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Ein Gewisses Risiko
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eBook370 Seiten4 Stunden

Ein Gewisses Risiko

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Über dieses E-Book

Nicht nur der Beruf im diplomatischen Dienst, durch den man die Welt und die Menschen besser als im heimischen Nest kennen lernt, auch das Privatleben in dieser Zeit kann für Überraschungen sorgen. Die Welt, so lernt man schnell, ist unberechenbar. Und so das eigene Leben - und das des Nächsten. Das Interessante und Unvergessliche zu filtern und in eine Buchform zu gießen, ist Inhalt der vorliegenden Erzählungen und Kurzgeschichten. Der Autor ist ehemalige Mitarbeiter es Diplomatischen Dienstes, der mehr als 30 Jahre in den verschiedensten Ländern seinen Dienst versah. Viele Geschichten in diesem Buch handeln von Erlebnissen in diesen Ländern, unter anderem Saudi Arabien, Schottland und den Philippinen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum15. Okt. 2016
ISBN9783741857980
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    Buchvorschau

    Ein Gewisses Risiko - Dietrich Schönfelder

    EIN GEWISSES RISIKO

    Erzählungen und Kurzgeschichten

    Dietrich Schönfelder

    Inhaltsverzeichnis

    Das Horoskop

    Die Farben des Herbstes

    Ein Geschenk des Himmels

    Das Vier-Meilen-Riff

    Der arme Dagobert

    In Memoriam

    Ein gewisses Risiko

    Helenas Beichte

    Grabesstille

    Steppenlied

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Zu diesen Erzählungen und Kurzgeschichten

    Der Autor ist pensionierter Mitarbeiter des Deutschen Auswärtigen Dienstes. Zurzeit lebt er auf den Philippinen. Als Maler und Schriftsteller geht er dort seinen ursprünglichen Berufsträumen nach.

    36 Jahre seines Berufslebens arbeitete er an deutschen diplomatischen Vertretungen im Ausland, vorwiegend in Asien. Dabei passte er sich den jeweiligen Kulturkreisen an, lernte die jeweilige Lebensweise der Einheimischen kennen und schloss Freundschaften. Dies auch mit den am jeweiligen Ort lebenden Deutschen und Ausländern.

    Erlebtes und Erzähltes wird in den vorliegenden Geschichten festgehalten. Wobei diese mit eigenen Zusätzen, erdachten Fortsetzungen und Folgerungen angereichert wurden.

    Eine interessante und lesenswerte Mischung aus Dichtung und Wahrheit.

    Das Horoskop

    Hermann Jost war so gut gelaunt wie lange nicht mehr. Entspannt saß er auf einem der bequemen, ausholenden grün-weiß gestreiften Sessel des „Café Noir" und paffte bereits den dritten Zigarillo. Gedankenversunken pustete er den Rauch an die Decke und beobachtete aus den breiten Fensterflächen das bunte, hektische Treiben draußen auf der Mabini-Street.

    Angenehme Kühle umgab ihn und er hatte soeben den Entschluss gefasst, diese noch ein Weilchen zu genießen. Es war ein heißer Tag, stickig-schwül dazu, Hermanns schweißgetränktes, weißes Hemd begann erst jetzt zu trocknen. Grund zur Hast gab es zudem nicht. Die heutigen Geschäftstermine lagen bereits hinter ihm.

    Übrigens verliefen die Tage hier in Manila ganz ohne Komplikationen. Die Warnungen gut meinender Freunde vor der Abreise, in diesem Land auf böse geschäftliche oder sonstige Rückschläge oder Situationen vorbereitet sein zu müssen, waren für ihn völlig unbegründet. Seine philippinischen Geschäftspartner erwiesen sich als kenntnisreich, professionell und auch als überaus sorgende Gastgeber.

    Hermann hielt sich bereits den vierten Tag in dieser Metropole auf und plante den Rückflug am Abend des übernächsten Tages. Und entsprechend veranlasste er auch seine Buchung. Das Gefühl der Zufriedenheit des Geschäftsmannes rührte nicht nur von erfolgversprechenden Verhandlungen. Es war sein erster Besuch auf den Philippinen und seiner Hauptstadt, dieser Zwölf-Millionen-Metropole. Denn er fühlte sich auch sonst wohl.

    An kleinere, überschaubarere Verhältnisse gewohnt, faszinierte ihn das 24-stündige, von ständiger Unruhe beherrschte Leben auf den Straßen, auch die Grobheit der Teilung zwischen Arm und Reich. Die Freundlichkeit der Bevölkerung, das Schattendasein in der Nacht. Wenn Bars, Casinos und Restaurants noch weit nach Mitternacht von Besuchern zu bersten schienen. Dunkle Geschäfte, er vermutete es, wurden in den Winkeln der Straßen und Häuser geschlossen, darauf abzielende Angebote ihm hinterher gerufen.

    „Hey, Joe, want my sister?", oder Bruder, oder was auch immer. Es war unvorstellbar für Hermann, wenn er dabei an seine mitteldeutsche Kleinstadt dachte.

    „Noch einen doppelten Espresso, Sir?"

    Eine der jungen, freundlich-lächelnden Angestellten des Cafés stand neben ihm, weckte ihn aus seiner Träumerei. Ein hübsches Mädchen zudem, Cappuccino-braun mit langen, glänzend-schwarzen Haaren. Sie trug einen kurzen, schwarzen Rock, über den eine kleine, modisch gestickte weiße Schürze gebunden war.

    Hermann war verwirrt, hatte er doch beim Eintreten, auch des schweißnassen Hemdes wegen, für Schönheiten kein Auge. Nur auf die Kühle konzentrierte er sich. Zu sehr war er mit sich und der vorangegangenen Unbequemlichkeit in der Schwüle des Nachmittags beschäftigt.

    „Ja, bitte!" Es klang fast ein wenig verlegen.

    Dabei war Hermann alles andere als schüchtern. Hoch gewachsen, hatte er sich, trotz fortgeschrittenen Alters, im letzten Dezember wurde er 55, eine unübersehbare Jugendlichkeit bewahrt. Der schlanke Körper und die muskulösen Arme ließen vermuten, dass er immer noch sportlich aktiv war. Auch die unvermeidlichen, von der Natur jedoch sorgsam verteilten Falten in seinem jetzt gebräunten Gesicht, machten es dem Betrachter schwer, sein Alter zu bestimmen. Hinzu kam ein gepflegter, voller Haarwuchs, der, schwarz-grau meliert, einen wohlgeformten Kopf bedeckte.

    Was seinen Charakter anbelangte, war Hermann ein außergewöhnlich umgänglicher Zeitgenosse. Umsichtig und verantwortungsbewusst führte er sein Leben, vergaß dabei aber nicht, auch die Freuden auszukosten. In Maßen natürlich. Er war ein geduldiger, interessierter Zuhörer und wurde selbst dann nicht barsch oder gar zynisch, wenn sich eine Konversation zur Qual entwickelte.

    Aufgebracht, fast ärgerlich wurde er nur, wenn andere seinen Namen nicht vokalgerecht aussprachen „Jooost! verbesserte er dann unverzüglich den verdutzten Gesprächspartner, also mit langem, gedehntem „O. Wer immer, auf der anderen Seite, dieses „O" zufällig korrekt wider gab, konnte sich eines Vertrauensvorschusses sicher sein.

    Hermann war sich seines vorteilhaften Aussehens durchaus bewusst und es erfüllte ihn mit Genugtuung, wenn hier und da ein anerkennender Blick der jungen oder auch älteren Frauen auf ihn gerichtet wurde.

    Was ihn in dieser Stadt irritierte, war die Ungezwungenheit, mit der so manche Schönheit den Augenkontakt suchte, dazu einladend lächelte und zu suggerieren schien, man kenne und schätze sich bereits. Es fehlte nur noch das Gespräch. Die Versuchung, sich eines dieser Geschöpfe näher anzusehen, war also groß.

    Doch Hermann blieb stark, zumindest unentschlossen. Schließlich führte er eine zufriedenen Ehe, kinderlos zwar, die am Tage seiner Rückkehr einen anerkennenswerten Höhepunkt erreichen sollte: 25 Jahre dauerhaften Eheglücks, die silberne Hochzeit. Dabei dachte der Geschäftsreisende an die vielen Verwandten und noch zahlreicheren Freunde, die zur großen Feier eingeladen waren.

    Und natürlich an Sarah, seine Ehefrau, die zuhause mit den Vorbereitungen beschäftigt sein würde. Er nahm sich vor, sie später vom Hotel aus anzurufen. Sie wurde von ihm verwöhnt und musste auf dem Laufenden gehalten werden. Zwei Tage ohne seinen Anruf, Hermann würde Gefahr laufen, ihren Zorn auf sich zu ziehen. Und davor hütete er sich.

    In den Jahren des Zusammenlebens entwickelte er eine überzeugende Strategie, sie trotz aller Unbill, wie sie im Leben eines Mannes so vorkommen, immer wieder gütlich zu stimmen. Einer der Trümpfe, die er sich jetzt für den Fall der Fälle bewahrte, waren die guten Verhandlungsergebnisse mit seinen Geschäftspartnern. Der andere war gewichtiger, und es bereitete Hermann eine fast diebische Freude, wenn er daran dachte.

    Vor zwei Tagen erstand er ein der Feierlichkeit angemessenes, eher sogar darüber hinaus gehendes Geschenk. Von seinen viel gereisten Geschäftsfreunden wurde ihm berichtet, dass zuverlässiger und bestens verarbeiteter Schmuck wesentlich günstiger in Asien als in Europa erworben werden könne. Und so machte sich Hermann auf ins Zentrum der Stadt und suchte in den feinen und feinsten Läden nach einer passenden Preziose

    Schließlich wurde er fündig. Sich letztendlich zum Kauf zu entscheiden, dauerte zwar eine Weile. Es war ein außergewöhnlich feines, gut verarbeitetes, dafür aber auch kostspieliges Halsband, das er nach langem Zögern erwarb. So verführerisch, von weißem Tuch umgeben,  lag es auf der Vitrine, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte.

    Hermann traf eine mutige Entscheidung und er bereute es nicht. Er erhielt ein Zertifikat, fertigte zur Vorsicht noch ein Foto seines Neuerwerbs an und verwahrte alles im Safe seines Hotelzimmers.

    „Noch einen Kaffee, Sir?"

    Der zweite Kaffee war getrunken. Hermann blickte hoch in das junge, freundlich lächelnde Gesicht und überlegte, ob er gehen oder sich in der wohltuenden Kühle noch ein wenig aufhalten sollte.

    „Ach, bringen Sie mir doch bitte einen kühlen Orangensaft!"

    Dabei erwiderte er ihr Lächeln und es war ihm eine Freude, die Kleine in ihrem reizenden, wippenden Kleid davon gehen zu sehen.

    Hermann richtete den Blick wieder auf die belebte Straße vor den großen Fenstern. Auf die wechselnde, bunt gemischte Menschenmenge, auf die vielen kleinen Geschäfte, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite dicht an dicht drängten. Allein in seinem begrenzten Blickfeld zählte er acht unterschiedliche Kleinunternehmer. Wobei er die fliegenden Zigaretten-, Lotterie-, Obst- und Spielzeugverkäufer gar nicht mitzählte. Eine Karaoke-Bar, daneben der Friseur, ein sorgfältig dekorierter Obst- und Gemüseladen, eine schmutzig-graue Reparaturwerkstatt für Motorräder, eine Gesundheits-Klinik ……

    Der größte Laden, weiter rechts gelegen, wurde von einem Uniformierten mit großkalibrigem Gewehr bewacht.

    „L´HULLIERE stand in großen, roten Plastikbuchstaben über dem Eingang. Darunter, klein und in gelber Schrift gehalten, „PAWNSHOP. Ein Pfandleihhaus also. Auch hier konnte er ständiges Gehen und Kommen der Kundschaft beobachten. Hermann war dieser für das Land sehr untypische Name schon häufiger aufgefallen. Auf fast jeder belebten Straße entdeckte er einen dieser Läden. Eine offensichtlich lukrative Handelskette, die ihr Geld mit der Not der Menschen verdiente.

    Plötzlich bemerkte er, wie eine auffallend elegant und stolz wirkende Frau aus der geöffneten Tür des Pfandleihhauses trat. Sie war groß, selbst aus der Entfernung hübsch, und trug ein taubenblaues, kurzes Kostüm. Ihre blonden Haare, schulterlang, fielen ihm sofort ins Auge.

    Ob sie eine Fremde war? Ihr Alter konnte Hermann nicht bestimmen, dafür saß er zu weit entfernt von ihr. Hätte er raten müssen, er hätte sie auf etwa dreißig, vielleicht Mitte dreißig, geschätzt. Sie wandte den Kopf schnell nach links, dann in die entgegengesetzte Richtung. So, als wollte sie sich vergewissern, ob jemand sie beobachtete. Vielleicht suchte sie auch nur nach jemandem. Oder, Hermann erfasste auch dieser Gedanke, schämte sie sich, gesehen zu werden.

    Dann setzte sie sich eine Sonnenbrille auf und mit unerwartet schnellen Schritten entfernte sie sich aus seinem Blickwinkel. Arme Frau, dachte Hermann. Jedem kann es irgendwann einmal erwischen. Meist sind es tragische Hintergründe, die selbst die einmal zu Wohlstand gekommenen zwingen, den Fuß in ein Pfandleihhaus setzen zu müssen.

    Inzwischen hatte sich das Café mit weiteren Gästen gefüllt. Es war später Nachmittag, nur noch wenige Stühle und Sessel waren unbesetzt.

    An Hermanns Nachbartisch schnatterten vier ältere, ausgelassene Damen. Ihr Kommen hatte er nicht bemerkt, erst die Stimmen machten ihn darauf aufmerksam. Mit einem kurzen Blick erkannte er die noble, aber unaufdringliche Kleidung der vier. Es wurde mädchenhaft gekichert und der Nachbarin mit vorgehaltener Hand etwas zugeflüstert. Die Augen mal der einen, dann der anderen, waren auf Hermann gerichtet. Er merkte es und war darüber amüsiert. Aber sein Entschluss, zurück ins Hotel zu gehen, war bereits gefasst.

    Er rief nach dem weißgeschürzten Mädchen, zahlte mehr als der Kassenzettel forderte und verließ mit einem dem Nachbartisch geltenden freundlichen Lächeln und einen „good bye" seinen wohlig kühlen Platz.

    Den Temperaturunterschied vor der Eingangstür hatte er erwartet. Mit einem Schlag war es wieder heiß und schwül, und es würde nur weniger Schritte bedürfen, bis ihm wieder der Schweiß aus den Poren trat.

    Doch der Weg zu seinem Hotel war kurz. Es lag nur zwei Ecken weiter zu seiner Rechten. Zwar keines dieser Fünf-Sterne-Hotels im Banken-, Einkaufs- und Wohlstandszentrum Makatis, jedoch eine saubere, moderne Unterkunft mit allen Annehmlichkeiten, die erwartet werden konnten.

    Hermanns Geschäftsfreunde hatten es ausgesucht, da sich dieses Hotel unweit der Hauptniederlassung ihres Geschäftes befand.

    Sie wollten dem Gast die Mühsal des täglichen Verkehrschaos ersparen.

    Hermann schlenderte die belebte Geschäftsstraße hinunter, sah sich neugierig die kleinen, offenen Verkaufsräume an und erreichte bald die alte Mabini-Kirche. Schon seit Jahren hätte sie repariert werden müssen. Aber erst jetzt zeigte ein breites und hohes Stahlgerüst, teilweise mit blauen Plastikplanen bedeckt, dass die Renovierungsarbeiten begonnen hatten.

    Gegenüber der Kirche bog Hermann in die schmale St. Thomas Street, in deren Mitte sich sein Hotel befand. Mit dem rötlichen Marmor, der die Fassaden bedeckte, hob es sich deutlich und wohltuend von den vernachlässigten sonstigen Bauten der Straße ab. Große Fensterfronten erlaubten einen Blick in die modern ausgestattete Lobby.

    Heilfroh, der stickigen Außenluft den Rücken kehren zu können, betrat er die von einem Pagen geöffnete gläserne Eingangstür. Er ging zur wenige Meter entfernten Rezeption und bat um seinen Schlüssel. Es war Zeit, das Überseegespräch zu führen, Sarah wartete. Mit dem augenblicklichen Zeitunterschied von 6 Stunden ist es zuhause etwa elf Uhr morgens sein, eine Stunde, in der sie das Haus gewöhnlich noch nicht verlassen würde.

    Kurz vor dem Aufzug, der Hermann hoch in den vierten Stock bringen sollte, hielt er inne. Er hatte heute noch keine Zeitung gelesen. Also machte er eine Kehrtwendung und ging gemächlich in Richtung des Geschenkeladens, der auch internationale Tageszeitungen verkaufte. Die große Eingangshalle des Hotels bot alles, was dem Reisenden die Fremde erträglicher machte.

    Eine ausreichend große, mit gemütlichen Sesseln ausgestattete Ecke fürs Sitzen, Warten oder Plaudern. Ein angrenzendes kleines Café mit sorgfältig dekorierten Süßigkeiten und Teigwaren. Eine Bar, die sich entlang der entfernteren Wand, gegenüber dem Café, über die ganze Länge des Raumes hinzog.

    Und eben dieser Geschenke- und Zeitungsladen.

    Hermann zog das letzte Exemplar einer internationalen Tageszeitung aus dem Regal und legte die abgezählten Peso-Scheine auf die kleine Verkaufstheke. Gut gelaunt vor sich hin summend, auf einen ruhigen Abend vorbereitet, wandte er sich ab, um nun endgültig sein Zimmer aufzusuchen.

    Doch plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Ungläubig starrte er hinüber zum Café, die Zeitung drückte er fest mit beiden Händen. Saß dort nicht die Frau, die vor Minuten noch das Pfandleihhaus verlassen hatte? Sie war nicht weiter als sechs oder sieben Schritte von ihm entfernt. Mit strumpflosen, übergeschlagenen Beinen, er sah es genau, in ihrem taubenblauen Kostüm. An einem der runden, gusseisernen Kaffeetische. In ihren Händen hielt sie eine Tasse, führte sie langsam an den roten Mund und es schien, als würde sie Hermann dabei ansehen. Der Entfernung wegen war dies eher eine Vermutung, ihr Blick hätte durchaus auch träumerisch ins Leere gehen können.

    Hermann stand wie versteinert in der Mitte der Lobby, geblendet von der Eleganz und natürlichen Schönheit dieser Frau. Obwohl er keineswegs zu der Sorte Mensch zählte, die jeden daher kommenden Zufall als Zeichen des Himmels oder auch des Teufels deuteten – hier wurde er doch nachdenklich.

    Erst seine Bewunderung für sie am Nachmittag, das Mitleid, das er für sie empfand, in ein Pfandleihhaus gehen zu müssen. Und nun ihre erneute Gegenwart, nur wenige Schritte von ihm entfernt.

    Für einen Moment war er unschlüssig, auch dachte er wieder an den überfälligen Anruf.

    Dann ging er langsam, als würde ein Puppenspieler ihn führen, auf sie zu. Mit beiden Händen immer noch fest die Zeitung umfassend. Eine feste Entscheidung für diesen Entschluss traf er nicht, alles war noch umkehrbar. Er hätte beispielsweise an ihrem Tisch vorbei laufen können, ohne ein Wort zu sagen.

    Zu seiner großen Enttäuschung bemerkte Hermann, nun neben ihr stehend, dass sie tatsächlich nur ins Leere blickte. Träumend oder grübelnd, er konnte es sich aussuchen.

    „Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ihr Blick scheint so verloren, verheißt nichts Gutes!"

    Die Entscheidung war also getroffen. Aber war er es, der da sprach?

    Erschrocken blickte die Schöne hoch zu Hermann, als hätte er sie soeben aus tiefen Träumen oder wichtigen Gedanken entführt. Aber ihr Blick war nicht böse, und ein verführerisches, unschuldiges Lächeln beruhigte den mutigen Freier.

    „Ja, bitte. Ich habe nichts dagegen!"

    Bei diesen Worten nahm sie ihre Hand von der Tasse, stützte mit dieser ihr wohlgeformtes Kinn und blickte Hermann fragend an. Dieser rang nach Worten und Gedankenblitzen, bis er schließlich glaubte, das Richtige zu tun. Er erklärte sich als einfachen, interessierten Touristen. Sprach über seine Eindrücke, die er beim ersten Anblick verspürte, als er sie vom Fenster des Café Noir aus auf der Mabini-Street beobachtete. Auch das Pfandleihhaus erwähnte er. Kaum, dass Hermann zu Ende sprach, traf ihn eine unerwartete Reaktion. Mit leicht zitternder Hand stellte sein Gegenüber die Tasse auf den Tisch und, für einen Augenblick, ließ ein eindringlicher Blick auf ihn nichts Gutes erwarten.

    Dann senkte sich der Blondkopf vor ihm, die langen Haare verdeckten das Gesicht und die Hände verschwanden unter dem Tisch.

    Hermann hätte sich ohrfeigen können.

    „Hören Sie, junge Frau, es war nicht meine Absicht, Sie zu verletzen oder zu kränken!"

    Wie konnte er eine Unterhaltung nur mit diesem Thema beginnen? Aber es war typisch für ihn. Die Wahrheit sagen, auch wenn sie unpassend, gar undiplomatisch war. Hinzu kam sein Bedürfnis, diesem Geschöpf helfen zu wollen.

    Irgendwie ahnte er instinktiv, dass sie sich in einer Notlage befand.

    „Wissen Sie, fuhr er unbeirrt fort in der Überzeugung, diesmal das Richtige zu sagen „jedem von uns kann das Schicksal irgendwann einmal ins Pfandleihhaus führen. Das Leben spielt mit uns. Und wir sind gezwungen, mitzuspielen.

    Die Hübsche hob langsam ihren Kopf und mit einem leichten Schütteln befreite sie das Gesicht von ihren Haaren. Sie blickte Hermann  an, wobei ihre Augen funkelten wie Sterne in einer klaren, wolkenlosen Nacht.

    „Ich danke Ihnen, es waren beruhigende Worte. Aber wenn man in einer Situation ist wie ich sie zurzeit durchlebe, hilft auch dieser Trost wenig!"

    Es klang fast anklagend, aber offensichtlich hatte sie sich gefangen. Zögernd legte sie die schmalen Hände wieder um die Tasse und nippte am Rest des Kaffees.

    Dann, erst leise, fast unbeteiligt redend, dann lauter, auch aggressiver werdend, fuhr sie unvermittelt fort.

    „Ich sehe Sie hier zum ersten Mal und kenne Sie nicht! Sie hatten das Bedürfnis, hier zu sitzen und sprechen mich auf Probleme an, die Sie nicht interessieren sollten und auf die ich auch nicht weiter eingehen werde. Wer sind Sie und was wollen Sie?"

    Auf diesen unerwarteten verbalen Angriff war Hermann in keiner Weise vorbereitet. So erschrocken er im ersten Augenblick auch war, so deutlich spürte er, dass er das Thema wechseln musste.

    „Bitte, seien Sie mir nicht böse!"

    Dabei legte er die inzwischen völlig zerknitterte Zeitung vor sich hin und rückte mit dem Stuhl etwas näher an den Tisch.

    „Sie haben Recht, ich sollte mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Hermann Jost. Ich bin Geschäftsmann, komme aus Deutschland und reise übermorgen wieder ab. Nicht mehr und nicht weniger. Ich bin weder Heiratsschwindler, noch jage ich den Frauen hinterher. Mein einziger Wunsch war es, mich mit einer netten Vertreterin dieses Landes zu unterhalten. Obwohl ich mir gar nicht so sicher bin, ob ich Sie Ihres Aussehens wegen dazu zählen kann. Ihre Größe und auch die Farbe ihrer Haut und des Haares lassen eher auf eine Ausländerin schließen."

    Hermann sprach mit sanfter, überzeugender Stimme. Sein Gegenüber spürte es, das Misstrauen wich aus ihrem Gesicht und ein leichtes Lächeln umspielte wieder ihre vollen Lippen.

    „Ich bin Ihnen nicht böse, Hermann. Ich misstraue Ihnen auch nicht. Entschuldigen Sie, wenn ich ein wenig aggressiv wurde. Aber ich muss auf der Hut sein. Es gibt zu viele Haie hier, und als kleiner Fisch muss ich mich vorsehen. Übrigens heiße ich Elvira Gonzalez und ich bin Philippinerin."

    Sie reichte ihm ihre feingliedrige Hand, Hermann nahm sie und drückte sie leicht. Ein sanfter, glücklicher Schauer überkam ihn dabei.

    „Der Name hört sich nicht sehr philippinisch an, Elvira. Eher spanisch."

    Langsam, nicht ohne Bedauern, zog er seine Hand von der ihren.

    „Sie haben Recht, Hermann. Ein sehr spanischer Name sogar. Und nicht nur er ist Überbleibsel einer alten Kolonialzeit. Meine ganze Großfamilie lebt noch hier. Nur haben wir den Pass wechseln müssen. Aber wir sind nicht die einzigen."

    Hermann fühlte sich unsicher. Mit den Geschäften hier hatte er sich zwar intensiv befasst, mit der Geschichte des Landes jedoch überhaupt nicht. Er verspürte mit einem Mal das Gefühl der Unterlegenheit. Wie konnte er, ansonsten gut gebildet, sich eine solche Blöße geben?

    „Übrigens gibt es noch eine weitere europäische Minderheit hier im Lande."

    Elvira nahm ihre winzige Handtasche von der Schulter, öffnete den Verschluss und zog eine Schachtel Zigaretten hervor. Hermann rauchte nur gelegentlich und hatte kein Feuerzeug. Er entschuldigte dies.

    „Machen Sie sich keine Sorgen, Hermann, irgendwo habe ich meines hier versteckt."

    Sie fand das Gesuchte, ein silbernes, fein gearbeitetes Kleinod, zündete sich damit die Zigarette an und blies den Rauch genüsslich in die Luft. Dann legte sie die Arme auf die Marmorplatte und schien nachzudenken.

    „Was sagte ich gerade? Ach ja, es gibt eine weitere europäische Minderheit hier. Mir fällt es jetzt ein, weil Sie Deutscher sind. In den dreißiger Jahren, sie führte die Zigarette wieder an den Mund, kippte dann die Asche auf den Rand der Untertasse „hatten sich die Philippinen bereit erklärt, einen Teil Eurer Juden hier aufzunehmen. Tausende sind seinerzeit ins Land gekommen. Viele sind wohl nach Deutschland zurückgekehrt, viele werden nicht mehr leben. Und die Nachkommen, die im Lande blieben, sind auch Philippiner geworden.

    Dem überraschten Zuhörer war, als säße er in der Schule und hörte aufmerksam seiner Lehrerin zu. Plötzlich erinnerte sich Hermann an Todesanzeigen in den lokalen Tageszeitungen, die hin und wieder bekannte deutsche Namen enthielten und ihn für Augenblicke stutzig machten. Dies also war des Rätsels Lösung. Sein Respekt vor Elvira wuchs mit jedem Satz, der aus ihrem schönen Munde kam. Nicht nur war ihre Erscheinung außergewöhnlich, auch ihre Intelligenz war alles andere als durchschnittlich. Hermann genoss ihre Nähe, fühlte sich zu ihr hingezogen und vergaß darüber das doch so wichtige Telefongespräch.

    Hinter den großen Scheiben zur Straße hin sah er, wie die Abenddämmerung das gleißende Licht des Tages ablöste und die Straßenlampen angeschaltet wurden. Er konnte Elvira jetzt unmöglich verlassen und wagte eine Offerte.

    „Elvira, es ist für mich ein ganz besonderes Erlebnis, mit einer so interessanten Vertreterin dieses Landes zusammen sitzen zu dürfen. Und wenn ich ehrlich bin, so würde ich Ihnen gerne noch ein wenig zuhören. Ob ich Sie zu einem Abendessen einladen darf?"

    Elvira blickte den alternden Freier überrascht in die Augen, sagte nichts. Und Hermann hätte viel darum gegeben zu wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Für einen Moment war er verunsichert. Ihn irritierten die braunen Augen, deren Farbe er erst jetzt bemerkte. Glaubte er anfangs , eine gewisse Traurigkeit in ihnen erkannt zu haben, so schien es ihm für Augenblicke, als sprächen Kälte, gepaart mit Spott aus ihnen. Aber es waren wirklich nur Augenblicke und Hermann hätte sich genauso gut irren können.

    Schnell kehrte das herzliche Lächeln auf ihr Gesicht zurück. Sie blickte auf ihre zierliche, goldene Armbanduhr, überlegte kurz und nahm die Einladung schließlich an. Hermann war erleichtert, eine Absage hätte ihn getroffen.

    „Elvira, ich fühle mich in dieser durchschwitzten Kleidung nicht wohl. Ich kann Ihnen zwei Vorschläge machen. Entweder wir treffen uns später, sagen wir in zwei Stunden. Oder aber Sie sind geduldig und warten, bis ich mich umgezogen habe."

    Die Schöne überlegte nicht lange.

    „Hermann, ich wohne draußen im Stadtteil Alabang, Sie haben vielleicht davon gehört. Es liegt zehn bis zwölf Kilometer von hier entfernt. Ich würde mit Sicherheit zwei Stunden im Auto sitzen, ohne Dusche. Ich warte hier auf Sie. Außerdem verspreche ich Ihnen, dass es nicht weit von hier die schönsten und besten Restaurants der Stadt gibt."

    Herrmann konnte dies alles nicht fassen. Ungläubig lauschte er ihrem Vorschlag und sagte sofort zu. Er befand sich in geradezu euphorischer Stimmung, überschwänglich spurtete er die Stufen hoch zu seinem Zimmer. Zu ungeduldig war er, auf den Aufzug zu warten.

    Was für eine Frau, ging es ihm durch den Kopf! Eine Schande, sie nicht schon früher getroffen zu haben! Gleichzeitig aber war er froh, zumindest noch einen weiteren Tag, den Tag des Abflugs eingeschlossen sogar zwei, hier verbringen zu können. Aber am Abreisetermin am übernächsten Abend war nicht zu rütteln.

    Und wieder dachte er an den schon überfälligen Anruf! Sarah wartete! Aber der Zeitpunkt war absolut ungelegen. Einen Tadel seiner Frau würde er in Kauf nehmen müssen!

    Es dauerte keine zwanzig Minuten, und ein übermütiger, frischer Hermann war bereit, sich auf ein Abenteuer einzulassen. Er ordnete schnell sein Zimmer, denn selbst einen späteren Besuch schloss er jetzt nicht mehr aus. Und er bat telefonisch, eine Flasche französischen Rotweins mit zwei Gläsern während seiner Abwesenheit auf sein Zimmer zu bringen.

    Genüsslich strich er einige Tropfen seines Rasierwassers über Kinn und Wangen, nahm einen größeren Betrag Bargeld aus seinem kleinen Safe, schloss diesen sorgfältig und ging zur Tür. Am Wandspiegel davor blieb er einen Augenblick stehen. Kritisch begutachtete er seine Kleidung, gab sich einen Klaps auf die Wange und sagte laut „Viel Glück, Alter!"

    Er verstand sich gut mit seinem ICH, und jeder

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