und Mütter.

    In dieser epochalen Situation begegnet die katholische Kirche in Westeuropa und zumal in deutschsprachigen Ländern einer Zivilgesellschaft, die auch in ihrem Bezug zu Kirche und zu Religion überhaupt sehr plural ist. Neben einer weit verbreiteten religiösen Gleichgültigkeit besteht eine religionsfreundliche Bereitschaft, sich mit religiösen Themen zu befassen und die Dienste der Kirchen zu respektieren, ja in Anspruch zu nehmen. Es gibt aber weltweit viel berechtigte Kritik an der katholischen Kirche wegen schwerer Verfehlungen kirchlicher Verantwortlicher gegen ihnen anvertraute Menschen, zumal junge Menschen. Sie betrifft auch andere Institutionen, aber die Kirche darf deshalb die eigene Schuld nicht verdrängen, sondern muss sich daran ehrlich abarbeiten und hat noch nicht in allen davon betroffenen Ländern intensiv damit begonnen.

    Die gesamte ökumenische Christenheit inmitten der gesamten Menschheit ist aber auch heute und gerade heute eine ungemein große spirituelle und ethische Kraft für das Gute. Das wird auch von vielen hochkompetenten Deutern der Gesamtsituation erkannt und anerkannt. Auf dem Weg in eine hoffentlich nicht apokalyptische Zukunft sollten alle humanistisch gesinnten Menschen und Gemeinschaften ihre Kräfte von Denken, Fühlen und Wollen miteinander verbinden. Das bedeutet für die katholische und ökumenische Christenheit nicht einen Verzicht auf unverzichtbare Identität. Das öffnet nicht Tore und Wege zu Beliebigkeit, sondern ist ein Ausdruck von realistischer Zuversicht, Ausdruck eines realistischen Idealismus.

    Ein Wort zum Schluss

    Ich habe den vor mir erbetenen Beitrag für das Buch „Das ganze Leben leben. Holt Euch das Alter zurück!" weitgehend anders gestaltet, als dies von mir ursprünglich gedacht war. Es ist ein sehr autobiografischer Text geworden, teilweise auch so etwas wie eine Predigt. Lesern, die dies nicht erwartet haben oder sogar ablehnen, sage ich respektvoll: Dieser Text ist ein Glaubenszeugnis eines betagten Menschen, Christen und Bischofs, der davon überzeugt ist, dass die Christenheit sich inmitten der Menschheit gerade heute nicht verstecken muss und nicht verstecken darf, sondern im Gegenteil für das Ganze besonders wichtig ist.

    © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021

    W. Schippinger et al. (Hrsg.)Das ganze Leben lebenhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-62486-9_2

    2. Gesundheit und Krankheit im Alter und welche Medizin wir im Alter brauchen

    Walter Martin Schippinger¹  

    (1)

    Albert Schweitzer Klinik, Geriatrische Gesundheitszentren der Stadt Graz, Graz, Österreich

    Walter Martin Schippinger

    Email: walter.schippinger@stadt.graz.at

    Die Lebenserwartung der Menschen steigt

    Die Lebenserwartung der Menschen steigt in allen Regionen der Welt an. Die Lebenserwartungskurven von Menschen der verschiedenen Weltregionen nähern sich einander zudem seit den letzten 30 Jahren kontinuierlich an. So betrug etwa im Jahr 1950 die Lebenserwartung der Menschen in gut entwickelten Regionen der Welt 65 Jahre, während sie in wenig entwickelten Regionen nur 42 Jahre betrug. Eine Statistik der Vereinten Nationen zeigt für das Jahr 2019 eine Lebenserwartung in Europa und Nordamerika von 81,7 Jahren für Frauen und 75,7 Jahren für Männer. In den am wenigsten entwickelten Ländern der Erde leben Frauen im Durchschnitt 67 Jahre und Männer 63,6 Jahre. Weltweit leben Frauen im Schnitt um rund 5 Jahre länger als Männer (United Nations 2019).

    In Österreich stieg seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen der Lebenserwartung im Jahr 1868 die Lebenserwartung von durchschnittlich 35 Jahre auf heute über 80 Jahre an. Die Ursachen dieser steigenden Lebenserwartung sind vielfältig:

    Im 19. Jahrhundert, aber auch noch bis in die ersten zwei Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg, war ein starker Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit bestimmend für den Anstieg der Lebenserwartung. Dieser Rückgang der Sterblichkeit im Säuglings- und Kindesalter war bedingt durch verbesserte wirtschaftliche und soziale Umfeldbedingungen sowie zunehmend bessere Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten infektiöser Erkrankungen.

    In den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts zeigte sich dann ein neues Phänomen: Erstmalig begannen nicht nur im Kindesalter, sondern auch in höheren Alterskategorien die Sterblichkeitsraten deutlich zu sinken. Während die Säuglingssterblichkeit in den westlichen Industrieländern und damit auch in Österreich heute bereits sehr niedrig ist, sind die statistischen Lebenszeitgewinne seit rund 40 Jahren vor allem auf eine Abnahme der Sterblichkeit von Menschen im Pensionsalter bedingt (Pinter et al. 2013).

    Dies ist vor allem auf die großen Fortschritte in den medizinischen Behandlungsmöglichkeiten zurückzuführen. Die Abnahme der Sterblichkeit im höheren Alter ist nämlich vor allem auf die besseren Behandlungsmöglichkeiten von epidemiologisch häufigen Krankheiten zurückzuführen, die früher meist rasch zum Tode führten, heute jedoch langfristig gut behandelt und kontrolliert werden können und somit von akut lebensbedrohlichen zu chronischen Erkrankungen wurden. Ein Beispiel für solche, heute auch langfristig gut kontrollierbaren, chronischen Erkrankungen sind Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße sowie Krebserkrankungen.

    Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, nicht nur an einer, sondern an mehreren chronischen Krankheiten zu erkranken.

    Dies nennt man Multimorbidität – das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer chronischer Erkrankungen – und ist im höheren Alter leider keineswegs eine Ausnahme, sondern vielmehr etwas Typisches.

    Die Zunahme des Anteils betagter und chronisch kranker Menschen in der Bevölkerung und die Chronifizierung der Verläufe häufiger „Volkskrankheiten" bewirken ein stärker werdendes Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Anpassung der Gesundheitsversorgung an die geänderten Versorgungsbedürfnisse einer alternden Bevölkerung. Wir brauchen also eine neue Schwerpunktsetzung in der Medizin und in unseren öffentlichen Gesundheitssystemen, welche die Bedürfnisse alter Menschen berücksichtigt und ein aktives und möglichst gesundes Leben im Alter unterstützt und fördert.

    Welche gesundheitlichen Beschwerden sind im Alter besonders häufig?

    Um die besonderen medizinischen Behandlungsbedürfnisse alter Menschen verstehen zu können, müssen wir uns zunächst mit den im Alter häufigsten gesundheitlichen Beschwerden beschäftigen. Oft sind es nämlich gar nicht die bekannten medizinischen Diagnosen, wie Durchblutungsstörungen, Zuckerkrankheit oder hoher Blutdruck, welche die Lebensqualität und das subjektive Befinden der Menschen im Alter am stärksten beeinträchtigen, sondern bestimmte Zustände, die gar nicht auf eine Diagnose allein zurückzuführen sind. Diese Beschwerde- und Symptomenkomplexe, welche charakteristisch für das höhere Alter sind, werden als geriatrische Syndrome bezeichnet. Für eine altersgerechte Medizin wird daher besonders die Beachtung und konsequente Prävention und Behandlung genau dieser alterstypischen Syndrome von entscheidender Bedeutung sein. Aber davon später.

    Zunächst sollen diese für das Alter so typischen Beschwerdebilder näher beschrieben werden.

    Einschränkungen der Mobilität

    Unter Einschränkung der Mobilität versteht man einen teilweisen oder völligen Verlust der Beweglichkeit und damit der Fähigkeit, sich selbstständig fortzubewegen. Immobilität kann beim alten Menschen durch eine große Anzahl von auslösenden Ursachen, die wiederum untereinander in Wechselbeziehung stehen, verursacht werden. Die häufigsten altersassoziierten Faktoren, welche die Mobilität betagter Menschen beeinträchtigen, sind zweifellos die degenerativen Erkrankungen des muskuloskelettalen Systems und hier besonders die arthrotischen Veränderungen der Gelenke (Böhmer und Füsgen 2008).

    Weitere bei betagten Menschen häufige Ursachen für Einschränkungen der körperlichen Beweglichkeit sind:

    Fehl- und Mangelernährung mit sich daraus ergebendem Muskelschwund und Abnahme der Muskelmasse (Sarkopenie), welche zu Muskelschwäche führen.

    Chronische Schmerzzustände, die bei alten Menschen aufgrund der Häufigkeit degenerativer Gelenkerkrankungen eine besonders hohe Häufigkeit haben und einen der Hauptfaktoren für Bewegungseinschränkungen darstellen.

    Verletzungen (Traumen): Schenkelhals- oder Wirbelbrüche können bei alten Menschen mit osteoporotisch reduzierter Knochendichte vielfach schon bei geringfügigen Traumen und Stürzen aus niedriger Höhe auftreten und zu bleibenden Bewegungseinschränkungen führen.

    Herzerkrankungen, wie Herzschwäche und Einengungen der Herzkranzgefäße, die zu einer eingeschränkten körperlichen Belastbarkeit führen.

    Lungenerkrankungen, wie insbesondere die „chronic pulmonary obstructive disease" (COPD, chronische Bronchitis), welche durch eine Störung des Gasaustauschs in der Lunge zu einer Reduktion der körperlichen Leistungsfähigkeit führt.

    Sehstörungen, die eine eigenständige und freie Fortbewegung außerhalb des häuslichen Bereiches beeinträchtigen und unmöglich machen können.

    Medikamentöse Ursachen für Immobilität: Eine Reihe von Medikamenten, welche von geriatrischen Patienten besonders häufig eingenommen werden, verursachen als unerwünschte Nebenwirkungen häufig Schwindel, Gangunsicherheit und eine Sturzneigung, was letztlich zu einer Einschränkung der Mobilität der Betroffenen führt. Als Beispiele seien hier Psychopharmaka und Opioidanalgetika (starke Schmerzmittel, die dem Suchtmittelgesetz unterliegen) genannt.

    Psychische Störungen: Depressionen sind bei betagten Menschen häufig und können zum sozialen Rückzug, zur Isolation, zur Bewegungsarmut und dadurch zur Reduktion des tatsächlichen Bewegungsradius der Betroffenen führen. In ähnlicher Weise können Angstzustände zu einer Einschränkung der Fähigkeit zur freien Fortbewegung führen.

    Neurologische Erkrankungen wie die Parkinson-Erkrankung, polyneuropathische Erkrankungen (Nervenschädigungen) sowie Lähmungen nach Schlaganfällen sind ebenso häufige Ursachen für Immobilität im Alter.

    Immobilität ist ein typisches Syndrom des Alters, welches meist durch ein multifaktorielles Zusammentreffen mehrerer der oben beschriebenen, auslösenden und verstärkenden Faktoren getriggert wird und zu einem Symptomenkomplex physischer, psychischer und sozialer Beeinträchtigungen führt (Bowker et al. 2006).

    Sturzneigung

    Hochaltrige Menschen sind besonders gefährdet, durch Stürze nachhaltige Einschränkungen ihrer Mobilität und Lebensqualität zu erleiden. Stürze sind bei betagten Menschen ein gewichtiger Risikofaktor für Morbidität und Mortalität.

    Aufgrund der im fortgeschrittenen Alter häufigen krankhaften Knochendichteverminderung im Sinne einer Osteoporose, führen bereits Stürze aus niedriger Höhe – also Stürze aus dem Stand – häufig zu schwerwiegenden Verletzungen.

    Etwa ein Drittel aller zu Hause lebenden Menschen über 65 Jahre stürzt zumindest einmal pro Jahr (Tinetti et al. 1988). Folgen von Stürzen bei alten Menschen können schwerwiegende Komplikationen sein, wie chirurgisch behandlungsbedürftige Hautverletzungen und Knochenbrüche bei 10–20 % aller Stürze (Rubenstein 2006).

    Besonders folgenschwer sind dabei Oberschenkelhalsbrüche, welche bei betagten Patienten einen besonders starken Einflussfaktor für das Versterben, Immobilität und chronisches Kranksein darstellen. Nach Oberschenkelhalsbrüchen beträgt die Sterblichkeit innerhalb eines Jahres zwischen 22 und 29 % (Haleem et al. 2008). Rund ein Drittel der Patienten, die einen Oberschenkelhalsbruch erlitten, zeigen ein Jahr nach dem Ereignis nicht mehr jene Unabhängigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens, die sie vor der Fraktur hatten (Pretto et al. 2010).

    Stürze stellen für betagte Menschen ein sehr hohes Risiko dar, ihre Mobilität und die Fähigkeit zur selbstständigen Lebensführung zu verlieren. Sturzereignisse sind daher vielfach auch ein Auslöser dafür, dass alte Menschen ihr gewohntes häusliches Lebensumfeld verlassen müssen und dauerhaft in ein Pflegeheim einziehen müssen.

    Die Sturzneigung betagter Menschen kann durch eine Reihe innerer und äußerlicher Sturzrisikofaktoren verursacht werden, von denen hier nur einige davon beispielhaft angeführt werden sollen.

    Innere Sturzrisikofaktoren: Reduzierte Muskelkraft, Gleichgewichtsstörungen und Schwindel, reduzierte Belastbarkeit der Gliedmaßen aufgrund muskuloskelettaler Schmerzen, funktionelle Beeinträchtigung des Wahrnehmungssystems, Sehstörungen.

    Äußerliche Sturzrisikofaktoren: Rutschende Teppiche, unebene Böden, Gehsteigkanten, Medikamente, welche das Sturzrisiko erhöhen (Herzkreislaufmittel, Psychopharmaka).

    Die Sturzneigung alter Menschen führt auch vielfach zu Sturzangst, welche einerseits wiederum eine verstärkende Wirkung auf das Sturzrisiko selbst hat und andererseits zusätzlich zu einem Vermeidungsverhalten im Sinne einer zunehmenden Immobilisierung und zur weiteren Einengung des Bewegungsradius führt.

    Kognitive Einschränkungen (Gedächtnisschwäche)

    Die kognitiven Fähigkeiten erfahren im Laufe eines natürlichen Alterungsprozesses Veränderungen. Mit zunehmendem Alter wird die Fähigkeit, neue Informationen aufzunehmen und als neu erworbenes Wissen anzuwenden, verlangsamt. Neben dieser individuell unterschiedlich stark verlangsamten Lernfähigkeit, bleibt jedoch die Verfügbarkeit des im Laufe des Lebens erworbenen Wissens weitgehend erhalten.

    Das Auftreten krankhafter Einschränkungen der Gedächtnisfähigkeiten korreliert stark mit höherem Lebensalter. Rund 70 % aller an einer Demenz erkrankten Menschen gehören der Bevölkerungsgruppe der über 80-Jährigen an (Bickel 1999).

    Die häufigste Demenzform ist jene der Alzheimer-Demenz, die rund 55 % aller neurodegenerativen Kognitionsstörungen ausmacht. Seltenere Demenzformen sind die frontotemporale Demenz, die Lewy-Body-Demenz und die Parkinson-Demenz. Daneben spielen auch die gefäßbedingten Demenzen als alleinige oder zusätzliche Ursache demenzieller Kognitionseinschränkungen eine bedeutende Rolle.

    Die Zahl der an Demenz erkrankten Menschen steigt in den industrialisierten Ländern deutlich an. Dieser Anstieg der Häufigkeit ist jedoch eng mit der zunehmenden Lebenserwartung assoziiert und damit durch die gestiegene Lebenserwartung erklärbar. Es gibt derzeit keinen Hinweis, dass sich das altersspezifische Erkrankungsrisiko für demenzielle Erkrankungen verändert hat. Das bedeutet, dass das Risiko, in einem bestimmten Lebensalter an einer Demenz zu erkranken, in den letzten Jahrzehnten unverändert blieb. Die im Vergleich zu Männern höheren Demenzhäufigkeiten bei Frauen sind vor allem auf die höhere Lebenserwartung der Frauen zurückzuführen. Frauen sind aufgrund ihrer Lebenserwartung in den höheren Altersgruppen deutlich stärker repräsentiert, was dazu führt, dass die Häufigkeit von Demenzerkrankungen unter Frauen – gemessen an der Personenzahl der gesamten Altersgruppe – höher ist als bei Männern (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2012).

    Demenzerkrankungen haben gravierende physische, psychische und soziale Folgen: Die betroffenen Patienten erleiden fortschreitende Einschränkungen in ihrer Alltagskompetenz, die zur autonomen Lebensführung notwendigen Aktivitäten des täglichen Lebens können zunehmend nicht mehr ohne fremde Hilfe erbracht werden. Dazu kommen Gangstörungen, Sturzneigung, Immobilität, Inkontinenz sowie Sprach- und Sprechstörungen. An psychischen Begleitsymptomen treten häufig Depressivität, Ängstlichkeit, Halluzinationen und Unruhezustände auf.

    Dies führt zu einem mit fortschreitender Erkrankung immer höheren Bedarf an pflegerischer Versorgung der Patienten. Der progrediente Krankheitsverlauf wird meist auch durch eine zunehmende soziale Isolation begleitet. Im weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium führen Schluckstörungen zusätzlich zu Fehl- und Mangelernährung (Malnutrition) und häufigen Aspirationen, d. h. zum Eindringen von Flüssigkeit und Nahrung in die Luftröhre. Dies führt dann zu Lungenentzündungen, sogenannten Aspirationspneumonien.

    Der anhaltende Trend zur Verlängerung der Lebenserwartung lässt gleichzeitig eine weiterhin steigende Häufigkeit von Demenzerkrankungen erwarten.

    Malnutrition

    Unter Malnutrition versteht man eine Fehl- oder Mangelernährung. Während bei jüngeren Menschen in den industrialisierten Ländern die Überernährung mit folgendem Übergewicht und metabolischem Syndrom die vorherrschende Form der Malnutrition darstellt, ist bei betagten Menschen die Unterversorgung mit ausreichenden und ernährungsphysiologisch notwendigen Nährstoffen die wesentlich bedeutendere und häufigere Form der Malnutrition.

    In der medizinisch-geriatrischen Literatur etabliert sich zunehmend ein Body-Mass-Index (BMI) unter 20 kg/m² als diagnostisches Kriterium für die Malnutrition betagter Menschen (Lechleitner und Hoppichler 2013).

    Malnutrition und Gewichtsverlust gehen bei betagten Menschen mit einer signifikant erhöhten Sterblichkeit einher, sind also in der Altersmedizin wichtige beeinflussbare prognostische Faktoren.

    Die Häufigkeit der Malnutrition liegt bei alten Menschen, die im häuslichen Umfeld leben bei 5–20 %, bei Menschen in Pflegeheimen ist sie noch deutlich höher und wird in verschiedenen Erhebungen mit 29–74 % angegeben (Sieber 2008).

    Die besondere Bedeutung der Malnutrition im Alter liegt darin, dass durch die Mangelernährung eine Reduktion der Muskelmasse, also eine Sarkopenie verursacht wird. Der kausale Zusammenhang von Malnutrition und konsekutiver Sarkopenie führte zur Bildung des Begriffs eines Malnutrition-Sarkopenie-Syndroms in der Geriatrie (Vandewoude et al. 2012). Dieses Malnutrition-Sarkopenie-Syndrom ist dadurch charakterisiert, dass abnehmender Appetit und reduzierte Nahrungsaufnahme zu Gewichtsverlust führen und dadurch ein Verlust an Muskelmasse und Muskelkraft einhergehen. Der Verlust an Muskelkraft führt dann zu den typischen Syndromen der eingeschränkten Mobilität und Sturzneigung, zu einem zunehmenden Verlust der Autonomie bei der Verrichtung alltäglicher Aktivitäten, zu einem Verlust an Lebensqualität und schließlich auch zu einer erhöhten Mortalität.

    Die Abnahme der Muskelmasse im Alter ist ein natürliches Phänomen. Bei 90-jährigen Menschen hat die ursprüngliche Gesamtmuskelmasse ohne präventive Maßnahmen im Durchschnitt bereits um 50 % abgenommen (Sieber 2008).

    Der altersabhängige Muskelabbau kann durch regelmäßige körperliche Aktivität und durch eiweißreiche Nahrung präventiv beeinflusst werden, durch eine Fehl- und Mangelernährung im Sinne einer reduzierten Aufnahme von Mikro- und Makronährstoffen jedoch zusätzlich beschleunigt werden.

    Malnutrition im Alter ist zusätzlich ein häufiger begünstigender Faktor für die Ausbildung einer Anämie (Blutarmut), vor allem durch Eisenmangel, sowie einer Osteoporose durch eine reduzierte Aufnahme von Vitamin D.

    Die Ursachen der Malnutrition im Alter sind mannigfaltig:

    Zahnverlust und Gebissprobleme, Mundtrockenheit (Xerostomie), Schluckstörungen (Dysphagie) mit Neigung zur Aspiration, Abnahme des Geschmacks- und Geruchssinns, Abnahme des Hunger- und Durstgefühls, Einschränkungen des Sehvermögens, aber auch Medikamentennebenwirkungen sind häufige Malnutritionsursachen. Auch psychosoziale Faktoren beeinflussen im Alter die Nahrungsaufnahme sehr stark: Depressivität, Isolation, demenzielle Erkrankungen mit kognitivem Funktionsverlust und die meist damit einhergehende Abnahme der Alltagsfähigkeiten sind starke Promotoren für Malnutrition und Sarkopenie (Schippinger et al. 2013).

    Insgesamt hat also die häufig vorkommende Malnutrition im Alter einen wesentlichen Einfluss auf die Krankheitslast und Funktionalität und damit auf das Ausmaß des Unterstützungs- und Pflegebedarfs des alten Menschen.

    Schmerzzustände

    Alte Menschen leiden sehr häufig unter Schmerzen. Eine Reihe von Studien zum Thema Schmerz im Alter ergab, dass 50–86 % der Menschen in der Altersgruppe der über 65-Jährigen an Schmerzen leiden.

    Eine österreichische Studie zur Schmerzhäufigkeit zeigte, dass rund 54 % der Männer und rund 64 % der Frauen im Alter über 65 Jahren an Schmerzen leiden.

    84 % der Personen, die Schmerzen in dieser Studie angaben, berichteten, dass ihre Schmerzsymptomatik bereits seit mehreren Jahren besteht (Janig et al. 2005). Die häufigsten Schmerzlokalisationen sind die Hüften, Beine, Füße und die untere Rückenhälfte, also Kreuzschmerzen.

    Die häufigste Ursache für chronische Schmerzen sind bei betagten Menschen degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparates. Häufig werden lang dauernde Schmerzzustände im Alter auch durch Verletzungen, Stürze oder durch osteoporotisch bedingte Wirbelkörpereinbrüche verursacht. Weitere im Alter gehäufte Ursachen für eine chronische Schmerzsymptomatik können die folgenden Erkrankungen sein (Likar und Pinter 2013):

    Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises

    Durchblutungsstörungen der Beine

    Polyneuropathien (Nervenschädigungen)

    Post-Zoster-Neuralgien (Schmerzen nach Gürtelrose)

    Nervenkompressionen, z. B. im Rahmen eines Karpaltunnelsyndroms oder eines Bandscheibenvorfalls

    Tumorbedingte Schmerzen

    Muskuloskelettale Schmerzen als Folge eines Schlaganfalls

    Immobilität selbst, also eine Einschränkung der Beweglichkeit

    Schmerzen haben im Alter weitreichende Folgen in somatischer, psychischer und sozialer Hinsicht. Chronische Schmerzen – und hier insbesondere jene, die durch Erkrankungen des Bewegungsapparates hervorgerufen werden – können den Mobilitätsradius der Betroffenen stark einschränken, können also Immobilität in unterschiedlichem Ausmaß bewirken. Immobilität ist aber auch selbst wieder eine mögliche Ursache für die Entwicklung von neuen Schmerzen.

    Durch die schmerzbedingte Immobilität, die selbst wieder Schmerzentstehung begünstigt, entsteht also ein Circulus vitiosus (ein Teufelskreis), wenn nicht eine konsequente und effiziente Schmerztherapie angewandt wird.

    Chronischer Schmerz wird von den betroffenen alten Menschen jedoch vielfach als natürliche und eben zu akzeptierende Begleiterscheinung des Alters gesehen, was dazu führt, dass betagte Menschen oft auch bereit sind, höhergradige Schmerzen langfristig zu ertragen, und die Möglichkeit einer effizienten Schmerztherapie gar nicht erwarten.

    Chronische Schmerzen bewirken bei betagten Menschen häufig nicht nur eine Mobilitätseinschränkung mit erhöhter Sturzgefährdung, sondern auch Depressivität, Ängstlichkeit, Schlaflosigkeit, Inappetenz mit Zunahme der körperlichen Schwäche sowie sozialen Rückzug und Isolation.

    Ein besonders wenig beachtetes Problem stellen Schmerzzustände bei kognitiv stärker beeinträchtigten, demenzkranken Menschen dar. Diese Personen, die häufig in Pflegeheimen leben, können sich oft selbst nicht mehr ausreichend verbal mitteilen, wenn sie unter Schmerzen leiden. Patienten mit höhergradiger demenzieller Erkrankung zeigen, wenn sie unter Schmerz leiden, oft nur indirekte Schmerzzeichen, wie Unruhe, Verwirrtheit, verkrampfte Körperhaltungen, Schlafstörungen oder Appetitlosigkeit. In diesen Situationen ist es für Betreuungspersonen besonders wichtig, für die genannten Verhaltensänderungen immer auch die Möglichkeit von Schmerzen als deren Ursache zu erwägen und gegebenenfalls eine Anpassung oder die Einführung einer Schmerztherapie zu bedenken.

    Harninkontinenz

    Als Harninkontinenz wird jeder unfreiwillige Harnverlust, unabhängig von der abgehenden Harnmenge definiert. Die Häufigkeit der Harninkontinenz steigt mit dem Alter. Rund 30 % aller über 70-jährigen Menschen, die zu Hause leben, leiden unter einer Harninkontinenz. In der Bevölkerungsgruppe, welche in Pflegeheimen lebt, leiden rund 50–70 % an einer Harninkontinenz (Wiedemann und Füsgen 2008).

    Neben chronischen Formen der Harninkontinenz, welche durch altersbedingte Veränderungen des zentralen und peripheren Nervensystems und durch anatomische Veränderungen der Harnblase und des Schließmuskelapparates (Sphinkterapparates) hervorgerufen werden, können auch vorübergehende Harninkontinenzen durch folgende Auslöser bedingt werden:

    Akute Verwirrtheitszustände (Delir), z. B. im Rahmen von Infekten, nach Verletzungen, Operationen oder durch Medikamente bedingt

    Infektionen des Harntrakts (Harnröhrenentzündung, Harnblasenentzündung)

    Medikamente: Eine Reihe von Medikamenten kann eine Harninkontinenz verursachen oder verstärken. Hier seien dazu nur einige Beispiele genannt: α-Rezeptorenblocker (Medikamente gegen hohen Blutdruck) bewirken eine Abnahme der Spannung des Harnröhrenschließmuskels und können eine Inkontinenzsymptomatik hervorrufen. Schmerzmittel vom Opioidtyp (starke Schmerzmittel) und Anticholinergika (beispielsweise in älteren antidepressiven Medikamenten enthalten) können Harnblasenentleerungsstörungen bis hin zur Überlaufharnblase hervorrufen und Serotoninwiederaufnahmehemmer – auch eine Gruppe von Antidepressiva – können eine verstärkte Harndrangsymptomatik bewirken.

    Endokrine Ursachen: Ein zu hoher Blutzuckerspiegel (Hyperglykämie) oder ein zu hoher Kalziumspiegel im Blut (Hyperkalzämie) können einen verstärkten Harnfluss (Polyurie) mit begleitender Harninkontinenz hervorrufen

    Immobilität: Die eingeschränkte Fähigkeit, ohne fremde Hilfe rechtzeitig eine Toilette aufzusuchen, kann ebenso zur Inkontinenz führen

    Koprostase: Eine ausgeprägte Stuhlverstopfung mit Ansammlung von Stuhl im Enddarm kann auch einen Harnverhalt

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