In Maracaibo 71% Luftfeuchtigkeit...: Eduardo Rivera Canos erster Fall
Von Carl Cullas S.
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Über dieses E-Book
Das unerwartete Erbe führt ihn nach Venezuela, das Auswanderungsland seines unbekannten Onkels, der dort mit Viehzucht ein Vermögen gemacht hat. Die Reichtumsträume von Eduardo werden aber bald durch eine lebensbedrohliche Lage getrübt. Als bald darauf der Vertrauensanwalt seines Onkels auf mysteriöse Weise umgebracht wird, wird dem Erben plötzlich klar, dass es auch andere Erbinteressenten gibt...
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Buchvorschau
In Maracaibo 71% Luftfeuchtigkeit... - Carl Cullas S.
Carl Cullas S.
In Maracaibo
71% Luftfeuchtigkeit...
Eduardo Rivera Canos erster Fall
Copyright 2012 Carl Cullas S.
published at epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-1777-3
I
...Bill Whithers’ Use me
schlich langsam aus den Lautsprechern und vermischte sich mit der im Zimmer herrschenden Dunkelheit. Die Kerzenflammen bewegten unsere Schatten auf den Wänden und der Decke – zwei Konturen, die sich plötzlich abrupt voneinander zurückzogen, um dann wieder zu verschmelzen. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht und durch die Strähnen, wie durch einen nicht ganz zugezogenen Vorhang im Theater, glitzerten ihre Augen, eine spannende und erregende Geschichte versprechend. Ihr T-Shirt, genauso wie mein Hemd, lagen seit langem auf dem Boden - stumme Zeugen der in uns wütenden Begierde vermischt mit zwei Flaschen Rioja. Nach einem langen Kuss, der mir fast die Lunge aus dem Hals gezogen hatte, guckte sie mich mit einem vernebelten Blick an und schob mit einer langsamen und lasziven Handbewegung die Halter ihres BH von den Schultern. Aber die sich steigernde Musik des Himmelsorchester, die mir nun das Paradies verkündete, wurde dreist übertönt von der Türklingel. Meine Volupia schaute mich an und bewegte den Kopf: „Lass das. Ich war einverstanden, ließ dies und wollte anderes greifen, aber es klingelte wieder und noch stärker. „Verdammt!
, sagte sie. „Verdammt!!!", sagte auch ich und machte die Augen auf.
Ist es euch nie passiert, dass genau in dem Moment, in dem Jessica Alba oder Keira Knightley euch eure sublimsten und perversesten Träume verwirklichen und euch zum glücklichsten Menschen aller Zeiten machen wollte, das Telefon ertönte, der Wecker piepste oder eure ebenfalls schlaftrunkene Freundin - beziehungsweise Ehefrau -, euch mit der Frage: „Gehst Du Brötchen zum Frühstück kaufen?" auf den Boden der Realität holte?
Es klingelte wieder!
Ich fand mein Hemd neben dem Bett, aber leider kein T-Shirt der erotischen Unbekannten, die bereits spurlos verschwunden war. Ich schaute auf die Tischuhr: es war 9:10. Ich spürte die Wut - irgendwo zwischen meinem Bauchnabel und der Leiste - geballt nach oben steigern: Welcher Idiot wagte, einen Menschen zu dieser unchristlichen Stunde an einem Samstag zu stören?! Das fünfte Klingeln brachte mich auf den Weg zur Tür. Ich machte auf und war bereit, diesem Jemand meine aufrichtige Meinung über all seine mentalen, psychosomatischen und sexuellen Fähigkeiten zu sagen, aber der Besucher war schneller.
- Herr Rivera? Eduardo Rivera Cano? Wir haben Sie endlich gefunden! Einfach war es nicht, das können Sie mir glauben, sí Señor! Ich gratuliere Ihnen: 4 Millionen ist schon eine ehrwürdige Summe! Aber wieso reden wir hier? Setzen wir uns lieber, ich bin mir sicher, das brauchen wir beide!
Die Plaudertasche ging resolut an mir vorbei und installierte sich bequem im Zimmer auf meinem Sessel, nicht ohne zuerst meine Socken von den Armlehnen zu beseitigen. Ich folgte dem Eindringling, fügsam und ahnungslos, wie das Volk seinem Führer. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Mann mich auf Spanisch ansprach.
- Aber bleiben Sie bitte nicht stehen! Setzen Sie sich, bitte - forderte mich der Mann auf und zeigte mit einer gastfreundlichen Handbewegung auf ein Objekt, das unter einem Klamottenberg nur mit viel Vorstellungsvermögen als Stuhl zu erraten war.
- Ich bitte um Verzeihung – ich habe mich noch nicht vorgestellt. Víctor Enrique Marín Lara, vom Rechtsanwaltsbüro Sáez & Marín
. Ich komme direkt aus Madrid im Auftrag unserer Partner Prada, Romero & Asociados
aus Caracas, mit denen wir seit 20 Jahren arbeiten, um Sie zu benachrichtigen, dass Sie, laut dem Testament Ihres vor kurzem in Venezuela verstorbenen Onkels José Antonio Rivera Castro, als einziger Erbe über sein Vermögen von knapp 4 Millionen US-Dollar verfügen. Wie Sie bestimmt wissen, war Ihr Onkel einer der prominentesten und reichsten Viehzüchter Venezuelas.
Mittlerweile hatte ich die Visitenkarte von meinem Besucher in der Hand. Die linke Oberfläche des hochwertigen Elfenbeinkartons trug die schwarz gedruckte Inschrift: Sáez & Marín
. In der Mitte stand: „Víctor Enrique Marín Lara, Anwalt". Unten folgten die Adresse, mehrere Telefon- und Faxnummern samt eMail-Anschrift.
- Den Auftrag Sie zu lokalisieren bekamen wir vor einer Woche, aber es war nicht einfach Sie ausfindig zu machen! Ihr verstorbener Onkel wusste zwar, dass Sie in Deutschland leben, hatte aber weder die genaue Adresse noch eine Telefonnummer. Zuerst versuchten wir, Sie von Madrid aus per Telefonbuch zu finden. Aber unter Rivera Cano gab’s keine Eintragung. Logischerweise haben wir dann auf Ihren mütterlichen Nachnamen Cano verzichtet und konzentrierten uns nur auf Rivera. Da hatten wir eine Liste mit Dutzenden Namen und Adressen quer durch Deutschland. Die Suche wurde auch dadurch erschwert, dass uns Ihr zweiter Vorname falsch mitgeteilt wurde: Manuel anstatt Miguel... Aber das ist eben unserer Job - et voilá: unser Auftrag ist erfüllt!
Ich beobachtete den mir gegenüber sitzenden Kerl. Nach seinem ersten Nachnamen zu urteilen – der Sohn eines der Kanzleipartner. Um die dreißig, stämmig, mit stark gegelten, glatt gekämmten schwarzen Haaren. Schmales Gesicht mit einem freundlichen Lächeln, das seinerseits nicht über seine Mund- und Augenwinkel herrschte: die blieben ernst und wachsam. Der dunkelblaue Anzug war sicherlich nicht bei H&M gekauft, ebenso wie die Schuhe und das Hemd. Auf dem linken Handgelenk war schätzungsweise meine zweimonatige Gage in Form eines schmalen Uhrwerks platziert. Alles stimmte perfekt mit dem clicheeartigen Bild eines jungen, erfolgreichen Anwalts überein. Nur die joviale, ja aufgeregte Haltung, die er mir gegenüber an den Tag legte, wollte so gar nicht zu diesem Eindruck passen. Möglicherweise die Folge seines ersten erfolgreich abgeschlossenen Auftrags.
- Bestimmt habe ich Sie mit meinem Auftreten überrumpelt. – Setzte Víctor Enrique Marín Lara fort. – Wenn Sie sich duschen und umziehen wollen, nehmen Sie sich bitte alle Zeit. Ich kann warten.
Ich akzeptierte den Ratschlag und zog mich ins Badezimmer zurück, nicht ohne zuerst dem Gast einen Kaffee angeboten zu haben. Als ich nach zwanzig Minuten zurück kam, saß der Anwalt auf dem gleichen Sessel und rauchte.
- Ich hoffe, das stört Sie nicht? Ich habe einen Aschenbecher auf Ihrem Tisch gesehen und nahm mir die Freiheit, eine anzuzünden.
Ich nickte zustimmend und machte mir den Stuhl von Klamotten frei.
- Bevor ich zu Einzelheiten komme, möchte ich Ihnen dem Wunsch Ihres Onkels entsprechend seinen letzten Brief überreichen. Er kann wahrscheinlich vieles erklären.
Ich nahm den weißen Briefumschlag entgegen und machte ihn auf.
II
Mein Vater, Francisco Alberto Rivera Castro, „Paco wie er sich selbst zu nennen pflegte, ist auf Teneriffa geboren. Der jüngste von seinen Geschwistern, wanderte er mit 24 nach Deutschland aus. Er wollte eigentlich nach Hamburg, zu einer Hafenstadt und damit zum Meer, das ihm so vertraut war, aber das Schicksal entschied anders: in seinem Jahresvertrag stand Köln, wo er an einem Mittwoch im Frühling 1966 am Bahnhof Köln-Deutz mit Hunderten von anderen spanischen Gastarbeitern aus dem Zug ausgestiegen war. Erst schuftete er als Bauarbeiter, bis er eines Tages seine wahre Begabung unerwartet entfalten konnte. Es war wieder das Schicksal gewesen: an einem Wochenende war er mit seinen Freunden in einer Kneipe und stellte zum Bier die von ihm selbst gemachten Tapas auf den Tisch. Der Kneipenbesitzer wollte die kleinen Häppchen probieren und war von deren Geschmack so begeistert, dass er Paco anbot, bei ihm in der Küche zu arbeiten und das exotische Essen für die Gäste zuzubereiten. Die Gelegenheit kam im richtigen Moment: der Vertrag bei der Baufirma, bei der mein Vater verpflichtet war, ein Jahr zu arbeiten, um danach seine Aufenthaltserlaubnis verlängert zu bekommen, lief in Kürze ab, und er konnte sich dann einen anderen Arbeitgeber aussuchen. Das tat er. Allmählich gewannen die spanischen Spezialitäten mehr und mehr Platz in der Speisekarte und das Lokal in der Südstadt wurde innerhalb der spanischen Kolonie schnell bekannt. Da es unweit des „Odeon
lag, wo sonntags spanische Filme gezeigt wurden, wurde es für viele zur Tradition, nach der Vorführung „zu Paco" zu gehen.
Siebzehn Jahre später kaufte mein Vater dem alten Besitzer mit einem Partner das Restaurant ab und verwandelte es in reine spanische Wirtschaft. Ich war damals 6 Jahre alt und kann mich perfekt an den Tag erinnern, an dem mein Vater zum stolzen Restaurantbesitzer wurde: er leuchtete mit so einer starken Zufriedenheit, dass sie den tristen und grauen Winterhimmel über der Südstadt aufzuhellen schien... Sogar auf den Fotos erschien die Umgebung um ihn herum überbelichtet!
Meine Mutter, Carmen María, die meinen Vater Mitte der Siebziger Jahre heiratete, kündigte ihre Stelle bei einem Lebensmittelladen und wechselte zum Betrieb ihres Mannes, hinter die Theke, wo sie über 20 Jahre lang blieb. Schmal und ruhig, verkörperte sie das Gegenteil meines Vaters, der im Laufe der Jahre immer dicker und lauter wurde. Kleinster Sohn einer armen Familie, mit einem kaum zum Lesen von Zeitungen und einfachen Büchern ausreichenden Schulabschluss, arbeitete er sich in einem fremden Land, das nie zu seiner wirklichen Heimat wurde, vom Maurer zum Betriebsbesitzer hoch. Die Erinnerungen an seiner Kindheit und Jugend, geprägt von Knappheit und kaum zu verbergender Armut, ließen ihn seine Errungenschaften stärker genießen und vor seinen Freunden oder gelegentlichen Restaurantgästen laut schwärmen. Oft wiederholte er seinen Lieblingssatz, den er im Freundeskreis an einem vollen Tisch zu sagen pflegte: „Wie kann ich meinem Sohn die Bedeutung von Knappheit erklären, wenn er nur den Wohlstand erlebt?!" Ich konnte ihn verstehen, mit der Zeit aber wurde mir seine Haltung immer peinlicher. Nicht, dass ich ihn nicht liebte – er war immer sehr zärtlich zu mir und versuchte stets, alle meine Wünsche zu erfüllen, sogar diejenige, die ich überhaupt nicht hatte. Die Wahrheit, die ich mir irgendwann eingestehen musste, war, dass ich mich für ihn schämte. Seine Simplizität und lockerer Umgang mit den Menschen, die ihn dazu brachten, allen die es brauchten, zu helfen, sei es mit Geld oder Ratschlägen, und die ich bei ihm so mochte und schätzte, verwandelten sich bei ihm unter bestimmten Umständen in Vulgarität und neureichen Snobismus.
Ich war froh, als ich mit 19 in eine WG auszog. Dann kam meine Uni-Zeit. Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich sie wirklich genoss. Nicht das Studium an sich, sondern diese wunderbare Lebensspanne, in der man noch wirklich frei ist und sich kaum um etwas kümmert. Ich jobbte, bekam dazu monatlich ein paar Hundert D-Mark von meinen Eltern und war glücklich. Nach sieben Jahren bekam ich das Diplom als „Regionalwissenschaftler Lateinamerikas" und plötzlich stellte sich die Frage: Was jetzt? In jenem Jahr wurde mein Vater 62 geworden und gab seinem alten Traum nach: er verkaufte seinen Anteil am Restaurant und zog sich mit meiner Mutter nach Spanien zurück. Nach kurzem Überlegen entschieden sie sich für Huelva – eine kleine Stadt in Extremadura, fast an der Grenze mit Portugal, wo meine Mutter herkam. Sie wollten mich mitnehmen, aber ich zögerte.
Nicht dass ich Spanien nicht mochte. Oft waren wir in den Ferien auf Teneriffa oder in Huelva gewesen, ich fühlte mich wohl dort, genoss die Sonne, die Strände, den entspannten Lebensstil, mein Zuhause war aber in Köln. Ich kannte mich in der Stadt aus, hier war ich in meinem Element und vielleicht, wollte ich nicht das gleiche Schicksal wie das meiner Eltern erleben: ein ganzes Leben woanders zu sein, wo ich nicht hingehöre. Ich blieb also auf der linken Rheinseite, wo ich alle meine Jahre verbracht habe. Meine Alten halfen mir, eine Einzimmerwohnung zu mieten, schenkten mir ihr altes Fahrzeug und wir verabschiedeten uns am Flughafen. Dann wurde mir plötzlich klar, dass man dem Schicksal nicht aus dem Weg gehen kann: letztlich hatte die Trennung, die sich wie ein roter Faden durch die ganze Familiengeschichte zog, auch mich erreicht. Die Geschichte wiederholte sich.
Der ältere Bruder meines Vaters, José Antonio Rivera Castro, hatte viel früher sein Heim verlassen, zog aber das warme und ferne Lateinamerika vor. Für die Ausreise brauchte er damals den Ausreisepass, der allerdings nur nach dem obligatorischen Wehrdienst zu bekommen war. Das Alter für die Wehrdienstpflicht war 21 Jahre, man konnte sich aber bereits mit 18 Jahren freiwillig beim Militär melden. Genau das machte José Antonio. Mit 20 Jahren war er mit dem Dienst fertig, bekam das ersehnte Dokument und bestieg 1952 das Schiff, das ihn nach Maracaibo brachte. Mein Vater erzählte, dass die Briefe von José Antonio in den ersten Jahren regelmäßig kamen, mit der Zeit aber wurden sie seltener. Man wusste, dass José Antonio sich der Ganadería – Viehzucht - widmete und dass es ihm gut ging. Zumindest waren seine Briefe voll von solchen Behauptungen und begeisterten Erzählungen