Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Methode Cortés: oder die Kunst, Ängste zu überwinden - Band 1
Die Methode Cortés: oder die Kunst, Ängste zu überwinden - Band 1
Die Methode Cortés: oder die Kunst, Ängste zu überwinden - Band 1
eBook755 Seiten9 Stunden

Die Methode Cortés: oder die Kunst, Ängste zu überwinden - Band 1

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nach zwei Jahren Rosenkrieg ist der in den USA tätige Biologieprofessor Jakob Zucker mit den Nerven am Ende. In seiner Verzweiflung (und frei nach dem historischen Vorbild des Hernan Cortés', der seine Schiffe verbrannte, um sich für die Eroberung des Aztekenreichs zu motivieren, sprich, seine Ängste zu überwinden) wirft Jakob seine Forschungskarriere hin und kehrt nach Mainz in seine alte Heimat zurück. Er will einfach nur noch seine Ruhe und wieder Umgang mit den Kindern haben. In der Republik läuft es indes gar nicht gut für ihn: Die Trennung quält ihn, Probleme mit dem Sorgerecht schütteln ihn, die Kosten der Scheidung übermannen ihn, die des Unterhalts "erwürgen" ihn, und mit dem Nachlass seiner Mutter kündigen sich Schwierigkeiten an. Von diesem Schlamassel in die Enge getrieben, beschließt er, mit seinem Segelboot zu fliehen und über die Weltmeere zu reisen. Eine wechselvolle Fahrt in ein neues Leben beginnt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Sept. 2019
ISBN9783748561279
Die Methode Cortés: oder die Kunst, Ängste zu überwinden - Band 1

Mehr von Klaus M. G. Giehl lesen

Ähnlich wie Die Methode Cortés

Titel in dieser Serie (3)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Methode Cortés

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Methode Cortés - Klaus M. G. Giehl

    TITEL

    Klaus M. G. Giehl

    Die Methode Cortés

    oder die Kunst, Ängste zu überwinden

    Band I

    IMPRESSUM

    Copyright © 2019 Klaus M. G. Giehl

    c/o Schoneburg. Literaturagentur und Autorenberatung

    Torstr. 6, 10119 Berlin, Germany

    E-Mail: klaus.m.g.giehl@gmx.de

    Website: http://www.klausgiehlromane.com/

    DANKSAGUNG

    An erster Stelle bedanken möchte ich mich bei Birgit Haug–Unfried und Horst Berscheid, meinen kritischsten, inspirierendsten und – nicht zu vergessen! – ausdauerndsten Testlesern. Mein Dank gilt auch Sabine Gärtner und Margit Giehl für ihre hilfreichen Kommentare zu früheren Versionen des Manuskriptes.

    I.  DIE METHODE CORTÉS

    1  „Meinmond"

    Nein. Zwei Monde schienen nicht in meiner Welt. Hatte ich mich doch glatt von der Laterne da täuschen lassen. Da drüben schien kein Vollmond, da schien eine Laterne! Und sonst schien in dieser Nacht nur die wie ein Schiff am Horizont treibende Mondsichel.

    Noch war die Sonne nicht aufgegangen, aber langsam, sacht, unaufhaltsam kündigte sie sich an, schob ihr Grau, ihr Violett, und endlich ihr Rot in den Horizont, und damit die Erinnerung an Cortés in mein Bewusstsein.

    Wieso kam ich gerade jetzt auf Cortés? Weil er seine Schiffe verbrannte, sie verglühten, wie dieses Mondschiff in der Morgendämmerung verglühen würde? Weil die Entscheidung der Nacht, meinen letzten Traum jetzt wahr werden zu lassen, mich an den Tag erinnerte, der Cortés in mein Leben spülte?

    Egal. Cortés war wichtig geworden für mein Leben und für die Brücke zum Neuen. Auf diese Brücke geschubst hatte mich Gonzalo, die spanische Glatze, mein alter Freund und beruflicher Ziehvater. Das musste Mitte achtundneunzig gewesen sein, als er sie mir erzählt hatte, diese Geschichte über Cortés. Den Schiffeverbrenner. Den Angstverbrenner. Den Traumverbrenner.

    2  Cortés

    Hernán Cortés war ausgezogen, Moctezumas Reich zu zerschlagen. Mit zwölf Schiffen. Eines für jeden Gott, dem die Azteken Menschen opferten. Aufgebrochen von Kuba, waren die Konquistadoren in einen Sturm geraten und an den Gestaden Yukatans eher gestrandet als gelandet. Doch wie durch ein Wunder hatte man sich wiedergefunden. Und schließlich, nach mühevoller Fahrt entlang der Küste, ging die Flotte an der Grenze des Aztekenreichs vor Anker. Dort, an einem öden Strand, saßen die Eroberer seit Wochen fest.

    Cortés hatte sich eine Menge vorgenommen, aber es ging einfach nicht voran. Täglich empfing er Moctezumas Gesandte, ließ sich von ihnen preisen und beschenken, und verabschiedete sie höflich. Inzwischen hatte man sich fast gewöhnt an das Gepränge. Und je vertrauter es wurde, desto deutlicher wurde die Vorstellung von den Reichtümern der Azteken: Dort, in der Wildnis jenseits der Uferdünen, warte genau, wofür man gekommen sei. Gold. Unglaubliche Mengen Gold! – Doch Cortés wunderte sich:

    Warum schickte Moctezuma all die Geschenke? Wollte er ihn verhöhnen? Oder waren die Gaben Köder, „diese fahlgesichtigen Neuankömmlinge in ein Inferno zu locken, das die buntbefederten Krieger als „Willkommensgruß im Landesinneren bereitet hatten?

    Auch bei Cortés‘ Männern wucherten die tollsten Theorien. Und die Sorgen der Konquistadoren schienen sich miteinander zu verbünden: Man hatte Angst. Aber am Strand, in Reichweite der Kanonen, da sei es sicher. Also blieb man erst mal. Grund zur Eile bestehe schließlich nicht.

    Cortés allerdings begann zu begreifen. Und ihm als vermutlich einzigem dieses verlassenen Haufens Spanier wurde klar, was diese Angst bedeutete:

    Mit ihr ginge es nirgendwohin! Weder vorwärts noch zurück! Doch was sollten sie tun? Heimsegeln und dem König berichten, in der Ankerbucht sei nichts weiter zu finden gewesen und obendrein seien sie dieser unterwürfigen Unterhändler überdrüssig geworden? Oder sollten sie schauen, woher diese kamen, und sich in den Schlund eines Monsters wagen, das vielleicht noch grauenvoller war als das der eignen Phantasie?

    Cortés sah ein, dass der Impetus zur Eroberung El Dorados in dem Moment, in dem man den ersten Fuß auf diesen Strand gesetzt hatte, verpufft war wie die Luft einer zerstampften Schweinsblase. Cortés ärgerte sich, indessen weniger über seine Männer, als über sich selbst: Über diese verdammte Angst, die ihm im Gedärm rumorte, und in der er sich kaum von dem verlausten Pack da draußen unterschied!

    Cortés verstand sich selbst nicht mehr:

    Wo war er denn, der Mut, mit dem er sich ein Denkmal hatte setzten wollen? Er reichte eben bis an diesen Strand! Zum Glück hatte man genug Wasser, Pulver und Kanonenkugeln. Oder war genau das das Unglück, dass nichts fehlte, für eine „angenehme Rast"? War er, Cortés, etwa kein Held? Oder hatten Helden kein Schiff, das im entscheidenden Augenblick Schutz bot? War deren Unglück letztlich das Glück, das sie zu Helden machte? Dann hatten sie den Mut der Verzweiflung. Oder war es Ignoranz, das Verkennen der Gefahr? Doch er, Cortés, war nicht ignorant!

    Aber mutig fühlte er sich auch nicht gerade. Und das war ihm bewusst. Sehr bewusst. Allein mit den Duetten seiner Ängste und seinem Streben nach Größe – nach seinem Platz in der Geschichte! – freundete sich Cortés zunehmend mit dem Gedanken an, dass Mut nicht heiße, keine Angst zu haben, sondern sie zu überwinden. Egal wie! Denn was am Ende zählte, war das Ergebnis, das Erreichte. Und eben das für alle – selbst die Dümmsten! – „Begreifbare": das Gold. Und ohne das wollte Cortés nicht mehr zurück.

    Aber er zweifelte: Wie bloß könnte er sich und seine Männer überzeugen, diesen Weg, den Weg zu diesem Gold, das da vor ihnen lag, zu gehen? Und es zu nehmen, verdammt noch mal! Unmöglich konnte es nicht sein, denn Moctezumas Boten brachten nicht nur Geschenke, sondern auch Zeugnis: Das der Überheblichkeit. Oder das der Angst. Und wo die Angst herrscht, erlischt die Fähigkeit zum rechten Handeln, so wie die Einsicht zu ihm fehlt, wo Überheblichkeit gebietet. Beste Voraussetzungen also für ein Gelingen der Mission! Davon war er jetzt überzeugt! Fände er bloß ein Kraut gegen diese Angst in seinen Männern ... und in sich selbst!

    Da kam Cortés ein wahrlich „zündender" Gedanke:

    Angst wurde nur dort mächtig, wo sie bleiben, wo sie wachsen konnte. Wo man ihr erlaubte, gleichsam im Herzen zu ankern. Allein so vermochte sie Verachtetes zu erheben, zur „akzeptablen Option, der man sich nur allzu gern ergab. Doch welchen „Anker gewährten er und seine Männer dieser Angst? War das etwas Fassbares? Etwas, das man aufstöbern und ausradieren konnte wie ein Nest Ratten in der Bilge¹? – Natürlich! Das waren die nahen Schiffe und der Schutz, den sie boten. Nur so konnte die Versuchung reifen, an diesem Strand zu bleiben und damit den unannehmbaren Rückzug und den gefürchteten Vormarsch zu vermeiden. Ohne diese Schiffe wäre der Strand nicht mehr sicher. Ohne diese Schiffe wäre man der Möglichkeit zur Umkehr beraubt. Und ohne diese Schiffe bliebe nur noch ein Weg: der Weg zum Sieg – oder in den Tod!

    Der Entschluss war gefasst. Am Abend des 14. Augusts 1519 gab Cortés einem Vertrauten den Befehl, die Flotte in Brand zu setzen. Was folgte, war die Zerschlagung des Millionenreiches der Azteken – durch ein Häuflein von sechshundert Spaniern mit zehn Kanonen, und mit sechzehn Pferden.

    Gewiss halfen noch viele Zufälle, das vermeintlich Unmögliche zu erreichen. Doch unabdingbar war dieser Initialfunke, der von den lodernden Schiffen in die Köpfe flog, und Cortés und seinen Männern genau die Motivation gab, das unmöglich Scheinende möglich zu machen. Cortés war also Motivationskünstler. Und seine Kunst hatte Methode. Diese war „die Methode Cortés".

    3  Punktphasen

    Instinktiv hatte mich Gonzalos Geschichte über Cortés fasziniert, womöglich, weil ich – angstgeplagt – oft selbst nicht hatte sein können, wer ich hätte sein wollen, und ich mein Leben nicht weiter diesen Ängsten hatte widmen wollen. Mein Freund Paul, mit dem ich mich einmal bei einem Wein über die Geschichte unterhalten hatte, hatte das „Sich–den–Rückzug–vermiesen" als Essenz des Ansatzes erkannt. Dieses ist zweifelsohne eine wichtige Ingredienz des Verfahrens, die aber dessen erbarmungslos effektiven Kern nicht trifft. Der ist, sich exklusiv auf eine Option festzulegen, und zugleich jeden Ausweg auf andere Optionen zu eliminieren. Gerade das Ausschließliche entzieht der Angst die Grundlage und schafft so die Motivation, auf dem Weg zum erkorenen Ziel zu bleiben. Es hilft also kaum, sich unerwünschte Alternativen weniger schmackhaft zu machen oder gar zu „vermiesen. Mit solch „fester Entschlossenheit vermag man (bei „gebotener Demut oder „gereifter Einsicht oder besser beidem) nur allzu leicht auf vormals Verschmähtes umzuschwenken, besonders, wenn die Angst die Pirouette versüßt.

    Erst Jahre nach diesem Plausch mit Paul hatte ich verstanden, dass einen nach der „Methode Cortés getroffenen Entschluss durchzuhalten kein Selbstläufer ist, denn an Alternativen in drolligen Varianten offeriert das Leben einen wahren Dschungel, in dem man flugs den Überblick verliert. Unverhofft mutiert da das Inakzeptable in eine schmierig schillernde Alternative, die man als „neu, „eigentlich akzeptabel und vorher nicht bedacht zu erkennen denkt. Und tatsächlich bietet das Leben doch neue und akzeptable Optionen. Genau die zu erkennen, ist die Kunst der „Methode Cortés: Man darf die in der Tat neuen und akzeptablen Optionen nicht mit den nahezu zur Unkenntlichkeit variierten inakzeptablen verwechseln. Und das ist schwierig. Die endlosen Permutationen des Inakzeptablen laden die Angst nämlich geradezu ein, sich sozusagen durchs Hintertürchen erneut ins Geschehen einzuschleichen – und sich die feiste Bangefratze veredeln zu lassen.

    Was kann in diesem Getümmel helfen? Sicherlich ein klarer Blick. Nach meiner Erfahrung hilft indes vor allem, nach der „Methode Cortés" zu entscheiden, und zwar angsteliminierend und irreversibel. Man erspart sich so belangvolle Konfrontationen mit Scheinalternativen und eröffnet sich gleichzeitig den Weg zum wirklich Neuen. Insofern bietet diese Methode fürwahr kreative Elemente. Schön im Grunde, nicht wahr?

    Aber ich sollte mich zügeln, nicht ins „Schwärmen geraten, wie es mir als „Wissenschaftler von Herzen leicht unterlaufen kann, wenn ich über eine derart effektive Methode zu referieren habe, obschon mir dies bei meinem Verständnis der Methode (ich bin hier Experte!) durchaus nicht unterlaufen sollte. Denn durchaus ist die „Methode Cortés" dazu geeignet, Situationen zu schaffen, mit denen man (aus der Retrospektive!) gar nicht mehr einverstanden ist!

    Doch dazu später. An dieser Stelle sollte diese „Warnung genügen. Und an dieser Stelle möchte ich betonen, dass ich keineswegs wie ein Wunderwasserhändler für die „Methode Cortés werben möchte. Mein Anliegen ist, über sie zu berichten, zu erläutern, wie wirkungsvoll, ja, rabiat und unabänderlich sie das Leben eines Menschen zu beeinflussen imstande ist. Lassen Sie sich also nicht ins Bockshorn jagen, wenn ich beziehungsweise das für die jeweilige Phase des Erzählten relevante Ich ins Schwärmen gerate respektive gerät.

    „Das für die jeweilige Phase des Erzählten relevante Ich? Was ist damit gemeint? Um die Frage zu beantworten, muss ich auf ein Kuriosum der Geschichte eingehen: Diese umfasst siebenunddreißig Jahre meines Lebens und setzt sich zusammen aus Notizen, „Originaldokumenten, meinen frühen literarischen Versuchen, meinen weniger frühen literarischen Versuchen usw. Ich, der „späte Jakob Zucker, der Jakob Zucker des Jahres 2017, habe diese Texte zusammengefügt, ein wenig „poliert, aber hierbei darauf geachtet, die Sprache meines Denkens und die Sprache meines Fühlens authentisch, also auf dem Stand der jeweiligen Zeit zu belassen, über die sie berichten. (Auch, wenn es mir, dem „späten Jakob Zucker, gelegentlich schwergefallen ist, den Mund zu halten zu dem Bockmist, den der „primordiale Jakob sich da zuweilen zusammengedacht und geleistet hat.) Urteilen Sie also nicht zu früh! Geben Sie dem „Helden" der Geschichte eine Chance. Die Chance, sich zu entwickeln. Und entwickeln wird er sich! (Wenn auch nicht in einem gemeinhin als positiv verstandenen Sinne.)

    Zurück zum eigentlichen Thema, zur „Methode Cortés: Ihre Bedeutung für mich tatsächlich zu begreifen begann ich nach der Trennung von meiner Frau. Wir hatten damals in Austin gewohnt und vorgehabt, nach Deutschland zurückzukehren, um in Mainz, unserem „voramerikanischen Zuhause, ein ruhigeres Familienleben zu führen, gemeinsam. Zumindest war ich von einem gemeinsamen Vorhaben ausgegangen, bis sich meine Frau kurz vor unserem Abflug im Dezember 2003 von mir getrennt hatte. In meiner „Not hatte ich allerdings Glück gehabt und meine schon gekündigte Biologieprofessur an der University of Texas at Austin retten können. So war mir meine geliebte Forschung geblieben (in der alten Heimat hätte ich als Arzt gearbeitet). Und ich begann, zu begreifen, dass die „Methode Cortés für mich wichtig werden würde.

    II.  AUS DEM ABGRUND

    4  Abflug

    Am 14. Dezember 2003 verließen meine Frau und die Kinder die Vereinigten Staaten. Ich brachte die drei zum Flughafen, ungern, wie ich gestehen muss, denn ich hatte das Gefühl, sie zum letzten Mal in Austin zu sehen.

    Ja, „sie", hatte ich gedacht, und auch die Kinder, machte ich mir klar. Wieso dachte ich so etwas? Schließlich waren nur Magnolia und ich nicht mehr zusammen. Das hatte doch nichts mit den Kindern zu tun! Ich presste die Zähne aufeinander, konzentrierte mich auf die Straße, hielt nach der Abfahrt auf den Presidential Boulevard Ausschau, und führte mir vor Augen: Zu denken, Max und Moritz nicht mehr hier zu sehen, war also verfehlt!

    Ich beruhigte mich und als ich auf den Boulevard einbog, versuchte ich, nicht mehr zu denken, damit ich die Einfahrt auf den Parkplatz nicht verpasste. Es war ein sonniger Tag. Langsam glitt der Wagen, ein hellblauer „Camry" Kombi, über den Asphalt. Ich hatte meine Sonnenbrille zuhause auf der Küchenanrichte liegen lassen und kniff die Augen zusammen. Jetzt, von der klaren Wintersonne beschienen, wirkte das mächtige Konglomerat der Betonbauten des Flughafens wie organisch aus dem dürren Grund gewachsen. Endlich machte ich die Einfahrt aus.

    Am Check–In mussten wir warten. Meine Frau war gereizt. Sie nörgelte an den Kindern herum, weil sie mit einem Koffer spielten. Die Kleinen ignorierten sie. Sie sagte, ich solle auch mal was sagen. Ich sagte nichts, sondern betrachtete die dicken roten Backen der Kleinen in einer Mischung aus Wehmut und Verzückung.

    Max saß, „hochherrschaftlich" grinsend, auf einem Koffer, als ritte er, der König, nun auf stolzem Rosse in die Schlacht. Seine hellbraunen Haare waren zerzaust und seine dunkelbraunen Augen funkelten listig in die Menge. Hinter ihm pustete Moritz, die Stirn zum Platzen rot und den Koffer nach Kräften schiebend – und diesen in der Tat schon einige Zentimeter über den Boden geruckelt habend. Seine blonden, strähnigen Haare klebten schweißig an der Stirn und den glühenden Schläfen. Die Brauen waren höchst angestrengt zusammengezogen, die Backen pumpten wie Blasebalge Luft durch das gespitzte Mündchen. Ich schmunzelte. Die Welt der Kleinen konnte mich immer aus meiner Welt reißen.

    Bis jetzt!, dachte ich, und sah meine Frau an.

    Die Arme verschränkt und ärgerlich die Brauen gesenkt, stand sie hinter den Kindern, beäugte sie. Die verschränkten Arme hoben die vollen Brüste leicht, doch anmutig, an. Sie nickte ihre langen blonden Haare nach hinten und ich musste an Claudia Schiffer denken (dieser ähnelte meine Frau tatsächlich und tatsächlich musste ich oft, wenn ich diese betrachtete, an jene denken). Mein Blick sank über ihren linken Oberarm auf die Lende, die Hüfte. Sie trug einen bordeauxroten Rollkragenpulli und eine hellgraue Stoffhose. Beides lag ihren reizvollen Rundungen eng an, doch verursachten diese nun eine unangenehme Spannung in mir.

    Ich sah zu den Anzeigetafeln – Zahlen, Buchstaben, Punkte – und mir ging es besser. Nach wie vor aber war ich verkrampft. Fast fiel mir das Atmen schwer.

    Nach einer Weile – Max und Moritz waren unterdessen schweißgebadet – mussten die beiden auf die Toilette. Froh, weg von meiner Frau durchatmen zu können, ging ich mit ihnen, Max an meiner Rechten, Moritz an meiner Linken.

    „Trödelt nicht wieder rum", rief meine Frau uns nach.

    Ich drehte mich zu ihr um und versuchte einnehmend zu lächeln, was mir nicht so recht gelang. Gereicht hatte es wahrscheinlich nur zu einem unwilligen Grimassieren, denn meine Frau schüttelte den Kopf und sah in die andere Richtung. Ich wandte den meinen wieder nach vorne, weil die Kinder an meinen Händen zerrten und es galt, nicht auf einen Pfosten aufgelaufen zu werden. (Ich musste immer auf der Hut sein bei meinen Frechdachsen!)

    Wir kamen langsam voran, unterhielten uns über die Flugzeugmodelle, die von der Hallendecke hingen. Jedes Modell war anders bemalt. So rätselten wir, ob das Affenflugzeug nur von Affen benutzt werde, ob das Papageienflugzeug sprechen könne, ob das Sternenflugzeug am höchsten fliege.

    Auf dem Rückweg trug ich die Kinder auf dem Arm, wie gewohnt Max auf dem rechten und Moritz auf dem linken. Die Knirpse nahmen erneut das Flugzeugthema auf. Moritz betonte, dass er das Drachenflugzeug bevorzuge, während Max auf jeden Fall das Sternenflugzeug haben wolle. Sie fragten, ob sie die Flugzeuge nehmen und losfliegen könnten. Ich erklärte ihnen, das seien Modelle, die nicht fliegen könnten. Sollte ich allerdings ein richtiges Drachen– oder Sternenflugzeug finden, würde ich es ihnen schenken.

    Mir wurde hundeelend. Das Gefühl war wieder da. Stärker, brennender. Ich hatte Angst, meine Kinder zu verlieren. Mir fiel schwer, Fassung und Haltung zu bewahren. Letzteres wurde erleichtert durch das stabförmig harte Glühen, das mir senkrecht im Leib steckte. Bis in den Rachen! Glücklicherweise entdeckten die beiden einen Snackautomaten. Das lenkte ab. Dankbar kaufte ich ihnen einen Beutel Chips.

    Sie Chips–knabbernd auf meinen Armen, näherten wir uns der Warteschlange, in der ich die blonden Haare meiner Frau ausmachte. Sie war ein gutes Stück vorangekommen und schaute auf ihre Armbanduhr. Sie musste einen Stringtanga tragen, denn der glatt spannende Stoff ihrer Hose setzte ihren prallen Hintern hervorragend und ohne störende Nahtstrukturen in Szene. Ich war erstaunt, dass sich meine Augen auch in dieser Situation – so unmittelbar nach der Trennung! – fast unweigerlich an ihren Hintern hefteten.

    Und dies, ohne dass ich mich jetzt zu ihr oder ihm hingezogen fühlte! Eigentlich fühlte ich mich gar nicht mehr zu ihr hingezogen. Obwohl ich sie noch liebte! In diesem Moment empfand ich diese Gefühle widersprüchlich, und das umso mehr, weil ich absolut nicht hätte sagen können, warum ich meine Frau noch liebte. Gewohnheit!, nickte ich gedankenversunken, und wunderte mich erneut: Konnte ich überhaupt sagen, warum ich sie je geliebt hatte?

    In meiner Überlegung unterbrach mich Moritz, der mir einen Chip in den Hemdkragen gesteckt hatte. Ich setzte die Kleinen auf den Boden ab und schüttelte die Krümel aus meinem Hemd. Und meine Frau schüttelte ihren Kopf (wir hatten zu ihr aufgeschlossen) und meckerte, warum ich den Kindern wieder irgendwelchen Blödsinn gekauft hätte. In diesem Moment war ich krümelfrei – und erleichtert, dass sie bald gehen würde. Wir kamen an die Reihe.

    Nachdem das Gepäck eingecheckt war, verabschiedete ich mich mit je einem Kuss von Max und von Moritz und einem Winken von meiner Frau. Sie erwiderte dieses nicht, sondern sagte, gehetzt und die zappeligen Kinder immer wieder zu sich zerrend:

    „Ach Jakob, du musst unbedingt mal in den nächsten Tagen checken, ob die Rückerstattung von der Homeowners Versicherung schon da ist. Da müssen wohl noch zweitausend Dollar kommen."

    „Das hattest du vorhin bereits erwähnt", nickte ich.

    „Wollte dich nur daran erinnern!", hob sie streng die Braue.

    „Ist gut, schnaufte ich, „Ich mach das. Don’t worry.

    „Schön. – Und vergiss auch nicht, regelmäßig bei Juanita nach der Post zu schauen. Mindestens einmal pro Woche. Da müssen wohl auch noch andere Schreiben kommen. Und ich kann mich jetzt halt nicht mehr selbst um die ganzen Sachen kümmern und hab wirklich keine Lust auf Chaos! Und sie ergänzte mit einer Miene, die Besorgnis wie Mitleid auszudrücken schien: „Also schau halt, dass die Sachen halbwegs laufen und nicht alles den Bach runtergeht.

    „Ich werde mich bemühen, seufzte ich, fokussierte kurz, und meinte ruhig und ohne mir wirklich etwas zu wünschen: „Aber ich denke, du musst langsam los, sonst fliegt dein Flieger ohne euch.

    Meine Frau fixierte mich. Ihre schönen, hellblauen Augen drückten wie immer nichts aus. Leute, die meine Frau nicht mochten, hatten ihre Augen als kalt bezeichnet. „Wie Eiswasser", hatten manche gar gesagt. Ich hatte ihre Augen (wie meine Frau selbst) als geheimnisvoll empfunden und diese Leute nie verstanden. Sie antwortete nach einem Moment:

    „Hast recht. Dann mach’s mal gut."

    Die drei begaben sich auf den Weg zu ihrem Gate. Ich schon in der Drehung, den Parkplätzen zuzueilen, blieb mein Blick an den Kindern hängen und ich stehen. Sie „wackelten" jetzt brav an der Hand meiner Frau. Max links. Moritz rechts.

    Konnte ich auch hier sagen „wie üblich links und „wie üblich rechts?

    Ich wusste es nicht, konnte mich nicht erinnern, konnte ja noch nicht einmal sagen, ob sie „wie üblich" von ihrer Reise zurückkehren würden. Da war es wieder, dieses Gefühl! Und diese Angst, die beiden nie mehr hier in den Staaten zu sehen. Es schüttelte mich, aber ich riss mich zusammen und meinen Blick von den Kindern und eilte meinem Ziel, den Parkplätzen, entgegen.

    Schließlich musste ich mich beeilen! Ich hatte nur diesen Tag, das Haus zu putzen und die Restmöbel zu entsorgen. Morgen war Closing Date. Dann musste ich ausziehen.

    5  Closing Date

    Bei meinen Putz– und Aufräumarbeiten entdeckte ich in einem Wandschrank eine mannshohe Fotomontage, ein Werk meiner Frau, auf dem sie unsere Zeit bis zur Trauung verewigt hatte. Es war ihr Hochzeitsgeschenk für mich gewesen.

    Meine Augen rasterten von Bild zu Bild, bis sie an unserem ersten gemeinsamen Urlaub hängen blieben. In die Bretagne war es gegangen. Das Foto zeigte meine Frau an einem breiten Strand. Ich hatte ein Loch gebuddelt gehabt und sie (mit den Beinen zuerst, natürlich!) hineingesteckt und bis über den Nabel in den Sand eingegraben. Und sie hatte die Erschütterte gespielt, mich angefleht, ich solle sie doch bitte, bitte wieder befreien.

    Richtig babyspeckig war sie da!, grinste ich. Tatsächlich hatte meine Frau seinerzeit einige Pfunde mehr gewogen, was ihr gut gestanden hatte. Im Laufe der Jahre war sie schlanker geworden, hatte sich die Harmonien ihrer „Sphären" aber an den entscheidenden Stellen bewahren können. Es war also nicht so, dass sie jetzt dürr gewesen wäre oder schlechter ausgesehen hätte. Nur anders. Reifer. Verführerischer. Verruchter.

    Ich schüttelte den Kopf, fragte mich, warum sie abgenommen habe, doch ehe ich die Antwort suchte, verfingen sich meine Augen am nächsten Bild. Es zeigte mich, in der Nähe des Strandes, wie ich vor dem Picknick wie ein Wilder aus dem Gebüsch gestolpert kam (ich hatte meine Frau im Spaß erschrecken wollen, die Hände zu Krallenpranken gehoben und eine Fratze wie ein hungriger Wahnsinniger geschnitten).

    Viel jünger hast du damals ausgesehen!, schnaufte ich. (In den Jahren meiner Ehe war ich nicht unwesentlich gealtert. Zur Zeit dieses Urlaubes hatte man erst hie und da graue Strähnen erkennen können. Inzwischen war ich grau! Na ja, ziemlich grau, um es nicht zu übertreiben.) Und in der Tat wie ein Indianer hast du ausgesehen!

    Zu Zeiten dieses Urlaubes war ich Arbeitsgruppenleiter gewesen und hatte die Haare halblang getragen, eine richtige Mähne, die durchaus an einen Indianer hatte denken lassen. Während meiner Gymnasialzeit, in der mein Haar weit über den Schultern gewallt hatte, hatten sie mich sogar „Sioux" genannt, ein Spitzname, der sich in dem Maße verloren hatte, in dem meine Haare kürzer geworden waren. Jetzt ließen sie die Ohren frei.

    Soll ich sie wieder wachsen lassen?, lächelte ich.

    Mein Lächeln verhärtete wie kristallisierender Gips, denn ich realisierte, dass meine Frau sicher nicht vergessen hatte, diese Fotomontage mit den anderen Sachen in unserem Container zu verstauen. Es hatte ihr also schon beim Packen klar gewesen sein müssen, dass sie sich von mir trennen würde! In diesem Augenblick wollte ich kein Aufheben um die Sache machen (meine Frau war sowieso nicht da!) und stellte das „Kunstwerk" dorthin, wohin es gehörte. Zu dem anderen Müll, den ich gleich entsorgen würde.

    Ich war zeitig fertig geworden, sodass ich meinen Wagen noch an diesem Tag bei der Heilsarmee abgeben konnte. Ich hatte mit meiner Frau vereinbart, dass ich ihren Wagen, den „Camry, behielte (er hatte sich als zuverlässiger erwiesen als mein „Corolla) und meinen der Heilsarmee überließe. Dies könne man von der Steuer absetzen, worauf ich ruhig auch einmal selbst achten solle, und zwei Wagen müsse ich jetzt ja wohl wirklich nicht mehr haben!

    Am 15. Dezember war Closing Date. Ich musste ausziehen und nahm mir ein Hotelzimmer. Beim Ausräumen des Koffers fiel mir mein Flugticket in die Hände. Ursprünglich hatte ich mit meiner Frau und den Kindern nach Deutschland zurückkehren wollen, hatte mir sogar schon einen Flug besorgt. Als sich meine Frau aber wenige Tage vor dem Abflug von mir getrennt hatte, hatte ich mich entschieden, in den USA zu bleiben. Jetzt war ich überrascht, das Ticket in Händen zu halten. Offenbar hatte ich dieses „Detail" verdrängt. Ich dachte:

    Das hat sich erübrigt! Mich überkam ein merkwürdiges Gefühl, so etwas wie Ambivalenz, und ich ergänzte gedanklich: Sei froh, dass es sich erübrigt hat! So hast du noch deinen Beruf.

    In diesem Augenblick schien mir klar zu sein, dass mein Beruf mir das Wichtigste war. In diesem Augenblick konnte ich mich klar erinnern, dass sich vor meiner Ehe alles bei mir um meine Forschung gedreht hatte – und ich glücklich damit gewesen war. Und in diesem Augenblick erinnerte ich mich, dass sich erst seit der Heirat dieses Nagen eingestellt hatte, Zweifel entwickelt hatten, die Familie mir wichtig und wichtiger geworden war.

    Weil es besser für mich war? Weil meine Frau mich ständig „benagt" hatte? Ich lachte durch die Nase auf und wollte das Ticket weglegen, da fiel mein Blick auf die Buchungsdaten: Ach, der Rückflug!

    Und auf und ein fiel mir, dass ich mit meinem für den 19. Dezember geplanten Flug auch einen Rückflug nach Austin reserviert hatte, für den Achtundzwanzigsten. Damals war es günstiger gewesen, Hin– und Rückflug als nur ein One–Way Ticket zu buchen. Nach kurzem Überlegen entschloss ich mich, die Flüge doch wahrzunehmen. So konnte ich meine Mutter besuchen, abgesehen davon, dass es mir trostlos vorgekommen wäre, die Weihnachtszeit alleine in einem Hotel in Austin zu verbringen.

    Und um den Wiederaufbau meines Labors konnte ich mich auch noch nach den Feiertagen kümmern!

    Vor dem Abflug verstaute ich meine Sachen in meinem Office. Laura, meine Sekretärin, wollte sie im Auge behalten. Mein anderes Personal war zu diesem Zeitpunkt schon entlassen. Laura war die gemeinsame Sekretärin von John Snider, Mike Miller und mir, weshalb sie nicht von meinem fast vollzogenen Weggang betroffen war. Als ich ihr mitgeteilt hatte, dass ich nun doch bliebe, hatte sie gestrahlt und gemeint, da falle ihr ein Stein vom Herzen. Jetzt lächelte sie und wünschte mir einen guten Flug.

    6  War ich nicht mehr ganz dicht?

    Mein Flugzeug landete am Nachmittag des 20. Dezembers 2003 in Frankfurt. Eigentlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, mich von meiner Mutter am Flughafen abholen zu lassen, doch sie hatte darauf bestanden. Sie wohnte in Höningen, einem Dorf im Pfälzerwald, von dem aus es eine Stunde Fahrt zum Flughafen war. Eine Stunde sei zwar eine Stunde, nichtsdestoweniger sollte diese Strecke keine große Belastung für meine Mutter darstellen, hatte ich mich beruhigt.

    Zu Beginn des Jahres war sie an einem Gallengangskarzinom erkrankt, das allem Anschein nach erfolgreich behandelt worden war. Bei unserem letzten Treffen hatte Mutter noch schwach gewirkt. Wie ich sie jetzt auf mich zulaufen sah, war ich überrascht. Deutlich zu Kräften gekommen erschien sie mir fast wie vor ihrer Krankheit: schlank, aber nicht zu schlank, und energiegeladen wie ehedem. Als ich ihr lockiges Haar im Licht der Ankunftshalle glitzern sah, lächelte ich, denn ich erinnerte mich, sie seinerzeit ob ihres matten, spröden „Fells mit einer kranken Katze verglichen zu haben (gedanklich, natürlich!). Jetzt hatte Mutter wieder etwas von einer gesunden Katze, da ihr „Fell voller geworden war und in kräftigem Kastanienbraun glänzte. Der Eindruck bestätigte sich, als sie mich mit ihren dunkelbraunen Augen anfunkelte und zur Begrüßung wie eine just geschnappte Maus in ihre Arme zerrte.

    Während der Fahrt erzählte Mutter, wie sie sich wieder fit gemacht habe in der Reha. Anfangs sei ihr Laufen schwergefallen, aber sie sei das Problem systematisch angegangen: Zuerst habe sie gezählt, wie oft sie von ihrem Zimmer bis in den Speisesaal habe anhalten müssen, um zu verschnaufen. Und dann habe sie sich vorgenommen, jeden Tag einmal weniger anzuhalten, was funktioniert habe, bis sie gar nicht mehr habe anhalten müssen. Danach habe sie ihr Fitnessprogramm erweitert und nochmals mit Gymnastik und Schwimmen angefangen. Als dies auch geklappt habe, habe sie ihre Wanderschuhe ausgepackt und ...

    Ich hörte nur halb zu, war froh, dass wir nicht über die Trennung sprachen, und betrachtete die vorbeirauschende Landschaft. Alles kam mir grau und hässlich vor.

    Wie schön hatte ich es dagegen in der fast ewigen Sonne und transparenten Klarheit von Texas!

    Ich verspürte eine Art Heimweh und schmunzelte, was mir schnell verging, denn ich wurde von „texanischen" Bildern eingeholt: Wie ich meine Frau, sie sich ihre Haare in den Nacken nickend, in dieser Sonne gesehen hatte. Wie wir am Gartenteich gegrillt hatten. Wie die Kinder in ihrer Holzburg gespielt hatten. Wie sie mit dreckverschmierten Backen gefragt hatten, ob sie eine Wurst haben könnten, für ihre Schildkröte. Wenige Tage zuvor hatten wir eine verletzte Schnappschildkröte auf der Straße gefunden und in unserem Garten in ein Freigehege unter der Holzburg zur Pflege aufgenommen. Kurz vor unserer geplanten Abreise hatten wir das mittlerweile genesene Tier in einem Sumpf in der Nähe ausgesetzt. Dort hatte es vermutlich hingehört. Das war vor oder nach einer der vielen Trennungen im Dezember gewesen. Ich wusste es nicht mehr. Aber an diesem Tag waren meine Frau und ich zusammen gewesen und ich hatte mir gewünscht, dass es so bleibe.

    Unverhofft dachte ich an das Fußfesseltattoo von Linda, meiner ehemaligen technischen Mitarbeiterin. Sie sah blendend aus, die Inkarnation einer Barbypuppe, und ich bereute einen Augenblick, mich meinen Begierden ihr gegenüber nicht hingegeben zu haben.

    Aber das wär doch gar nicht drin gewesen!, rief ich mir ins Gedächtnis. Schließlich war ich ihr Boss gewesen! Ich wunderte mich: Warum dachte ich über einen solchen Blödsinn nach? War ich nicht mehr ganz dicht?

    Wir waren in Höningen angekommen. Meine Mutter bog in die Einfahrt ein und der Wagen näherte sich der Garage. Durch die von Wildwuchs umwucherte Einfahrt zu gleiten erfüllte mich mit einem gemütlichen Gefühl, das mir guttat. Ausnahmsweise sah ich deshalb davon ab, meine Mutter darauf hinzuweisen, dass sie die Tannen und den Kirschlorbeer ruhig ein wenig stutzen könne, damit man auch einmal das Haus sehe. (Für meine Mutter war es wichtig, ihr Heim in ein „natürliches" Biotop zu betten, und da sie seit zwanzig Jahren in diesem Hexenhäusle lebte, kann man sich vorstellen, wie es da aussah!) Ich schaute zu ihr hinüber. Sie zog den Zündschlüssel ab, blies sich ins wuselige Haar, und lächelte mich an.

    7  Abendessen mit Flora

    Meine Mutter hatte etwas zu essen für mich vorbereitet. Ich hatte keinen Hunger, aß aber, um sie nicht zu kränken. Anschließend unterhielten wir uns bei einem Glas Wein oder besser gesagt nahm sie ein Wasser und ich einen Wein. Das war ungewohnt für mich. Früher hatten wir gerne „ein" Glas Wein miteinander getrunken. Jetzt ging das nicht mehr. Seit ihrer OP war ihr Alkohol zuwider.

    Auf Nachfrage erzählte ich Mutter, was geschehen war und wie ich mich fühlte. Die Art und Weise, wie ich erzählte, war allerdings sonderbar. Gewöhnlich war Reden über ein Problem für mich wie eine fruchtbare Enthüllung meines Fühlens vor mir selbst: Mit dem Erstaunen über das, was ich von mir gab, zeigten sich neue Emotionen und Ideen zur Lösung des Problems. Nicht so jetzt. Jetzt ließ ich mein „Leiden" wie einen reißenden Müllstrom aus mir quellen. Und mein Ich (oder das, was zu diesem Zeitpunkt davon übriggeblieben war) verschwand im Strudel von Sinnlosigkeit und Endzeitstimmung. Ich schien vergessen zu haben, wie meine Frau mit mir verfahren war. Sie hatte mich wie einen Deppen auflaufen lassen, um sich einen schadfreien Abgang in die alte Heimat zu verschaffen, und mir hierbei beruflich hemmungslos geschadet. Doch das blendete ich jetzt aus, fand sogar alle möglichen Gründe, die mein angebliches Versagen und meine gemutmaßte Schuld am Scheitern unserer Ehe belegen sollten. Während ich redete, war mir zuweilen, als sei es gar nicht ich, der da spreche, sondern meine Frau. Interessanterweise gab mir das ein Gefühl der Vertrautheit, das mich beruhigte. Und munter führte ich diese debile Selbstdemontage fort. Meiner Mutter (sie schnaufte immer genervter) wurde das (aus gutem Grund, muss ich inzwischen sagen!) bald zu viel.

    „Ich kann dir nicht mehr zuhören!", fauchte sie plötzlich.

    „Bitte?, schaute ich verdutzt aus meiner finstren „Leidensgrube auf.

    Als kröche ihr ein Käfer über das Zahnfleisch verzog sie das Gesicht und erläuterte:

    „Du geißelst dich hier wie ein mittelalterlicher Mönch. Das ist zum Kotzen. Wer bist du überhaupt? Ein Stück Dreck? Hast du dich denn komplett vergessen?"

    „Das denke ich nicht, sank mein geschundener Nacken zwischen die gekrümmten Schultern, „Ich versuche bloß, meinen Anteil am Scheitern der Familie wahrzunehmen. Nur so kann ich mich ändern und eventuell noch was retten. Schwach griff ich nach meinen Zigaretten und meinem Feuerzeug und ergänzte schlaff: „Wenn noch etwas zu retten ist."

    „Was willst du retten?, zischte sie, beugte sich auf mich zu wie die Schlange zum Mäuschen, und wetterte: „Ich war während deiner gesamten Ehe erstaunt über dich, hab allerdings nie was gesagt. Wollt mich nicht einmischen. Aber du hast dich Magnolia so was von unterworfen, dass es mir peinlich war! Wie ein Eselchen hat sie dich vor sich hergetrieben. Und wenn du mal gewagt hast, zu widersprechen, hat sie dich abgeputzt wie einen dummen Schuljungen. Mir tat das weh, zu sehen, wie mein eigener Sohn seine Persönlichkeit quasi an der Ehegarderobe abgibt. Du warst nämlich mal stark und hattest Ausstrahlung. Jetzt bist du – ein Häuflein Elend. Das finde ich schade.

    „Ach Flora!, winkte ich ab (mit ihrem Vornamen sprach ich Mutter nur an, wenn mir schien, sie habe Unvernünftiges gesagt), „Das siehst du falsch. In einer Ehe muss man zu Kompromissen fähig sein. Sonst funktioniert das nicht.

    „Ich höre Magnolia sprechen!, schüttelte sie den Kopf, reckte ihren Hals zur Seite, schaute mir ins Ohr, als suchte sie etwas darin, und erkundigte sich, in dieses „hineinrufend: „Bist du noch irgendwo da? Ich musste lachen und steckte mir die Finger in die Ohren. „Schon besser!, grinste Mutter, und ergänzte: „Mann Jakob, kämpf doch!"

    „Ich versuche ja zu kämpfen, zuckte ich die Schultern, „entkorkte meine Ohren, und erläuterte mit traurigen Augen: „Um meine Familie."

    „Ich frage dich noch mal, richtete sie ihren Zeigefinger wie ein Zuchtstöckchen auf mich, „Was willst du retten? Deine Gefangenschaft? Als Nutzvieh? Sieh’s doch ein: Aus irgendeinem Grund hast du Magnolia in den Kram gepasst. Kann ich verstehen. Bist ein hübscher Kerl, lieb und intelligent, hast einen tollen Beruf, und sie hatte es durch dich verdammt bequem und konnte die Madame spielen. Aber jetzt passt du ihr nicht mehr ins Konzept und sie hat dich aufs Übelste abserviert. Und da suchst du die Schuld bei dir? Ich kenne meinen Sohn nicht mehr! Wo ist der Kämpfer, der sein Ding durchzieht, bis er hat, was er will? Vergiss die Hirnwäsche, die Magnolia dir verpasst hat! Erinnere dich an dich, an deine Prioritäten!

    „Meine Prioritäten kenne ich", unterbrach ich sie matt.

    „Daran habe ich meine Zweifel!", schüttelte sie ihren Kopf, „Zumindest im Augenblick. Früher, ja, da war das klar. Da gab’s nur deine Forschung für dich. Da warst du noch du selbst! Und jetzt? Jetzt plapperst du nur den Müll nach, den Magnolia dir eingeflüstert hat. Ich erinnere dich an deine Entscheidung, deine Professur in Austin zu kündigen! Damit Madame mit trivialen Kunsthistörchen bei Oma und Opa rumprotzen kann?" (Meine Frau hatte Kunstgeschichte studiert und in diesem Bereich eine Stelle an der Uni Mainz angenommen.) „Du hast sie doch nicht mehr alle! Dafür wolltest du deinen Beruf hinschmeißen, deine Forschung? Dafür wolltest du Assistenzarzt werden und dich mit Dingen abgeben, die dich überhaupt nicht interessieren?"

    „Ach Quatsch!, winkte ich ab, „So war das doch nicht! Wir haben das geplant, um als Familie ...

    Familie!, unterbrach mich Mutter laut lachend, und detaillierte ernst: „Nein! Das war nicht die Familie! Nie war sie das gewesen! Abserviert hat dich Magnolia! Und vorher hat sie dir über Jahre hinweg deine Forschung madig gemacht. Um sich selbst in den Vordergrund zu stellen. Und damit du vielleicht doch mal einen ‚anständigen‘ Job machst – geldmäßig – und sie besser prassen kann! Ob dieser Job allerdings was für dich ist, das hat sie nie interessiert. Mann, sei froh, dass dieses Trauerspiel vorbei ist! Steh endlich auf und kämpfe! Aber gib dich nicht auf.

    Ich hörte, was meine Mutter sagte, verstand es. Aber es drang nicht in mich ein. Es kam mir vor, als seien ihre Worte für jemand anderen bestimmt. Im Grunde hörte ich auf, ihr zu antworten. Zwar sagte ich noch etwas, verlor indes den Bezug zum Geschehen.

    Nach einer Weile wurde ich müde und wollte schlafen. Wir beendeten die Unterhaltung. Ich trotte nach unten in mein Zimmer. Es lag im Kellergeschoss des Hauses. Passte also: Ich zog mich in mein Verließ zurück. („Ach herrje!", schnaufte ich.)

    In meinem Bett starrte ich die Decke an, und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Bei jeder Zigarette, die ich anzündete, nahm ich mir vor, eine Lösung zu finden. Doch wofür, wusste ich nicht. Und hatte ich die Zigarette zu Ende geraucht, hatte ich das Gefühl, vergessen zu haben, worum es überhaupt ging. Also zündete ich mir eine neue Zigarette an und nahm mir vor, eine Lösung zu finden. Wofür? Nach vielen gleichen Fragen schlief ich ein.

    8  Schattentheater

    Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, sah ich neben mir auf dem Bettlaken ein kleines, schwarzes Loch. Das Relikt einer Supernova?, lächelte ich. Nein! Offenbar hatte meine letzte Zigarette in der Nacht ein Loch in die Matratze gebrannt. Glück gehabt!, dachte ich, stand auf, und schlurfte nach oben.

    Ich betrat den Wohnraum, und es stoppte mich, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen: Das im Schnee auf der Terrasse gleißende Sonnenlicht war mir wie eine Edelstahlpfanne entgegen geschlagen. Ich schützte meine Augen mit meiner Linken und blinzelte in Richtung Terrassentür. Draußen hackte meine Mutter Holz, für den Kachelofen vermutlich. Genau erkennen konnte ich sie nicht, nur Umrisse ausmachen. Gut eingepackt musste sie sein, Parker, Schal und Wollmütze. Wie es aussah, hatte sich nun die Axt im Hackklotz verklemmt: Mutter zerrte heftig am Stiel der Axt. Ich glaubte, eine Nase zu sehen und pustende Lippen, fühlte mich an einen animierten Scherenschnitt erinnert – Figuren und Kulisse schwarz und außen grell umstrahlt – und lachte:

    Wie ein bayrisches Schattentheater! Seppel hackt das Holz!

    Ich wandte mich dem vom Wohnzimmer abzweigenden Esszimmer zu und fühlte Erleichterung. Dieses war mit einer für meinen Geschmack viel zu grellen, orangefarbenen Stofftapete ausgekleidet (Mutter liebte schrille Farben), aber mir kam das Orange jetzt dunkel, eben lindernd vor. Ich zog die schweren, grünen Gardinen zu, war nun endgültig schmerzfrei, und schlappte in die Küche, in der die Jalousie heruntergelassen war.

    Schön dunkel, dachte ich, und: Kaffee!

    Licht hatte ich nicht angemacht. Stumpfsinnig belauschte ich das Gluckern der Kaffeemaschine, ließ das köstliche Aroma in meine Nase steigen. Als ich mir einschenkte, krachte Mutter herein und knipste das Licht an. Ja, wie Krachen dicken Eises war es gewesen, als sie erschienen war. Und die stechende Kälte, die an ihr starrte, und das Halogenlicht, das sich in meine Augen bohrte, erhöhten den Eindruck ins Schmerzhafte. Mutter hatte rote Backen, dampfte, und begrüßte mich mit den Worten:

    „Tach, Bubi! Ich nippte an meinem Kaffee und lächelte. Über diese verquere Begrüßung ärgerte ich mich nicht. Man muss den Leuten ihren Spaß lassen und sie wusste nicht, was sie tat, und meinte es nicht so. „Muss gleich zu Herta, fuhr sie fort, „Werde nicht vor fünf zurück sein."

    „Ist gut", nickte ich.

    Wer Herta war, wusste ich nicht und mir war es auch egal. Mich über den Bekanntenkreis meiner Mutter auf dem Laufenden zu halten, wäre mir zu anstrengend gewesen, gerade jetzt, so früh am Morgen. Mutter eilte aus dem Raum und ich begab mich gähnend ins Wohnzimmer, wo ich die Jalousien herunterließ und mich mit meiner Tasse auf die Bank vor dem Kachelofen setzte, den meine Mutter erfreulicherweise schon befeuert hatte. (Handwerkliche Arbeiten lagen mir nicht!)

    Just, als ich den Wagen meiner Mutter aus der Einfahrt rollen hörte, klingelte das Telefon. Ich hob ab, weil das Gerät neben mir stand. (Aufgestanden wäre ich, mit dieser kuscheligen Wärme im Rücken, bestimmt nicht!)

    Es war meine Frau. Sie habe erfahren, dass ich in Höningen sei, und wolle mich dort treffen, da sie ein paar Sachen abholen müsse, die sie vor unserem Umzug nach Austin im Keller meiner Mutter abgestellt habe. Ad hoc erkannte ich die Möglichkeit, ein Problem zu lösen, das mich jüngst beschäftigt hatte: In Austin hatte ich den Kindern Weihnachtsgeschenke besorgt, hatte aber keine Lust, an Heiligabend bei meinen unerträglichen Schwiegereltern vorbeizuschauen, wo sich die Kinder zur Bescherung aufhalten würden. Ich schlug meiner Frau also vor, die Kleinen für eine „Sonderbescherung" mitzubringen. Das gehe nicht, erwiderte sie. Die zwei seien heute bei Ingo und Ingrid und würden auch dort schlafen. (Ingo und Ingrid war ein mit uns befreundetes Paar noch aus Max‘ Kindergartentagen vor unserer Zeit in Austin.) Enttäuscht sagte ich meiner Frau, dann solle sie eben alleine kommen, von mir aus sofort, wenn sie wolle. Als ich eingehängt hatte, realisierte ich, dass meine letzte Aussage eindeutig zweideutig gewesen war. Aber das war mir egal. Ich nippte frustriert an meinem Kaffee.

    Eine Dreiviertelstunde später traf meine Frau in Höningen ein. Wir begrüßten uns knapp und sie verschwand im Keller. Ich wartete rauchend und mit dem Rücken gegen die behagliche Wärme des Kachelofens gelehnt im Wohnzimmer.

    Nachdem meine Frau gefunden hatte, was sie zu benötigen glaubte, wollte sie einige Dinge mit mir besprechen. Ich bat sie, Platz zu nehmen. Sie setzte sich auf die Couch und überschlug die Beine, ich hockte mich auf den Sessel ihr seitlich gegenüber. Erschüttert berichtete sie, dass das Restgeld vom Hausverkauf noch nicht überwiesen sei und sie ganz dringend Geld wegen der neuen Wohnung brauche. Ich gab meiner Frau dreitausend Euro. Sie lächelte besänftigt und erklärte mir, dass wir am nächsten Tag wirklich unbedingt auf dem Einwohnermeldeamt vorbeischauen müssten. Es bedürfe da ganz dringend meiner Unterschrift „auf so einem Wisch", damit die Kinder mit ihr zusammen in die neue Wohnung einziehen könnten. In ihrer dramatischen Weise schilderte sie, die beiden könnten sonst überhaupt nicht in die Schule und das gebe dann ein riesen Chaos. Ich stimmte zu, die Erklärung zu unterschreiben. Meine Frau war beruhigt.

    Ich fragte, ob ich die Kinder an einem der Weihnachtsfeiertage für ein paar Stündchen abholen könne. Meine Frau reagierte fast empört, meinte, das gehe jetzt aber wirklich überhaupt nicht. Ich erkundigte mich, warum. Das „passe jetzt halt gerade nicht, meinte sie schnaubend. Ich kannte dieses Schnauben (es signalisierte eine noch geringere Bereitschaft zu Kompromissen, als sie ohnehin bei meiner Frau gegeben war), fragte aber trotzdem, ob sie die Kinder wenigstens morgen, wenn wir uns für das Einwohnermeldeamt träfen, mitbringen würde. Wir könnten in ein Café gehen, wo ich den Kleinen ihre Weihnachtsgeschenke geben könne. Mit bedrohlich geblähten Nüstern erläuterte sie, sie habe morgen etliches zu erledigen und wirklich keine Zeit für solche Spielereien. Außerdem seien die Kids schon mit den Großeltern unterwegs und das könne sie nun einmal nicht absagen. Um unnötige Reibereien so kurz nach der Trennung zu vermeiden, bohrte ich nicht nach. Ich kannte meine Frau: Würde ich insistieren, heizte ich ihre Rage nur an. Ich hätte mir sogar vorstellen können, dass sie dann einen Anwalt einschalten würde, und das war momentan das Letzte, was ich wollte. Klar war, dass nicht nur ich, sondern auch sie so unmittelbar nach der Trennung noch über die Maße „angespannt war. Da sei es besser, dachte ich, sich zurückzunehmen, um einen konfliktiven Status Quo, der gänzlich unnötig gewesen wäre, zu vermeiden. Aber frustriert war ich, trotz meiner „vernünftigen" Einschätzung.

    Wir sprachen über die Trennung. Es hatte sich nichts geändert. Ich schlug meiner Frau vor, einen Paartherapeuten mit ihr aufzusuchen. Sie ging zunächst nicht darauf ein, doch ich drängte, und nach einer Weile stimmte sie widerwillig zu.

    Wir unterhielten uns noch. Sie erzählte, wie schlimm das alles für sie sei. Sie könne gar nicht glauben, dass ihre Familie plötzlich zerbrochen sei. So etwas habe sie sich eigentlich nie vorstellen können. Aber sie sehe halt wirklich nicht, wie das jetzt noch mal anders werden könne. Ich beobachtete ihre Augen. Mir schien, als seien die Augenaufschläge bewusst wie Kontrapunkte gesetzt, um die „konzeptionellen Meilensteine" des gerade referierten Themas zu pointieren. Wie so oft glitt mein Blick auf ihren prall–erotischen Hintern. Er schimmerte transparent und wegen ihres Stringtangas ohne Konturunterbrechung durch den feinen Stoff der eng anliegenden, grauen Hose. Meine Frau war schön. Doch ich war angewidert – und froh, als sie ging.

    9  Beim Schmerztherapeuten

    Mein „Frohsinn" schwand, als ich ihren Wagen wegfahren hörte: Ich fühlte mich schlecht. Dies wunderte mich allerdings nicht, denn ich realisierte im gleichen Moment, dass ich sie nach wie vor liebte, obschon ich nach wie vor nicht hätte sagen können, warum. Diese widersprüchliche Emotionslage hatte mich seit der Trennung einige Male gestört, ja, geschaudert hatte es mich.

    In einem Gefühl des Angewidertseins wuchtete ich mich auf, trottete zur Terrassentür, und schaute nach draußen. Einige Holzscheite lagen verstreut auf den vermoosten Waschbetonplatten. Vor dem Terrassengeländer hatte Mutter einen Stapel frisch gespaltenen Holzes aufgeschichtet. Ich dachte:

    Ja, zerhackt fühlte ich mich. Desintegriert. Inkomplett. Erstaunen erfasste mich. Warum sollte ich mich nach der Trennung weniger komplett fühlen als davor?

    Erneut angewidert riss ich mich aus dem Gedanken, griff mir, mit mir und überhaupt allem unzufrieden, Telefon und „Gelbe Seiten", und begann, mich nach einem Paartherapeuten zu erkundigen. Als schwierig stellte sich heraus, einen Beziehungsklempner zu finden, der einen Termin in der Vorweihnachtszeit frei hatte, was auch daran lag, dass es Sonntag war. Die meisten waren also gar nicht zu erreichen. Schließlich hatte ich Erfolg: Mir fiel ein Kollege ein, der mir vor Jahren eine Paartherapeutin empfohlen hatte. Ich rief ihn an, er gab mir die Privatnummer der Dame, ich versuchte mein Glück – und hatte Glück. Gerne würde sie einem Freund von Professor Metzger helfen, meinte sie.

    Ich kontaktierte meine Frau zwecks Terminabstimmung. Wir einigten uns auf den nächsten Tag, den 22. Dezember um acht Uhr am Abend. Und ich hoffte wieder!

    Die Zeit bis zu diesem „paartherapeutischen" Termin floss wie ein Kuhfladen auf dem Flachdach an mir vorbei. Zum Glück hatte ich vorher das Date mit meiner Frau auf dem Einwohnermeldeamt. So ginge die Zeit schneller vorbei!

    Meine Frau hatte mich für dieses Date abgeholt, was ich nett fand, denn bis Mainz war es eine Stunde Fahrt. Der Besuch auf diesem Amt war derart nichtssagend gewesen, dass ich ihn schon zehn Minuten später kaum erinnerte. Ich wusste lediglich, wie mich eine verdorrte Büroschabe gefragt hatte, ob ich mir „diesen Teil da angeschaut hätte. (Sie hatte sich, glaube ich, auf den Abschnitt eines Formulars bezogen.) Ich hatte bejaht, weil ich keine Lust gehabt hatte, mir „diesen Teil da tatsächlich durchzulesen, und mich gefreut über das Unpräzise der Formulierung („diesen Teil da angeschaut!), denn gestreift hatte mein Blick das Papier und somit „diesen Teil da schon und ich hätte nicht gerne gelogen, da dies nicht meine Sache war). Die Schabe lächelte wie nach drei Lindan auf ex und meinte, dann solle ich gleich mal da unterschreiben. Ich unterschrieb da und hoffte im gleichen Moment, doch bitte keinen Fehler gemacht zu haben, doch bitte keinen Staubsauger bestellt zu haben. Meine Frau lächelte und wir verließen das Gebäude.

    Draußen sagte sie mir, sie sei etwas knapp dran. Ich wusste, dass sie sich nicht auf die Zeit bezogen hatte, und gab ihr ein paar Scheine. Tausend Euro, glaube ich. Sie bedankte sich und ich fragte, ob sie mich bei „Schmück", einem Autoverleih am Stadtrand von Mainz, absetzen könne. Sie bejahte und ich bedankte mich.

    Auf der Fahrt zu Schmücks erkundigte ich mich, ob ich am Abend eine Stunde früher kommen solle. So könne ich mich mit den Kindern verlustieren und ihnen ihre Weihnachtsgeschenke geben. Wieder blähten sich die Nüstern: Das gehe jetzt aber überhaupt nicht. Das würde zu viel Unruhe schaffen. Es sei schon genug, dass sie mich zu dieser Paartherapeutin begleite. Weitere „Irritationen" wolle sie jetzt einfach vermeiden. Ich bohrte nicht nach, um eine zu große Anspannung vor unserer paartherapeutischen Sitzung zu vermeiden. Aber unterdessen störte mich diese Hinhaltetaktik, was die Kinder anging, erheblich.

    Wollte Magnolia nicht, dass ich die beiden sehe?

    Beinahe hätte ich mir einen schwarzen „Alfa Romeo Spider bei Schmücks geliehen. Einen „Spider (in Rot allerdings) hatte ich selbst einmal gehabt, als ich Arbeitsgruppenleiter an der Mainzer Uni gewesen war. Eine aus weiter Ferne hallende Stimme, die mich an meine Frau erinnerte, sagte mir jetzt aber „tu’s nicht! und „willst du das Geld zum Fenster rauswerfen?. Nach kurzem innerem Zwist widerstand ich der Versuchung und mietete mir einen silberfarbenen „VW Polo". Schließlich ging es darum, dass ich beweglich war. Auch

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1