Tipsi und Fips: Große Freundschaft auf kleinen Pfoten
Von Dirk Paulsen
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Buchvorschau
Tipsi und Fips - Dirk Paulsen
Kapitel 1 - Tipsi
Die wärmenden Strahlen der Morgensonne krochen über das hölzerne Regal, auf dem die Schulkinder immer ihre Kakaobecher abstellten. Gerade forderte die Lehrerin Frau Estelle die Kinder auf, ihre Lesebücher zur Hand zu nehmen, als sich aus einer schmalen Öffnung in der Wand neben dem Regal ein kleines schnupperndes Näschen hervorschob. Niemand in der Klasse bemerkte die kleine, braune Feldmaus, die sich vorsichtig hinter einem Kakaobecher niederließ. Tipsi beobachtete mit wachen Augen das Geschehen im Klassenraum.
Während draußen die Lerchen über den Feldern in der Morgensonne jubilierten, übten die Kinder das Lesen – und Tipsi übte mit. Natürlich las sie nicht laut wie die Kinder, aber das hätte sowieso niemand gehört. Hätte man sie jedoch bemerkt, wäre sie sofort aufgefallen.
Noch nie hatte jemand eine Maus gesehen, die in Jeans und einem roten T-Shirt daherkam. Seit drei Jahren verfolgte Tipsi nun schon den Unterricht. Vielleicht lag es an der verständnisvollen Art der Lehrerin, vielleicht aber auch an den vielen Tröpfchen Kakao, die Tipsi immer von den Bechern naschte.
Jedenfalls führte der tägliche Besuch des Unterrichts dazu, dass Tipsi auf einmal immer besser zu verstehen begann, was Frau Estelle die Kinder lehrte. Nennt es ein Wunder, aber Tipsi konnte lesen, rechnen und sogar sprechen. Durch die ständige Übung in der Schule war sie auch sonst ein richtig heller Kopf.
So fiel ihr an diesem Morgen sofort die Veränderung auf. Während die Kinder einen Aufsatz schreiben mussten, war es still im Klassenzimmer. Aber das allein war es nicht. Tipsi horchte auf und bemerkte, dass auch die Lerchen ihr Morgenlied beendet hatten. Das war ungewöhnlich. Draußen war es totenstill. Sie verließ das Klassenzimmer und lief schnell ins Freie. Gleich neben der Eingangstreppe kletterte sie auf einen Holzstapel, um möglichst weit sehen zu können – und erschrak. Eine riesige schwarze Wolkenwand schob sich, von Norden kommend, immer schneller über Felder und Wiesen und schien diese zu verschlucken. Schon zerrte der erste heftige Windstoß an Tipsis Kleidern.
Das sieht aber gar nicht gut aus, dachte Tipsi. Ich werde lieber schnell nach Hause laufen. Sie sauste los, um das Schulgebäude herum, quer über die große Kuhweide, am Hof von Bauer Jahn vorbei in dessen Obstwiesen. Dort, zwischen den Wurzeln eines mächtigen alten Apfelbaums, lag der Eingang zu Tipsis Behausung. Als sie gerade den Rand der Wiese erreichte, fielen die ersten schweren Tropfen des über sie hereinbrechenden Sommergewitters. Der Wind wurde zum Sturm, die Welt um Tipsi herum verlor jede Farbe, alles wurde dunkelgrau. Der Himmel öffnete seine Schleusen und eine Flut von Wasser ergoss sich über die Wiesen. Tipsi musste sich an Grashalmen fest halten und kämpfte sich verbissen weiter, um die schützende Mausehöhle zu erreichen.
Kapitel 2 - Fips
Der Kapitän des kleinen Fischkutters hatte die Wetterwarnung beachtet und war eigentlich rechtzeitig vom offenen Meer in Richtung Jadebusen zurückgefahren. Der Jadebusen ist eine Nordseebucht, die ihren Namen von dem Flüsschen Jade bekam. Trotzdem erreichte das Unwetter den Kutter, bevor er seinen Ankerplatz im Hafen erreichen konnte.
Sturmböen peitschten Regenmassen gegen die Fenster. Man konnte keine zehn Meter weit sehen. Der Seegang war so heftig, dass man sich fest halten musste, wollte man nicht über Bord gehen. Die Tür zur Brücke ging auf, wo der Kapitän mit aller Kraft gegen den Sturm ansteuerte. Der Maat, in triefend nasses Ölzeug gehüllt, kämpfte gegen den Sturm an. Ein Windstoß entriss ihm die unter den Arm geklemmte Zeitung und wehte sie über Bord. Nur mit Mühe konnte er die Brückenluke wieder schließen. »Wat für ´n Sauwedder!«, schimpfte er.
Der Kapitän betätigte zur Vorsicht das Nebelhorn. Das ist eine gewaltig laute Hupe, die andere Schiffe bei schlechter Sicht auf die eigene Position aufmerksam machen soll. Was der Kapitän nicht wusste – damit brachte er einen blinden Passagier in absolute Lebensgefahr.
Oben im Trichter des Nebelhorns krallte sich eine Maus – genau genommen ein Mäuserich – mit aller Kraft an die Wandverschraubung. Ungewöhnlich war, dass er ein blau-weiß gestreiftes Matrosenhemd und dunkelblaue Hosen trug. Er hielt seine weiße Matrosenmütze mit aller Kraft fest, weil der Wind sie sonst über Bord geweht hätte. Ein kleiner Seesack hing über seiner linken Schulter und machte es noch schwieriger, sich bei dem schweren Seegang fest zu halten. An dem Seesack war eine kleine Metallplatte angebracht, auf der ein Name stand: Fips.
Und dann brach die Hölle los. Ein ohrenbetäubender, tiefer Ton erschütterte die Maus, als der Kapitän das Nebelhorn betätigte. Die ganze Welt schien nur noch aus diesem einen Ton zu bestehen. Die Vibrationen waren so stark, dass Fips für einen Moment das Bewusstsein verlor – und damit auch den Halt.
Der Wind riss ihn mit sich und schleuderte ihn durch die Luft. Dann kam er wieder zu sich. Auch wenn Fips ein mutiger Mäuserich war, stieß er nun einen angstvollen Schrei aus, als er zu fallen begann. Er wusste, wenn er in voller Montur mit dem Seesack auf dem Rücken in die kalte Nordsee fiel, war es um ihn geschehen.
Schon schlug er auf der Wasseroberfläche auf. Doch wie durch ein Wunder ging er nicht unter. Er lag zwar knöcheltief im Wasser, aber etwas Weiches hielt ihn an der Oberfläche. Fips erkannte, dass er auf einer Zeitung gelandet war, die wie ein Floß auf dem Wasser trieb. Es war die Zeitung, die der Wind dem Maat entrissen hatte. Sie rettete sein Leben, weil sie vom Sturm ans Ufer gedrückt wurde. Fips kletterte an Land.
»Nie wieder zur See!«, prustete er. Klitschnass kämpfte er sich durch das Unwetter ins Landesinnere.
Kapitel 3 - Kuno
Gleich neben den Obstwiesen Bauer Jahns stand ein langes Gebäude. Früher einmal war es nur eine einfache Scheune gewesen, die Bauer Jahn mit der Zeit zu einem schönen, warmen Stall für die Tiere ausgebaut hatte. Trotzdem nannten es alle nur die Scheune. Die Wände waren dick und solide gemauert, nur die Dachkonstruktion bestand aus schweren Holzbalken, an denen der Sturm zerrte und rüttelte. Draußen war es nun fast so dunkel wie in der Nacht. Blitze zuckten und warfen gespenstische Schatten durch das große Fenster neben dem Scheunentor. An allen Ecken und Enden knirschte und knackte es im Gebälk. Aber die Scheune war absolut wasserdicht. Das freute besonders Kater Kuno, der ansonsten lieber auf dem Kachelofen in Bauer Jahns Küche gelegen hätte.
Auf dem Fensterbrett neben dem Eingangstor hatte Kuno seinen Beobachtungsposten eingerichtet. Von hier aus konnte er alles überblicken: den Hof, die Wiesen und natürlich die Scheune selbst. Jetzt, während des Sturms, rollten seine Ohren bei jedem Knacken der Dachbalken hin und her, nichts entging ihm. Kater Kuno verpasste keine Gelegenheit, seinen Speiseplan aufzubessern. Und das erwartete Bauer Jahn auch von ihm. Schließlich war Kuno nicht umsonst ein riesiger, wohlgenährter, schwarzer Kater mit stechenden, grünen Augen und einem hervorragend