Lebenskunst und Lebensglück
Von Carl Hilty
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Buchvorschau
Lebenskunst und Lebensglück - Carl Hilty
Vorwort
Carl Hilty (1833–1909), der von manchen als der Schweizer Philosoph schlechthin angesehen wird, war eigentlich Rechtsanwalt, später Staatsrechtsprofessor, Nationalrat und Leiter der Schweizer Militärjustiz. Das »Philosophieren« war für ihn stets Nebenberuf, und man merkt seinen Gedanken an, dass sie nicht in der Gelehrtenstube entstanden sind, sondern mitten im Leben. Trotz des Idealismus, der sie durchzieht, lassen seine Sätze den klaren, unbestechlichen Blick des Juristen erkennen, der das Wesen der Dinge erfasst und sich nicht vom Schein blenden lässt. Und man spürt dahinter den Anwalt und Politiker, der durch seine Tätigkeit mit Menschen unterschiedlichster Herkunft in Berührung gekommen ist.
Im Gegensatz zu vielen anderen deutschsprachigen Philosophen hat Hilty keinen Hang zu komplizierten Gedankengebäuden und theoretischen Spekulationen. Für ihn besteht die Aufgabe der Philosophie nicht darin, die Welt zu ordnen, sondern darin, die Menschen zu einem glücklicheren Leben zu befähigen — was erfahrungsgemäß nicht dasselbe ist. Zeitlebens hat Hilty die Frage beschäftigt, worin das Lebensglück eigentlich besteht und wie man es erreicht, und es ist nur folgerichtig, dass das Hauptwerk seiner ethischen Schriften den schlichten Titel »Glück« trägt. Das Werk ist kein systematisches Lehrbuch, sondern eine Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen, die bei unterschiedlichen Gelegenheiten entstanden sind und sich dem breiten Thema aus verschiedenen Blickwinkeln nähern.
In dem hier vorliegenden Buch sind fünf Aufsätze aus dem ersten und zweiten Band von »Glück« zusammengestellt. Sie befassen sich mit der eher praktischen Seite des Glücks, mit dem Können oder, wie Hilty es meist nennt: mit der Kunst. Das Glück selbst lässt sich nach seiner Auffassung nicht in feste Regeln fassen. Aber durchaus lehr- und lernbar ist, wie man in seinem Leben den Boden bereitet, auf dem Glück gedeiht, wie man Glückshindernisse erkennt und beseitigt — und genau darum geht es auf den folgenden Seiten.
Wer nur »wissen« und klug über den Gegenstand reden will, wird aus der Lektüre keinen Gewinn ziehen. Aber wer für sich selbst nach mehr Glück sucht und innerlich bereit ist, in seinem Leben etwas zu ändern, für den können Hiltys Texte eine Goldgrube sein.
Martin Wandelt
Die Kunst des Arbeitens
Kunst des Arbeitens ist von allen Künsten die wichtigste, denn würde man sie einmal recht verstehen, würde damit jedes andere Wissen und Können unendlich erleichtert werden. Doch ungeachtet dieser Tatsache gibt es nur verhältnismäßig wenige Menschen, die richtig zu arbeiten verstehen. Die Allgemeinheit neigt eher dazu, möglichst wenig oder nur für eine kurze Zeit im Leben zu arbeiten, den übrigen Teil dagegen in Ruhe zuzubringen.
Aber sind Arbeit und Ruhe wirklich Gegensätze, die sich ausschließen? Diese Frage wollen wir zunächst untersuchen; denn mit dem bloßen Lob der Arbeit, zu dem jeder bereit ist, kommt noch nicht die Lust zum Arbeiten. Die Arbeitsunlust ist vielmehr ein so verbreitetes Übel, dass man beinahe von einer Krankheit der modernen Völker sprechen kann. Ein jeder versucht, sich so bald wie möglich der theoretisch gepriesenen Sache praktisch zu entziehen, und deshalb kann von einer Verbesserung der sozialen Zustände gar nicht die Rede sein. Diese Zustände wären in der Tat unheilbar, wenn Arbeit und Ruhe Gegensätze wären.
Denn nach Ruhe sehnt sich jedes Menschenherz. Der Geringste und Einfältigste kennt dieses Bedürfnis, und auch der zum Höchsten strebende Geist sucht nicht ewige Anstrengung. Selbst die Fantasie hat für ein späteres, glücklicheres Dasein kein anderes Wort gefunden als das der »ewigen Ruhe«. Wäre die Arbeit notwendig und die Ruhe ihr Gegensatz, dann wäre das Bibelwort: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« ein Wort des bitteren Fluchs, und die Erde wäre wirklich ein Jammertal. Denn in jeder Generation könnten dann immer nur einige Wenige ein menschenwürdiges Dasein führen, und auch diese — worin der eigentliche Fluch liegt — nur dadurch, dass sie ihre Mitmenschen zur Arbeit zwingen und in der Knechtschaft der Arbeit halten.
So sahen es in der Tat die Schriftsteller der antiken Welt an: Die harte, hoffnungslose Arbeitssklaverei von Vielen verschaffte einem Einzelnen die Mittel, um als freier Bürger eines politisch gebildeten Staatswesens zu leben. Und noch im neunzehnten Jahrhundert haben die Bürger einer großen Republik, an ihrer Spitze sogar christliche Geistliche mit der Bibel in der Hand, den Satz verfochten, dass gewisse Menschenrassen zur Arbeit für andere auf ewige Zeiten hinaus erblich verurteilt seien.
Kultur wächst nur auf dem Boden des Reichtums, Reichtum nur durch Kapitalansammlung und Kapital nur aus der Arbeit anderer, die dafür nicht den richtigen Lohn erhalten, folglich aus Ungerechtigkeit. Das sind ja die Sätze, die heute im Vordergrund der Diskussion stehen. Ich will sie hier nicht auf ihre relative oder vollständige Wahrheit prüfen, sondern nur soviel als wahrscheinlich behaupten: Würden alle Menschen richtig arbeiten, wäre die sogenannte soziale Frage gelöst, und auf einem anderen Weg wird sie überhaupt nicht gelöst werden. Mit bloßem Zwang kann das aber kaum erreicht werden, und selbst wenn die physischen Mittel eines Zwanges aller gegen alle immer vorhanden wären, entstünde daraus keine fruchtbare Arbeit. Es kommt vielmehr darauf an, im Menschen die Lust zur Arbeit zu wecken, und damit kommen wir wieder auf den richtigen »pädagogischen« Boden.
Die Lust zur Arbeit wecken
Die Arbeitslust kann nicht anders entstehen als durch Überlegung und Erfahrung, niemals durch Lehre, und — wie sich leider täglich zeigt — auch nicht durch Beispiel. Die Erfahrung führt aber jeden, der es an sich selbst erproben will, zu folgenden Erkenntnissen:
Die Ruhe, die der Mensch sucht, findet er nicht in völliger oder möglichst großer Untätigkeit von Geist und Körper, sondern nur in einer angemessen geordneten Tätigkeit der beiden. Die ganze Natur des Menschen ist auf Tätigkeit eingerichtet, und sie rächt sich, wenn er das willkürlich ändern will. Der Mensch ist aus dem Paradies der Ruhe verstoßen; aber Gott hat ihm mit dem Befehl zur Arbeit auch den Trost gegeben, dass diese notwendig ist. Die wirkliche Ruhe entsteht nur inmitten der Tätigkeit: geistig durch den Anblick eines gedeihlichen Fortgangs der Arbeit oder der Bewältigung einer Aufgabe; körperlich durch die natürlich gegebenen Ruhepausen, während des täglichen Schlafs, des täglichen Essens und in der unersetzlichen Ruhe-Oase des Sonntags.
Ein solcher Zustand einer beständigen, fruchtbaren, nur durch diese natürlichen Pausen unterbrochenen Tätigkeit ist der glücklichste, den es auf Erden gibt; der Mensch soll sich gar kein anderes äußeres Glück wünschen. Ja, man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und hinzufügen: Es kommt dann nicht einmal so sehr auf die Art der Tätigkeit an. Jede wirkliche Tätigkeit, die nicht bloß Spielerei ist, hat die Eigenschaft, interessant zu werden, sobald sich der Mensch ernstlich in sie vertieft; nicht die Art der Tätigkeit macht glücklich, sondern die Freude des Schaffens und Gelingens.
Das größte Unglück, das es gibt, ist ein Leben ohne Arbeit, ein Leben, an dessen Ende keine Frucht der Arbeit steht. Daher gibt es auch (und muss es geben) ein Recht auf Arbeit; dies ist sogar das ursprünglichste aller Menschenrechte. Die »Arbeitslosen« sind die wahren Unglücklichen in dieser Welt, doch sie sind zahlreich, in den sogenannten oberen Ständen sogar noch zahlreicher als in den unteren. Denn die Letzteren werden durch die Notwendigkeit zur Arbeit getrieben, während die Anderen durch falsche Erziehung, Vorurteil und die allmächtige Sitte, die in manchen Kreisen die eigentliche Arbeit ausschließt, fast hoffnungslos und erblich zu dem Unglück der Arbeitslosigkeit verurteilt sind.
Wir sehen ja jedes Jahr, wie sie ihre innere Öde und Langeweile auch in unsere Schweizer Berge und Kurorte tragen, von denen sie vergeblich Erfrischung erwarten. Ursprünglich genügte ihnen noch der Sommer, um sich durch körperliche Anstrengung wenigstens vorübergehend von ihrer Krankheit, dem Müßiggang, zu erholen. Nun müssen sie auch noch den Winter dazu nehmen, und demnächst werden die Spitäler, zu denen sie unsere schönsten Täler gemacht haben, das ganze Jahr für diese unruhige Menge offen sein, die überall Ruhe sucht und sie nirgends findet — weil sie sie nicht in der Arbeit sucht.
»Sechs Tage sollst du arbeiten«, nicht weniger und nicht mehr. Mit diesem Rezept würden die meisten nervösen Krankheiten unserer Zeit geheilt werden (soweit sie nicht bereits der Fluch einer Abstammung von arbeitslosen Eltern sind) und die meisten Kurärzte und Irrenärzte ihre Praxis einbüßen. Das Leben soll man überhaupt nicht genießen, sondern fruchtbringend gestalten wollen. Wer das nicht einsieht, hat bereits seine geistige Gesundheit verloren, und er wird auch die körperliche nicht in dem Maße behalten, wie es bei richtiger Lebensart möglich wäre. Unser Leben währt siebzig und, wenn es hochkommt, achtzig Jahre, und wenn es Mühe und Arbeit gewesen, dann ist es