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Memoiren einer Tochter aus schlechtem Hause: Was heißt denn hier Liebe?
Memoiren einer Tochter aus schlechtem Hause: Was heißt denn hier Liebe?
Memoiren einer Tochter aus schlechtem Hause: Was heißt denn hier Liebe?
eBook203 Seiten2 Stunden

Memoiren einer Tochter aus schlechtem Hause: Was heißt denn hier Liebe?

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Über dieses E-Book

Memoiren einer Tochter aus schlechtem Hause

Ein Pappkoffer auf dem Dachboden der Kirchlichen Hochschule weckt bei der Protagonistin unangenehme Erinnerungen an Nachkriegsdeutschland, geprägt von einem prügelnden Vater, der Nazi war und blieb, von autoritären Strukturen in Familie und Schule. Als eine von einer Handvoll Studentinnen unter hundert Studenten der evangelischen Theologie lernt sie ihren späteren Verlobten kennen und lieben. Der Koffer enthielt nicht wie erhofft, Vorlesungsmaterial, sondern war randvoll mit Sexbüchern gepackt.
Mit roten Öhrchen liest sie sich durch die Sexliteratur und vernachlässigt streckenweise ihre Veranstaltungen. Ihre Kenntnisse in Sachen Sex weiß sie bald anzuwenden. Erster Kuss, Liebesbriefe von ihm nach Rom, wo sie als Haustochter arbeitet, versprechen eine glückliche Dauerbeziehung.
Krisen führen jedoch zu gegenseitigem Unverständnis und Vertrauensverlust, am Ende sogar nach Studienortwechsel und einem von ihrem Verlobten begangenen Plagiat an ihrer Staatsexamensarbeit zur notwendig gewordenen, leidvollen Trennung.
Getrennte Wege führen die Protagonistin nach langjähriger Berufstätigkeit in Deutschland als emanzipierte Frau ins Ausland.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum24. Sept. 2019
ISBN9783748562740
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    Buchvorschau

    Memoiren einer Tochter aus schlechtem Hause - Inge Stender

    Prolog

    „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm."

    Inbrünstig oft stoßgebetartig wiederholtes Gebet in meiner Kindheit, wenn ich wieder einmal mit Drohungen, auf mich warte das Höllenfeuer, ohne Abendbrot ins Bett geschickt wurde. Dort drehte ich mir eines Winters aus lauter Frust und Langeweile alle Knöpfe meiner Bettstrickjacke ab, da ich nie so früh einschlafen konnte. Für Lesen war es schon zu dunkel und elektrisches Licht hatte ich in solchen Nächten nicht zur Verfügung, da mein Vater die Sicherung für diesen Teil des Hauses herausgedreht hatte. In solchen Nächten hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Warum war ich so böse und meine nur ein Jahr jüngere Schwester so lieb? Waren nur d i e Gottes Kinder, die gut waren, keine Widerworte gaben und sich nicht ständig die Sonntagskniestrümpfe zerrissen? Jesus hatte gesagt, lasset die Kindlein zu mir kommen, hörte ich im Religionsunterricht, aber ich war anscheinend nicht damit gemeint. Es gab Bedingungen: den Erwachsenen gehorchen, nicht lügen und nicht stehlen; auch durfte man weder seine Schwester noch seine Tischnachbarin ärgern. Dabei machte doch beides einen Heidenspaß. Schon bald fiel mir auf, dass Heiden ja nicht an Gott glauben – ich war also Heide – und hatte deshalb Spaß.

    Das Knopfabdrehen hatte besonders viel Spaß gemacht. Auch der Gedanke an die nächste unwiderrufliche Strafe wie Taschengeldentzug oder Leseverbot hinderte mich nicht daran, lustvoll Knopf für Knopf zu umfassen, zu drehen, bis das Nähgarn Knack machte und ich den hellblauen Knopf auf den Nachttisch warf. Mancher landete auch auf dem Boden, wie mir ein rollendes Geräusch kundtat. Mit heimlicher Freude drehte ich nacheinander alle neun Knöpfe ab, während ich an den Wutschrei meiner Mutter am nächsten Morgen beim Wecken dachte. Sie riss mir immer brutal die Bettdecke weg, das hatte sie beim BDM gelernt, dachte ich später, als ich etwas von der Nazivergangenheit meiner Eltern begriff. Nach welcher angeblichen Schandtat auch immer, sie enttäuschte mich nie, da sie mich grundsätzlich jeder Bosheit verdächtigte, selbst wenn ich nichts getan hatte, wohl aber meine ach so liebe Schwester. Ihr spitzer Schrei beim Anblick der abgedrehten Knöpfe und der Ruf nach Hermann, meinem Vater, waren mir eine billige Genugtuung.

    Mit Beginn der Pubertät schien mir das In-den–Himmel-Kommen nicht weiter erstrebenswert. Nachdem ich das Buch von Ute Ehrhardt, „Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin", gelesen hatte, wusste ich, dass Bravsein für mich keine Option war. Mit dem Abitur in der Tasche konnte, nein musste ich weg, weg von allem, der miefigen Spießigkeit meiner Eltern und Umgebung, ihrer falschen Frömmelei, weg von allen Erziehungskonzepten, deren Saat bei mir per se nicht aufgehen konnte.

    Der Koffer

    Er sieht aus, wie einer, der den Krieg überlebt hat, ähnelt in seiner schäbigen Leichtigkeit und seiner bräunlichen Farbe dem Pappkoffer, den du als sechsjähriges Kind unter dem elterlichen Bett entdecktest, als du noch nicht verstandest, wozu die handbreiten Stoffstreifen mit Knopflöchern an beiden Enden taugten oder die runden Holzformen in Menschenkopfgröße. Letztere dienten zum Hütemachen, das sahst du später mit eigenen Augen, als die Mutter darauf Filz dämpfte und einen Hut entstehen ließ. Sie war Putzmacherin, was nicht hieß, dass sie putzen ging, sie fertigte Hüte und putzte sie mit verschiedenen Schnörkeln und Federn aus, manchmal mit asymmetrischer Krempe, ähnlich dem Hut mit langer Feder von Robin Hood aus deinem Bilderbuch.

    Dass es sich bei den sonderbaren Stoffstreifen um selbstgenähte Damenbinden handelte, die die Mutter in den Nachkriegsjahren noch immer benutzte, die nach Gebrauch in einem Zinkeimer mit kaltem Wasser in der Waschküche lagen, abgedeckt mit einem grauen Aufnehmer, erfuhrst du durch deine Schwester, die das blutige Geheimnis früh entdeckte. „Wusstest du, dass Frauen einmal im Monat bluten? Sonst können sie nämlich keine Kinder kriegen."

    „Du spinnst", hast du lakonisch geantwortet und dich im Hochgefühl deiner geistigen Überlegenheit gesonnt. Du warst immerhin schon zwölf, sie elf.

    „Doch, das stimmt, die Mama hat es gesagt."

    Die Bemerkung war dir nicht einmal einen Streit wert, denn die Klügere gibt nach, wie deine Mutter immer wieder betonte. Und das warst du, nicht nur die Ältere, sondern auch die Klügere. Dass du den Spruch sonst nur doof und ungerecht gefunden und dich bisher nie daran gehalten hattest, war dir in dem Moment entfallen. Deine Schwester hatte Schulschwierigkeiten, das war eine Tatsache, hatte schon den ersten blauen Brief bekommen, war schwer von Begriff. Es war sogar von Nachhilfe die Rede gewesen. Beim Abendessen hatte die Mutter nach einem Elterngespräch mit der Klassenlehrerin zum Besten gegeben, was sie über deine Schwester gesagt hatte: „Komm`ste heut nicht, komm`ste morgen, übermorgen komm`ste ganz bestimmt."

    Wie recht die Frau doch hatte! Deine Schwester war eine Schnecke, saß die meiste Zeit auf ihrem dicken Hintern, spielte am liebsten Mutter und Kind mit Nachbarskindern und war sonst zu nichts zu gebrauchen. Wenn ihr beide wegen Regenwetter nicht raus konntet, war Streit vorprogrammiert. „Die Klügere gibt nach!" Wie oft hattest du den Satz gehört, wenn deine Schwester heulend zur Mutter gelaufen war.

    Aber, dass diese Heulsuse einmal in ihrem Leben mehr gewusst hatte als du, wäre dir nicht im Traum eingefallen. So bist du bis zu deinem 13. Lebensjahr unschuldig geblieben in Bezug auf das geheimnisvolle Phänomen der Frauwerdung. Um so härter traf dich dann deine erste eigene Blutung. Du erinnerst dich heute noch genau. Du bist vom langen Schulweg deines Mädchen-Lyzeums nach Hause gekommen und fandest eine schmierige, schwärzliche Schicht in deiner Unterhose vor. Obwohl du erschrakst und zuerst an Krankheit dachtest, fiel dir sonderbarerweise unmittelbar darauf ein, was deine jüngere Schwester einmal behauptet hatte, was du aber mit vollster Autorität der älteren damals als spinnerte Idee verworfen hattest. „Frauen bluten einmal im Monat, sonst können sie nämlich keine Kinder kriegen." Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Deine erste Menstruationsblutung war ein Schock. Das aufgestörte Verhalten der Mutter war dir keine Hilfe. Sie legte dir eine Art Gürtel um, woran besagte Stoffbinde geknöpft wurde, murmelte etwas von du würdest jetzt zur Frau werden. Wen interessiert das? Da deine Blutungen sehr bald schon heftig wurden, lang anhaltend in einem regelmäßigen 28-Tage-Zyklus, wurden dir dicke Zellstoffbinden gekauft. Wenn du bei Schulausflügen deine Tage hattest, zogst du noch eine Gummihose über; eine Qual an heißen Sommertagen. Du kamst dir vor wie ein Säugling in Windel. Aber, was solltest du machen? Bei längeren Wanderungen, wenn stundenlang keine Toilette in Sicht war, konntest du die vollgesogene Binde nicht wechseln. Wo hättest du sie auch lassen sollen? Einfach in den Busch oder hinter den Baum schmeißen? Das kam überhaupt nicht in Frage. Du stelltest dir immer vor, was andere Spaziergänger oder Kinder wohl dächten, wenn sie das blutige Corpus delicti fänden?

    Du hast dich nie mit dieser überfallartig eingetretenen Bluterei, jeden Monat aufs Neue, ausgesöhnt. Du fandest sie widernatürlich und du fühltest dich ausgetrickst, wusstest aber nicht von wem. Auch als Erwachsene hast du der Mensis nichts Positives abgewinnen können. Das Kinderkriegen fandest du schon als Dreizehnjährige als für dich unpassend. Der sonderbare Hinterhalt, das irgendwie betrogene Gefühl bei deiner ersten Blutung, hinterließ eine seelische Narbe, die solange schmerzte, solange du dich mit deiner starken Menstruationsblutung abplagen musstest. Es sollten 37 Jahre werden.

    Auch körperliche Narben erlittest du in deiner Kindheit, wie die an der linken Wade, nachdem du beim Rennen gegen die Kante eines verrosteten Blechs, das eine Kalkgrube abdeckte, geraten warst: der gemusterte Kniestrumpf rot vor Blut, bis kein Muster mehr zu erkennen war. Seltsamerweise schreckte dich dieses Blut nicht, denn du machtest noch den Einkauf für die Nachbarin, weil du keinesfalls auf die 30 Pfennige verzichten wolltest, die dir versprochen worden waren. Die waren nämlich drei Brausewürfel oder –tütchen, sowie drei Tütchen Salmiakpastillen, oder – was für ein Schatz! – fünfzehn Kirschlutscher wert. Danach erst nach Hause, wo die Mutter fast in Ohnmacht fiel, weil sie kein Blut sehen konnte. Sie schickte den Opa mit dem Fahrrad, den Arzt holen, während sie weiter lamentierend nicht wusste, was sie machen sollte. Dann kam der Arzt, stellte seinen schwarzen Arztkoffer auf den Küchentisch, legte sich dein verwundetes Bein in den Schoß, zog den blutgetränkten Strumpf herunter, desinfizierte die Wunde, du musstest die Zähne zusammenbeißen, und klammerte den klaffenden Spalt mit vier Metallklammern. Du hast genau hingeschaut. Erinnerst du dich, dass dir dann doch genau viermal ein Klagelaut über die Lippen kam? Wie alt warst du damals? Vielleicht sieben oder acht.

    Oder die Narbe mitten auf deiner Stirn, die man heute noch sieht. Du warst noch nicht in der Schule, deine Oma zog dich an der Hand mit, irgendwo hin, dein Blick aber wurde von etwas seitlich oder hinter dir gefesselt, also liefst du mit nach hinten gedrehtem Kopf weiter. Dann der Knall. Deine Stirn klebte an einem Laternenpfahl. Ob du da geschrieen hast? Du weißt es nicht mehr. Möglicherweise nicht, da der Schock dich betäubt hat. Oder die rasante Schlittenfahrt auf der Todesbahn, die sonst nur Jungen befuhren. Du dachtest, das kann ich auch; es wäre auch gut gegangen, hättest du nicht die Bauchlage zum erstenmal probiert, so wie die Jungen es machten. Es passierten gleich zwei Unglücke. Der Schlitten nahm ordentlich Fahrt auf, tolles Gefühl, dann bei einem Buckel flogst du kurz in die Luft, landetest wieder unsanft auf dem Schlitten, aber beim Festhalten geriet dein linker Daumen unter die Kufe und schon warst du drüber gefahren. Noch merktest du keinen Schmerz wegen der klirrenden Kälte. Plötzlich ein Schreck, du nähertest dich in hoher Geschwindigkeit dem Stacheldrahtzaun, der einen Bach unten im Tal eingrenzte, das hattest du von oben nicht sehen können. Wegen der ungewohnten Bauchhaltung auf dem Schlitten wusstest du nicht wie bremsen und fuhrst unter dem Stacheldraht in den Bach hinein. Du warst dabei vom Schlitten gerutscht, deine ganze Vorderseite klatschnass. Du stolpertest über glitschige Steine, deinen Schlitten zu fassen kriegen, trabtest traurig nach Hause. Der Weg war lang, das Wasser gefror am Mantel zu Eis und deine Laune sank auf Grundeis, da du wieder Ärger kriegen würdest. Vom verletzten Daumen sagtest du nichts. Immerhin bereitete die Mutter dir ein heißes Bad, da sie Angst wegen einer Lungenentzündung hatte. Für den Rest der Woche gab es Schlittenverbot. In einem unbeobachteten Moment holtest du dir die rosa Salbe aus England, die für alles gut war, und Verbandszeug, machtest dir vor dem Schlafengehen einen veritablen Verband, den du beim Aufstehen wieder abwickeltest, in deine Schultasche stecktest, zusammen mit einem dicken Klumpen rosa Salbe in Butterbrotpapier gewickelt. In der Straßenbahn auf dem Weg zum Lyzeum machtest du dir wieder den Verband, den du beim Heimkommen wieder entferntest. So hast du deine Schmerzen erfolgreich bekämpft, nur der Daumen ist bis heute im unteren Gelenk seltsam biegsam nach beiden Seiten hin geblieben. Da warst du 12 und besuchtest die Sexta.

    Etliche weitere Narben zieren deinen Körper, besonders die Knie wurden oft in Mitleidenschaft gezogen, weil du über deine eigenen Füße stolpertest. Du hast immer geglaubt, dass das häufige Fallen daran lag, dass du so schnell hoch geschossen warst, deine Füße schon mit 13 Größe 43 erreichten und dir Herrenschuhe gekauft werden mussten. Aufrecht gehen und Füße heben fiel dir schwer. So latschtest du umher, als hättest du den Kummer der ganzen Welt zu tragen und der sei zu schwer für dich dünnen, langen Lulatsch, zu dem du in der Pubertät wurdest. Und dann fielst du wieder hin, weil du in die Gegend schautest und die Hindernisse vor deinen Füßen nicht wahrnahmst. An Schmerzen kannst du dich nicht erinnern, wohl aber an das Lustgefühl, den juckenden Schorf abzupulen.

    Seltsam, was für Erinnerungen ein schäbiger Koffer heraufbeschwören kann! Erinnerungen, die du schnell wieder vergessen willst. Auch die an das Mädchen-Lyzeum Unter den Buchen willst du lieber verdrängen, obwohl du eine gute Schülerin warst. In der Oberstufe nanntet ihr die Anstalt KZ unter den Buchen. Die Sitten waren streng damals Ende der Fünfziger. Lehrer, unter ihnen wenige weibliche Lehrkräfte, pflegten mehrheitlich einen autoritären Erziehungsstil. Vielleicht war sogar der eine oder andere Nazi darunter. Aber das konntest du mit 12 und 13 noch nicht erkennen, doch der Stil war dir vertraut, von deinem Vater, der Hitler glorifizierte, weil er die Autobahnen hatte bauen lassen und die Arbeitslosigkeit bekämpft hatte. Später dann hast du gegen deinen Nazi-Vater opponiert, auch wenn er nur einer der vielen Mitläufer gewesen sein mochte. Von der Rassenideologie und der millionenfachen Judenvergasung erfuhrst du erst im Religionsunterricht am Lyzeum. Im Geschichtsunterricht seid ihr später nur bis Bismarck gekommen. Deine Eltern wollten davon wie die Mehrheit der Deutschen nichts gewusst haben.

    Nein, dieser Koffer zu deinen Füßen, steht nicht im elterlichen Zimmer des teilweise ausgebombten Hauses im Ruhrgebiet, er steht auf dem Dachboden eines Studentenwohnheimes in Wuppertal und beschwört nur auf Grund seiner äußeren Beschaffenheit unangenehme Erinnerungen herauf. Schon lange hast du einen solchen Pappkoffer mit den verrosteten Schnappschlössern nicht mehr gesehen. Heute besitzt man Lederkoffer oder einen aus Kunstleder. Deiner ist blau, wahrscheinlich Kunstleder. Du glaubst nicht, dass deine Eltern dir einen teureren Koffer aus echtem Leder gekauft haben. War auch egal. Du bist nur froh gewesen, dass du deine wenigen Habseligkeiten in ihm unterbringen konntest, um nach Wuppertal zu deinem Theologiestudium aufbrechen zu können. Du hättest auch den alten Pappkoffer genommen, den die Mutter immer noch besaß, wenn das Geld für einen neuen nicht gereicht hätte. Du wolltest nur weg von einem Zuhause, in dem du dich nie zu Hause gefühlt hast.

    Die unerwartete Reminiszenz an die Nachkriegsjahre in einer ausgebombten Stadt ist tatsächlich nur einem Koffer geschuldet. Aber, was macht der hier auf dem Dachboden eines studentischen Wohnheims, genauer der durch eine Sperrholzwand abgetrennten Etage für die fünf Theologiestudentinnen – euphemistisch Damenstift genannt - gegenüber ungefähr hundert männlichen Studenten, die jenseits der Sperrholzwand und in zwei weiteren Gebäuden auf der Hardthöhe, dem sogenannten Heiligen Berg als Interne wohnen? Alle Studenten müssen doch ihre Zimmer am Ende jedes Semesters räumen, weil in den Räumen der Kirchlichen Hochschule regelmäßig Tagungen stattfinden und die Zimmer für die Teilnehmer gebraucht werden. Welche frühere Studentin

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