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Der Bauch des Kommissars: Ein Krankenhauskrimi
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Der Bauch des Kommissars: Ein Krankenhauskrimi
eBook449 Seiten6 Stunden

Der Bauch des Kommissars: Ein Krankenhauskrimi

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Über dieses E-Book

Ausgerechnet Quackstedt! Kriminalhauptkommissar Camillo Waldner hätte sich nicht träumen lassen, dieser Kleinstadt im Osnabrücker Nordland noch einmal einen Besuch abstatten zu müssen. Es sind nicht die besten Erinnerungen, die er mit diesem Ort verbindet, an dem er einen Teil seiner Kindheit verbracht hat. Doch um den Mord an einer Chefärztin des dortigen Krankenhauses soll sich nach Willen seiner Vorgesetzten jemanden kümmern, der sich vor Ort auskennt. Kein Wunder, dass die Wahl auf Waldner fällt, auch, wenn dieser alle andere als begeistert ist. Seine Ermittlungen vor Ort in dem schwer durchschaubaren Beziehungsgeflecht eines Krankenhauses beginnen alles andere als ermutigend. Weitere Todesfälle folgen. Erst langsam gelingt es Waldner, eine Mauer des Schweigen zu durchbrechen und am Ende muss er feststellen, dass die Dinge nicht immer das sind, was sie scheinen
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum10. Sept. 2018
ISBN9783746761138
Der Bauch des Kommissars: Ein Krankenhauskrimi

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    Buchvorschau

    Der Bauch des Kommissars - Hermann Brands

    Der Bauch des Kommissars

    Titel Seite

    Der Bauch des Kommissars

    Vorwort

    Quackstedt, der Ort, in dem diese Handlung spielt, wird man auf der Landkarte des Osnabrücker Landes vergeblich suchen. Es ist ein fiktiver Ort, genauso erdacht, wie diese Geschichte, die in ihr vorkommenden Personen, Orte und Begebenheiten. Auch, wenn der aufmerksame Leser auf den Gedanken kommen mag, die eine oder andere Beschreibung wiederzuerkennen oder gewisse Ähnlichkeiten zu ihm bekannten Personen zu beobachten, so sei ihm versichert, das alles, was er gelesen hat, frei erfunden ist.

    Natürlich lässt sich nicht vermeiden, dass eine Geschichte, die in einer Region spielt, mit der man vertraut ist, Impulse von Land und Leuten erhält. Von Orten und Plätzen, von bestimmten Persönlichkeitstypen und mitunter schleichen sich in der Phantasie auch Dinge ein, die man irgendwo anders erlebt, beobachtet oder gehört hat. Das Leben wiederholt sich nicht ständig, aber manche Ereignisse und Muster begegnen und doch immer wieder, sowohl in Geschichten als auch in der realen Welt.

    So ist auch Quackstedt, der frei ersonnene Ort, sicherlich nicht von Eigenschaften verschont geblieben, die man aus anderen Zusammenhängen kennt. Es gibt ein Krankenhaus, einen Bahnhof, Hotels, Menschen, die dort leben und arbeiten, Zeitungen, Straßen, alles Dinge, ohne die eine Stadt nicht auskommt und die es deshalb geben muss, damit diese Geschichte funktioniert.

    Alle Handlungsträger dieser Geschichte sind mehr oder minder komplexe Figuren, denen ich Eigenschaften zuerkannt habe, weil Personen Eigenschaften brauchen. Natürlich habe ich mich dabei wie jeder Autor aus dem großen Potpourri an menschlichen Eigenarten bedient, das uns im normalen Leben umgibt. Und natürlich bestimmen eigene Erfahrungen und Erlebnisse das mit, was man ersinnt und niederschreibt.

    Sollte es also Menschen geben, die dennoch der Meinung sind, irgendwen oder irgendetwas in dieser Geschichte wieder zu erkennen, so sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen: Das ist reiner Zufall, keinesfalls Absicht und wenn es doch auf irgendjemanden zutreffen sollte, hoffe ich, dass mögliche Parallelen zu noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen nicht als diskreditierend oder verletzend empfunden werden.

    Kapitel 1

    „Was für eine Riesensauerei, entfuhr es Kriminalhauptkommissar Waldner laut vernehmlich, als er gegen 10:30 Uhr den Tatort besichtigte. Der Tag war noch nicht besonders alt, aber er wusste schon jetzt, dass der Morgen des 17. Oktober das Zeug dazu hatte, diesen Tag zu einem zu machen, den man am liebsten streichen würde. Waldner war mittlerweile einer der dienstältesten Kollegen bei der Mordkommission in Oldenburg und schon deshalb einiges gewohnt. Aber hier kam er nicht umhin, zu schlucken. Da hatte wohl jemand seinen besonders perversen Tag gehabt. „Wer hat sie gefunden?

    Franz Gromitzke, sein eher unscheinbarer und zugleich langjähriger Assistent, hatte alle Mühe, das Frühstück im Mund zu behalten. Aber immerhin, stellte Waldner neidvoll fest, hatte er schon die Gelegenheit zum Frühstück gehabt. Sein Gesicht, ohnehin stets einen Ton zu bleich und oft Anlass zu schlechten Witzen, hatte jegliche Farbe verloren. „Die Putzfrau, erwiderte er, halbwegs um Fassung bemüht. „Heute Morgen, viertel vor sieben! Da macht sie normalerweise sauber in den Arztzimmern

    „Hm brummte Waldner, während er sich am Tatort umsah und ertappte sich dabei, wie er mal wieder auf seine Unterlippe biss. Das tat er besonders dann, wenn er nachdenken musste. „Und wann wurden die örtlichen Kollegen alarmiert?

    „Um halb neun", stammelte Gromitzke, der sich bemühte, nicht direkt in Richtung der Leiche zu blicken. In der Tat war die Tote kein Anblick für zarte Gemüter. Dabei war der gute Gromitzke durchaus kein Weichei, wie Waldner aus den Erfahrungen der gemeinsamen Jahre wusste. Aber das hier sah eher nach einer Schlachtung als nach einem normalen Tatort aus. Überall klebte Blut. Auf dem Boden, am Sessel neben der Toten, selbst an der Schreibtischfront, die eigentlich weit genug von der Leiche entfernt stand. Waldner wusste natürlich von den Gerichtsmedizinern, dass der menschliche Körper zwischen fünf und sieben Liter Blut enthielt. Aber die Menge, die hier verteilt war, hätte auch das Dreifache sein können.

    „Da stinkt doch was zum Himmel, mutmaßte Waldner, der gerade dreimal nachgerechnet hatte, wie viel Zeit zwischen dreiviertel sieben und halb neun lag und jedes Mal zum gleichen Ergebnis kam. Immerhin fast zwei Stunden, die von Auffinden der Toten bis zur Alarmierung der hiesigen Polizei verstrichen waren. Da konnte man mehr als nur ein paar Spuren verwischen. „Wieso sind die Kollegen erst so spät informiert worden?

    „Technischer Defekt, erklärte sein Assistent und schien sichtlich erleichtert, etwas anderes tun zu können, als auf die Tote zu starren. „Es laufen gerade Wartungsarbeiten an der Telefonanlage. Seit gestern tut hier gar nichts mehr im Haus. Deshalb ist dann ein Pfleger rüber zur Polizeistation. Und die macht erst um diese Zeit auf…

    „Heilige Scheiße, stöhnte Waldner um einiges heftiger, als beabsichtigt. Aber eigentlich hätte er sich so etwas denken können. Denn schließlich wusste er nur zu gut, wo er sich mit seinem Team befand. Tötungsdelikt, Quackstedt, das hatte heute Morgen in seiner Einsatzorder gestanden. Quackstedt, das war ein Provinznest allererster Güte, eine Kleinstadt im wahrsten Sinn des Wortes, befand er. Und außerdem für Waldner alles andere als fremd. Gerade deshalb war Quackstedt für ihn auch die Verkörperung von all dem, was eine Stadt auf keinen Fall haben sollte. Natürlich waren seine Vorgesetzten der festen Überzeugung gewesen, dass es eine gute Idee war, ihn nach Quackstedt zu schicken. Originalzitat Polizeipräsident Dunkelmoser in der kurzen Dienstbesprechung heute Morgen: „Es ist gut, jemanden vor Ort zu haben, der sich auskennt…

    Waldner hatte gar nicht erst versucht, zu erklären, wie wenig er sich in der Gegend auskannte. Wenn Dunkelmoser von seiner Idee überzeugt war, brachten ihn niemand davon ab. Und Waldner war ohnehin nicht der Mensch, der Lust auf fruchtlose Diskussionen hatte. Lieber arrangierte er sich mit seinem Chef und zog es sicherheitshalber vor, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Auf diese Weise ließ sich die Enttäuschung, wenn schon nicht ganz zu vermeiden, so doch zumindest in Grenzen halten. Meistens jedenfalls. Auf jeden Fall würde er auf Vieles, was er zuhause in Oldenburg zu schätzen gelernt hatte, verzichten müssen. Ein Polizeirevier, das durchgehend Tag und Nacht besetzt war, gehörte nicht zu den lokalen Selbstverständlichkeiten. Und Telefonanlagen, die sich kurzfristig reparieren ließen, erst recht nicht.

    Im Allgemeinen machte Waldner zwar kein Staatsgeheimnis daraus, hier familiäre Wurzeln zu haben, aber nach Möglichkeit vermied er es, jemandem diesen Umstand ohne Not auf die Nase zu binden. Dass er in diesem Nest geboren wurde und einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hatte, war lange her und auch nicht seine eigene Entscheidung gewesen. Aber wen interessierte das schon bei der Einsatzleitung in Oldenburg. Gefragt hatte ihn zumindest niemand. Jedenfalls hatte er sich heute Morgen nach der kurzen Einsatzbesprechung mit sehr gemischten Empfindungen auf den Weg gemacht und keine zwei Stunden später sah er sich in seinen Befürchtungen bestätigt. Zwangsläufig musste Waldner wieder einmal an die ersten 14 Jahre seines Lebens in der „Verbannung" denken, wie er diese Zeit zu nennen pflegte. Zumindest, wenn er sie nicht umhin kam, sie zu erwähnen...

    „Passt auf, wo ihr hintretet, fauchte er die beiden Kollegen von der Spurensicherung in ihren Ganzkörperanzügen an, als ob sie das nicht von sich aus gewusst hätten. „Nun mach mal halblang, Camillo; raunzte Majewski, der ältere der beiden, zurück. „Wenn du Stress hast, fang lieber wieder an, zu rauchen!"

    Das saß. In doppelter Hinsicht. Majewski kannte Waldners Achillesferse. Er mochte seinen Vornamen, den er seiner italienischen Mutter zu verdanken hatte, nicht. Außerdem hatte er sich vor drei Wochen die letzte Zigarette angesteckt. In Momenten wie diesem fragte Waldner sich allerdings, ob das eine gute Entscheidung gewesen war. Wenn der Arzt nicht gesagt hätte… Waldner verscheuchte die Gedanken an seinen Hausarzt und konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche. Die Leiche!

    Auch die jüngere Kollegin von der Spurensuche beschäftigte sich gerade damit und fotografierte sie aus allen Positionen. Erstaunlich cool dabei, wie Waldner fand. Sie war erst vor einem halben Jahr zum Team gestoßen, ein Frischling sozusagen. Immerhin machte sie eine gute Figur, in jeder Hinsicht. Oder fast in jeder. Ihre langen dunklen Haare, die sie zum Pferdeschwanz gebunden hatte, hingen frei über den Rücken des Schutzanzuges und waren nicht vorschriftsmäßig unter das Haarnetz gesteckt.

    Waldner übersah das geflissentlich und kniete sich an einer Stelle neben die Tote, an der sich zumindest optisch kein Blut befand. Dennoch spürte er, wie seine Schuhsohlen am Boden klebten. Der Oberkörper der Frau war unbekleidet und zwischen den immer noch ansehnlichen Brüsten klaffte ein großes Loch. Der Täter musste schwer gearbeitet haben, um die Rippen auseinander zu biegen. Das wohl Ungewöhnlichste war der silberne Teller auf dem Bauch der Toten. Gleich einer zeremoniellen Opfergabe lag ein blutverschmiertes Organ darauf und obwohl Waldner keine Ahnung von Anatomie hatte, hätte er jede Summe darauf gewettet, dass es ihr Herz war.

    „Wer tut so etwas?" flüsterte Gromitzke, der schräg hinter ihm stand. Eine Antwort erwartete er wohl nicht und Waldner gab ihm auch keine. Stattdessen blickte er sich im Zimmer um. Eigentlich waren es zwei Zimmer, durch eine große zweiflügelige Schiebetür getrennt lag ein weiterer Raum direkt nebenan. Waldner hatte keine Ahnung, wie ein Arztzimmer sonst aussah, aber die Ausstattung erschien ihm recht komfortabel. Die Tote lag rechts neben einem wuchtigen Massivholzschreibtisch, möglicherweise Mahagoni, auf jeden Fall nicht in der Klasse, die Waldner sich leisten konnte.

    Eine Sitzgruppe mit drei komfortabel aussehenden Sesseln stand in der linken Zimmerecke unter einer leichten Schräge. An den Wänden überall Regale, mit zahllosen Büchern, Holzskulpturen und Tonfiguren bestückt. Über dem Schreibtisch im Rücken desjenigen, der daran saß, hing ein riesiges Bild. Vermutlich Öl oder Acryl, so genau kannte Waldner sich nicht damit aus. Auf jeden Fall ein Original. Und abstrakt.

    Im Nebenraum stand eine große schwarze Ledercouch, ebenfalls unter der Schräge. Mehrere bunte Kissen mit Fransen waren darauf drapiert. Der Raum hatte ein esoterisches Flair, fand Waldner. Indischer Stil oder zumindest das, was er sich darunter vorstellte. An den Wänden des ansonsten mit Möbeln eher spärlich ausgestatteten Zimmers hingen ebenfalls Bilder, allerdings deutlich kleiner als über dem Schreibtisch. Waldner nahm an, dass es sich ebenfalls um Originale handelte. Die Tote schien abstrakte Kunst gemocht zu haben.

    Ungewöhnlich war das goldfarbene Namensschild auf dem großen Schreibtisch. In kantigen schwarzen Buchstaben stand darauf der Name der Besitzerin des Schreibtisches: Prof. Eva Maria Weidner-Nadolny. Das hatte er auch schon vorher gewusst, denn die Identifizierung war schon gelaufen. Die teilweise Namensähnlichkeit fiel ihm erst beim Nachlesen auf. „Ein Doppelname", dachte Waldner. Er war gespannt, welche Klischees die Tote sonst noch bediente.

    Während die Spurensicherung schon damit beschäftigt schien, einzupacken, suchte Waldner nach Spuren eines Kampfes. Es gab keine. Die Tote lag lang ausgestreckt auf dem Boden, die Beine dicht beieinander, mit einem Kostümrock bekleidet. Im Gegensatz zum nackten Oberkörper schien die untere Körperhälfte nicht entblößt worden zu sein, soweit er das beurteilen konnte. Die Hände hatte die Tote gefaltet und stützte mit ihnen den Silberteller, auf denen der Mörder ihr Herz platziert hatte. Eine höchst symbolträchtige Handlung, wie Waldner fand, aber darüber sollten sich die Kriminalpsychologen Gedanken machen.

    Und die Tatwaffe? fragte Waldner eher beiläufig und war umso mehr überrascht über Majewskis Antwort. Haben wir nicht. Zumindest am Tatort keine Spur davon, aber wir bleiben dran. Irgendetwas passte da nicht, befand Waldner nachdenklich. Dass ein Täter sein Werkzeug verschwinden ließ, war in einem Mordfall nicht ungewöhnlich, aber bei einer doch augenscheinlich ritualverdächtigen Handlung wunderte es ihn doch. „Und was ist damit...? Er deutete auf eine leere Teetasse auf dem Schreibtisch, aber Majewski winkte ab. „Schon asserviert. Ansonsten sind wir hier fertig. Wir kümmern uns jetzt um die Wohnung. Kann sie abtransportiert werden? Die Krankenhausleitung…..

    „Mir ist scheißegal, unterbrach Waldner ihn, „was die Krankenhausleitung will. Irgendwas ist nicht richtig und solange ich nicht weiß, was, bleibt sie hier. Majewski zuckte nur mit den Achseln und auch niemand von den anderen Kollegen widersprach ihm. Waldner war mit seinen 49 Jahren lange genug bei der Polizei, um sich einen gewissen Ruf erworben zu haben. `Waldner löst die Fälle mit dem Bauch´, war so ein geflügeltes Wort auf der Dienststelle in Oldenburg und damit war nicht gemeint, dass er bei der Arbeit zu übermäßigem Essen neigte. Wenn Kriminalhauptkommissar Waldner ein komisches Gefühl im Bauch hatte, stellte sich oft genug heraus, dass etwas dran war.

    Waldner verbrachte noch eine weitere halbe Stunde im Zimmer bei der Toten, nachdem die Spurensicherung abgezogen war. Jede Ecke, jeden Blutsfleck ging er noch einmal durch, aber er fand nichts, was ihm als Hinweis dienen konnte. Es schien, als hätte sich die Tote nicht gewehrt... die Lebende natürlich, korrigierte Waldner sich. Der Tod war schließlich erst der Folgezustand, kriminaltechnisch gesehen. Möglicherweise hatte sie den Mörder gekannt, es gab keinerlei Zeichen gewaltsamen Eindringens. Waldner hielt das sogar für sehr wahrscheinlich, denn einem Menschen sein Herz zu entreißen und es ihm sogar auf silbernem Tablett auf den Bauch zu legen, konnte nur Ausdruck einer sehr persönlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer sein. Aber vermutlich schränkte das den möglichen Täterkreis nicht gerade ein. Frau Weidner - Nadolny machte selbst als Tote noch einen sehr aparten Eindruck, zu Lebzeiten war das sicher nicht anders gewesen.

    Waldner hatte Gromitzke damit beauftragt, die letzten Kontakte zu recherchieren, die Frau Weidner in lebendigem Zustand gehabt hatte. Er war abgezogen wie ein geölter Blitz. Jede Aufgabe war ihm augenscheinlich lieber, als noch länger bei der Toten bleiben zu müssen. Zumindest am Nachmittag hatten mehrere Mitarbeiter die Professorin noch lebend gesehen. Sie hatte wie üblich ihre Sprechstunde abgehalten. Vornehmlich Privatpatienten, wie Gromitzke herausgefunden hatte. Einen Terminkalender suchte Waldner allerdings genauso vergeblich wie die mögliche Tatwaffe.

    Es gehörte eine ordentliche Portion Kaltblütigkeit dazu, in dieses Krankenhaus zu spazieren, die Professorin zu ermorden, ihr das Herz (das hatte die Spurensicherung mittlerweile bestätigt) herauszunehmen und dann wieder unerkannt zu gehen. Wer das tat, musste sich zumindest ein wenig hier auskennen. Auch, wenn den genauen Todeszeitpunkt erst die Autopsie ergeben würde, Waldner glaubte nicht, dass die Professorin vor 22:00 umgebracht wurde. Zuviel Publikumsverkehr. Und noch zuviel Patienten auf den Fluren. Der Täter oder die Täterin war sicherlich klug genug gewesen, das zu bedenken.

    Noch immer hatte er das Gefühl, etwas übersehen zu haben, irgendeine Kleinigkeit möglicherweise. Aber so sehr er auch den möglichen Hergang durchspielte, er kam einfach nicht darauf, was ihn störte. Schließlich stimmte er dem Abtransport der Toten in die Gerichtsmedizin zu. Dem Anschein nach hatte die Tote sich nicht gewehrt. Es galt zu klären, ob sie betäubt oder vergiftet worden war. Mehrfach hatte Waldner versucht, seine Oldenburger Kollegen auf eventuell ähnliche Fälle im Archiv anzusetzen. Leider gab es im gesamten Krankenhaus immer noch kein funktionierendes Telefon. Die Notleitungen hatte er, trotz Verweis auf diensthoheitliche Belange nicht benutzen dürfen. Rettungsdienstliche Erfordernisse, hatte der Verwaltungsleiter kaltschnäuzig beschieden. Und der nagelneue Motorola hatte auf dem Gelände keinen Netzempfang. Waldner hatte keine Lust zum Streiten und so lief die ganze Kommunikation mit der Dienststelle über den armen Gromitzke, der ständig zwischen seinem Chef und der nächsten Telefonzelle hin und her pendelte. „Quackstedt…" stöhnte Waldner zum wiederholten Mal.

    Schließlich beschloss er, die Sache mit Oldenburg später weiter zu verfolgen. Zuerst einmal waren die Zeugenaussagen wichtiger. Gromitzke hatte dazu in der Zwischenzeit einen Sitzungsraum im Erdgeschoß requirieren können, wundersamer weise ganz ohne dass es diesmal Probleme mit irgendwelchen Klinikbelangen gab. Zwar hatte der Raum keine richtigen Fenster, aber er bot Platz genug und, was ebenso wichtig war, er verfügte über einen Kaffeespender. Die heutige Nacht war ebenso wie die letzten wieder wenig erholsam gewesen. Keine Stunde am Stück hatte er geschlafen, immer wieder war er wach geworden, als hätte er geahnt, was für eine unerfreuliche Sache heute auf ihn zukommen sollte. Außerdem war es zu warm in seiner Wohnung, die Heizung ließ sich nicht regeln. Und sein Husten… bislang hatte es noch gar nichts genützt, dass er nicht mehr rauchte. Warum kam dieser verfluchte Husten nur in der Nacht, sobald er sich hinlegte? Waldners Laune sank auf den Tiefpunkt.

    Gegen 12:15 vernahm Waldner seine erste Zeugin. Frau Pellenwessel war seit vielen Jahren Abteilungssekretärin. Waldner hätte gerne auch die Putzfrau befragt, die die Tote gefunden hatte, aber sie lag seit heute Morgen im Krankenhaus, mit einem Nervenzusammenbruch, wie es hieß. Bedauerlich, aber doch verständlich, fand Waldner. Frau Pellenwessel war eine etwas vorgealterte Endvierzigerin mit erstaunlich wenig femininer Ausstrahlung. Ihre geblümte Bluse kontrastierte unvorteilhaft mit dem karierten Rock. Das schmale Gesicht trug eine Spur zuviel Make-up, sie hatte keinen Ring am Finger, wie Waldner registrierte. „Ledig" las er im Vernehmungsbogen. Gromitzke leistete wie immer ausgezeichnete Vorarbeit. Das schätzte er an ihm.

    Waldner bot Frau Pellenwessel einen Stuhl an, so dass sie ihm gegenüber am Tisch saß. Der Blickkontakt schien ihr unangenehm zu sein, sie senkte die Augen und vermied es, ihn direkt anzuschauen.

    „Die arme Frau Professor, schluchzte sie immer wieder, was die Vernehmung etwas schwierig machte. „Wer kann so etwas nur tun? Auch, wenn sich Waldner schon allein von Berufes wegen die gleiche Frage stellte, hatte er wenig Lust, immer wieder das gleiche zu hören.

    „Das wollen wir ja herausfinden", unterbrach er sie so höflich, wie er konnte, aber dennoch bestimmt, worauf Frau Pellenwessel ihren Mund einstweilen nicht wieder zubekam.

    „Wir brauchen ihre Hilfe bei der Rekonstruktion des Tathergangs, beschwichtigte Waldner die Abteilungssekretärin. „Jede, wirklich jede Einzelheit ist hilfreich, mag sie ihnen auch noch so unwichtig vorkommen. Waldner fragte sich, wie oft dieser Satz schon aus seinem Mund gekommen war. Frau Pellenwessel hatte mittlerweile ihre Fassung wieder gewonnen.

    „Seit fünfunddreißig Jahren arbeite ich jetzt in diesem Haus, aber so etwas ist noch nie vorgekommen. Das ist schließlich ein christliches Haus. Aber Frau Professor meinte ja, diese Leute behandeln zu müssen….."

    „Was für Leute?" wollte Waldner wissen, während Gromitzke fleißig schrieb. Nicht zum ersten Mal fragte Waldner sich, weshalb sich sein Assistent derart standhaft weigerte, ein modernes Diktiergerät zu benutzen, aber alle Versuche, ihn davon zu überzeugen, waren vergebens gewesen, Gromitzke hatte sogar mit einem Versetzungsantrag gedroht.

    „Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf…, Frau Pellenwessel sah sich etwas ängstlich um. „In einem Krankenhaus, da gilt doch die Schweigepflicht…

    „Nicht in einem Mordfall", klärte Waldner sie auf, natürlich wider besseres Wissen, denn im Grunde war das gar nicht so einfach mit Vernehmungen im Krankenhaus.

    „Also…Frau Professor hatte ein paar Patienten…. Ich habe die Berichte geschrieben für sie… die hatten es mit dem Gericht zu tun…", mühsam rang die Pellenwessel nach Worten. Schon jetzt war Waldner klar, dass die Abteilungssekretärin kaum ein gutes Haar an ihrer toten Chefin lassen dürfte, wenn man sie nur lange genug befragen würde.

    „Sie behandelte also delinquente Patienten…?" stellte Waldner fest. Solche Fälle waren ihm bekannt. Manchmal verhängten Gerichte Therapieauflagen bei Haftverschonung und wenn der Betroffene nach der Therapie ein positives Gutachten erhielt, brauchte er seine Haftstrafe nicht mehr anzutreten. Meistens waren das aber Ersttäter und die Straftaten minderschwer. Aber das ließ sich nachprüfen, solche Therapien mussten besonders dokumentiert werden.

    „Genau! stimmte die bislang schüchterne Sekretärin mit ungewohntem Eifer zu. „Das waren Kriminelle. Kinderschänder und Brandstifter. Die hätten eigentlich in den Knast gehört. Jetzt sieht man ja, was davon kommt!

    „Sie glauben also, einer dieser Patienten hätte sie umgebracht?" hakte Waldner vorsichtig nach.

    „Wer den sonst? So etwas tun doch nur Perverse. Ich habe das nie verstanden, warum sich Frau Professor mit solchen Leuten abgegeben hat. Unser alter Chef hat das nie getan, der wusste besser, was er von denen zu halten hatte."

    Frau Pellenwessel entpuppte sich im Gespräch als Verfechterin eines eher klassischen Strafvollzuges, stellte Waldner fest. Wegsperren und nicht mehr herauslassen, schien ihre Devise. Zumindest generell wollte Waldner das aber trotz der Dinge, die er im Laufe seines Berufslebens gesehen hatte, nicht unterstützen. Aber das behielt er in der Vernehmung lieber für sich. Schließlich wollte er sie nur befragen, nicht bekehren. Leider konnte Frau Pellenwessel bis auf ihre deutlichen Ansichten zu Kinderschändern und Brandstiftern nichts Wesentliches zur Tataufklärung beitragen.

    Zuletzt hatte sie ihre Chefin um 16:00 lebend gesehen, als diese einige von ihr mit Berichten besprochene Kassetten hereinreichte. Nach ihrer Überzeugung habe die Frau Professor so wie immer gewirkt, in Gedanken wohl bei anderen Dingen, aber nicht verängstigt oder belastet. Um 16:15 hatte Frau Pellenwessel das Abteilungsbüro abgeschlossen und Feierabend gemacht. Ob einer der besagten Patienten danach noch einen Termin bei Frau Weidner - Nadolny gehabt habe, vermochte sie nicht zu sagen, Frau Professor habe sich bei ihren Terminen nicht reinreden lassen, die habe sie immer selbst gemacht.

    Frau Professor schien überhaupt alles anders gemacht zu haben wie ihr Vorgänger, war Waldners Eindruck, als er Frau Pellenwessels Aussage rekapitulierte. Und hatte damit nicht immer vor dem gestrengen Auge ihrer persönlichen Sekretärin bestehen können.

    „Wissen sie, wir sind ein Christliches Haus, betonte sie nachdrücklich. „Früher, da haben hier auch die Nonnen aus dem Schwesternhaus Dienst getan. Aber die sind ja alle alt mittlerweile. Aber ich sage ihnen, manche Dinge, die gab es damals nicht!

    Waldner hatte nach dem Ende der Vernehmung viel gelernt über den zunehmenden Sittenverfall im ehedem christlichen Haus. Dass die Schwestern zu freche Trachten trugen, welche vor allem männlichen Patienten herausfordern mussten. Und dass Ärzte mit Schwestern… und umgekehrt. Und dass die armen schwerkranken Menschen, die auf der Psychiatrie behandelt wurden, neuerdings arbeiten gehen mussten, in der Käserei, auf dem Gemüsehof Soundso oder anderswo, wo sie den normalen Quackstedter Bürgern Angst einjagten.

    Frau Weidner-Nadolny hatte sich wohl durch recht fortschrittliche Therapieansätze ausgezeichnet und damit nicht nur Zustimmung im Hause erfahren. Aber deshalb würde sie wohl kaum jemand auf diese Weise umbringen. Vergiften, ja, das hätte Waldner noch für möglich gehalten, wenn hier mehr Personal vom Schlage Frau Pellenwessels arbeitete. Vergiften von Gegnern hatte bei Christenmenschen ja eine Jahrhunderte alte Tradition, dachte Waldner anzüglich. Aber er hütete sich, das seiner Zeugin gegenüber zu erwähnen…

    Gegen 12:30 saß Waldner seiner nächsten Zeugin gegenüber. Frau Krämer war von anderem Schlag als ihre Vorgängerin. Regelrecht wohltuend anders, wie Waldner empfand. 47 Jahre alt, etwas angegraut, aber die schulterlangen Haare mit Henna nachgetönt. Das musste aber schon einige Zeit her sein, denn der Grauton wuchs am Haaransatz wieder durch. Seit mehr als zwanzig Jahren an der Anmeldung in der Krankenhauspforte beschäftigt, kannte Frau Krämer jeden Mitarbeiter und viele der ein und ausgehenden Patienten. Sie konnte sich an 2 Personen erinnern, die sich nach 16:00 bei ihr zur Professorin durchgefragt hatten. Es waren Patienten gewesen, die einen Ambulanztermin hatten. Einer der beiden war schon öfter da gewesen, wie Frau Krämer sich erinnerte. Und der Zweite hatte sich sogar mit Namen vorgestellt. Die Personenbeschreibungen, die sich zu Protokoll gab, waren mehr als gut. Waldner beauftragte Gromitzke damit, die Beschreibungen an die Kollegen herauszugeben.

    „Die sahen ganz unauffällig aus, fuhr Frau Krämer mit ihren Beobachtungen fort. „Besonders der Zweite war sehr nett. Hatte so einen bayrischen Akzent. Um 19:30 habe ich ihn wieder gehen sehen. Da hat die Frau Professor aber noch gelebt. Ich habe noch ein Telefonat zu ihr durchgestellt. Waldner war irritiert. „Ich dachte, die Telefonanlage ist auch gestern schon defekt gewesen?"

    „ War sie auch. Aber manchmal klappte es dann doch für ein paar Minuten wieder. Und dann ging für Telefonate von außerhalb wieder gar nichts, erklärte Frau Krämer mit beeindruckender Engelsgeduld. „Das war ein ziemliches Durcheinander gestern. Die Patienten kamen alle unangemeldet, die Standleitung zur Rettungsleitstelle war völlig überlastet und die Hausärzte draußen stocksauer. Nur innerhalb des Hauses, da konnte man telefonieren.

    „Wissen sie denn noch, wer Frau Weidner - Nadolny angerufen hat? „Natürlich, strahlte Frau Krämer mit einem gewinnenden Lächeln, das Waldners Miene ebenfalls etwas weicher werden ließ. Das war Dr. Dependahl. Der ist Oberarzt in der Anästhesie. Aber momentan ist er in Italien auf einem Kongress. Montagnachmittag abgereist. Zumindest war die Nummer eine mit Auslandsvorwahl. Das konnte ich auf dem Display erkennen. Ich habe mich noch gewundert, weshalb er anruft, obwohl er gar nicht mehr im Dienst war. Waldner war immer mehr von der Beobachtungsgabe seiner Zeugin angetan. „Hat denn Dr. Dependahl gesagt, warum er die Frau Doktor noch sprechen wollte?"

    „Das hat er mir nicht verraten. Vielleicht ging es ja um was Dienstliches. Er hatte schon die Nacht vorher Dienst auf der Intensivstation und den Tag über auch noch. Da haben die beiden mehrfach miteinander telefoniert."

    „Und eine Idee haben sie nicht, was er von Frau Weidner- Nadolny gewollt hat? Frau Krämer schüttelte den Kopf. „Man erfährt zwar viel, wenn man an der Pforte sitzt, aber alles auch wieder nicht. Vielleicht ging es noch um das Konsil, das er angefordert hat. Darum geht es meistens, wenn sich jemand von der Intensivstation bei den Psychiatern meldet. Dann liegt dort in der Regel ein Patient, der versucht hat, sich umzubringen. So was kommt schon häufiger mal vor. Waldners Kenntnisse in Latein stammten noch aus Schulzeiten und die lagen weit zurück. Aber an manche Vokabeln erinnerte er sich erstaunlicherweise noch heute, manchmal sogar besser als damals, wie er fand. Konsil kam mit Sicherheit von consilium, was Rat oder Plan bedeutete. Sein Lateinlehrer konnte stolz auf ihn sein, fand er. Ein Konsil war vermutlich eine Art eine Art fachlicher Beratung von Arzt zu Arzt. So, wie wenn er sich vom Gerichtsmediziner beraten ließ. Doch so wichtig, dass er noch mal nachfragen wollte, erschien ihm das nicht.

    Ist ... äh, ich meine, war es denn üblich, dass die Frau Professor so lange gearbeitet hat? Bestimmt hat sie doch auch ein Privatleben gehabt. Frau Krämer durchschaute seine Frage natürlich sofort. Sie meinen, was sie so privat gemacht hat? Davon kann ich nicht viel berichten. Nur das, was so geredet wurde. Sie war mal verheiratet, heißt es. Daher wohl der „Nadolny. Aber ansonsten hat man hier wenig von ihr gewusst. Und sie wissen ja, an der Pforte..." Sie brach ab, als Waldner abwinkte. Mittlerweile wusste er ja, dass man an der Pforte so einiges erfuhr.

    Etwas, aber nicht sehr enttäuscht fuhr Waldner fort, sie zum gestrigen Nachmittag zu befragen. Frau Krämer beschrieb den Tagesablauf so genau, als hätte sie sich alle Einzelheiten aufgeschrieben. Von 14:00 bis 21:00 Uhr hatte sie bis auf zwei kleine Pausen an der Pforte gesessen. „Das ist die normale Nachmittagsschicht. Danach beginnt die Nachtschicht, die dauert dann bis 7.00 Uhr morgens. Waldner nickte, während sie weiter berichtete. Mit fast exakter Uhrzeit beschrieb sie, wann welche Patienten aufgenommen wurden oder der Rettungswagen ausrückte. „Es war bis auf die Sache mit dem Telefon eigentlich ein ruhiger Tag. Bis 18:00 hatte sie Gesellschaft von zwei Technikern einer Telefonfirma, denn die Telefonanlage war im Nebenraum untergebracht. Die beiden hatten mächtig geschwitzt und geflucht, konnte sie sich erinnern. Sie hatte ihnen zwischendurch einen Kaffee besorgt, darüber war man ins Gespräch gekommen. Aber fertig hatten sie die Anlage nicht bekommen, sondern nur eine Notleitung eingerichtet. Deshalb konnte sie sich an die wenigen Anrufe gut erinnern.

    „Ist es denn bei ihnen üblich, dass alle Telefongespräche über die Pforte laufen, wunderte sich Waldner. Auf der Dienststelle in Oldenburg hatte er die Nummern der meisten Nebenstellen im Kopf. Und es gab ein Telefonverzeichnis. Niemand würde auf die Idee kommen, sich mit einem hausinternen Teilnehmer verbinden zu lassen. „Kommt immer darauf an, welche Nummer das ist, erklärte Frau Krämer. „Wir haben über 300 Anschlüsse im Haus mit allen Stationen, Arztzimmern und was da sonst zugehört. Die kann sich keiner alle merken. Und weil besonders unsere Doktoren doch mal wechseln, gibt es eine ganze Reihe Leute, die immer wieder nachfragen. Selbst manche, die schon lange da sind…, Frau Krämer lächelte vor sich hin, „es gibt eben Leute, die können sich bis auf ihren Namen gar nichts merken.

    Waldner bemühte sich gar nicht erst, sein Grinsen zu unterdrücken. Die Unterhaltung mit Frau Krämer war die erste nette Abwechslung an diesem Tag. Vermutlich auch die einzige, befürchtete er. Die meisten Zeugenbefragungen verliefen eher trocken bis zäh. Viele der Befragten versuchten, alles herunterzuspielen, was sie womöglich gesehen haben könnten, um Ärger zu vermeiden. Oder aber sie machten sich besonders wichtig und hatten schon eine vollständige Theorie, die sie bereitwillig präsentierten. Frau Pellenwessel, seiner erste Zeugin, gehörte sicher zu der letzten Gruppe. Frau Krämer dagegen hatte Charme und Witz, verstand sich aufs Beobachten und auf eine feine Ironie. Waldner konnte sich auch ohne weitere Erklärung gut vorstellen, dass es Dr. Dependahl sein musste, der sich bis auf seinen Namen gar nichts merken konnte. Aber leider konnte auch Frau Krämer trotz allen Charmes genauso wenig Aufschluss darüber geben, wer die Professorin zuletzt lebend gesehen hatte, wie die vorherige Zeugin.

    „Wie war denn eigentlich Frau Weidner - Nadolny so als Ärztin und Mensch? Haben sie sich mal näher mit ihr unterhalten? Frau Krämer schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Doch sie hat zumindest immer freundlich gegrüßt. Das tun hier längst nicht alle. Und anscheinend konnte sie sich durchbeißen, was man gehört hat. Aber das musste sie wohl auch. Hatte es nicht leicht, als sie vor 4 Jahren bei uns anfing. Im Vorstand lauter Männer so vom Typ Alpha - Tier, alle über sechzig, zwei davon auch noch Pastoren. Die waren wohl noch ziemlich verwöhnt vom Dr. Strodtmann, dem früheren Chef hier. Eine Frau, die resolut und selbstbewusst auftritt, kommt da schnell in den Ruf, ein Besen zu sein.

    Waldner nickte zustimmend. „Und was sagte man denn sonst so über sie hier im Haus? Ich meine, so inoffiziell…? Bestimmt ist doch mal das eine oder andere Wort gefallen… Es fiel ihm schwer, zu glauben, dass über eine Frau mit Frau Weidner-Nadolnys Eigenschaften nicht das eine oder andere Gerücht kursierte. Wo viele Menschen zusammenarbeiteten, wurde immer geredet, das war sicher auch hier im Krankenhaus nicht anders. Hin und wieder lohnte es sich durchaus, sich mit diesen inoffiziellen Kanälen zu befassen. Es lag in der Natur des Menschen, Wissen nicht für sich allein zu behalten. „Könnte es irgendjemanden geben, der ein besonderes Interesse haben könnte, ihr etwas Schlechtes zu wünschen, fragte er vorsichtig.

    „Sie meinen... ob jemand hier aus dem Haus ihr das angetan sein könnte…? Sie schien einen Moment zu überlegen. Ich schätze mal, es gibt schon Leute, die haben sie nicht gerade geliebt haben. Aber sie umbringen? Wer kann schon sagen, zu was Menschen fähig sind. Aber … es würde mich schon wundern." Waldner hatte sich in seinen fast 30 Berufsjahren das Wundern abgewöhnt. Meistens zumindest. Es war schwer, ihn in Erstaunen zu versetzen. Immer wieder taten Menschen das, was man ihnen absolut nicht zutraute. Und manchmal sogar noch mehr. Aber er hütete sich, das laut auszusprechen...

    „Das war sehr hilfreich, bedankte sich Waldner, auch, wenn das vielleicht eine Spur übertrieben war. Aber Frau Krämer war eine nette Zeugin und verdiente es, einigermaßen höflich verabschiedet zu werden, fand Waldner. „Wenn ihnen noch etwas einfällt…, er war im Begriff, ihr eine von seinen leider etwas zerknitterten Visitenkarten in die Hand zu drücken, …unter dieser Nummer können sie mein Büro erreichen. Auch, wenn ich nicht persönlich…"

    „Da wäre noch etwas, Herr Kommissar, unterbrach ihn Frau Krämer mit einer Spur von Ungeduld in der Stimme. „Frau Weidner-Nadolny... sie war sehr unglücklich über den Ausfall der Telefonanlage. Gestern hat sie mich mehrfach gebeten, eine bestimmte Telefonnummer zu wählen. Insgesamt dreimal hat sie sich im Laufe des Nachmittags erkundigt, ob ich etwas erreicht hätte. Ich hatte den Eindruck, dass ihr etwas, - wie sagt man bei ihnen -, unter den Nägeln brannte.

    Weidner wurde hellhörig. „Und..? Hat es noch geklappt mit dem Telefonat? Ihre Antwort wäre nicht nötig gewesen, Waldner biss sich ohnehin fast auf die Zunge. Natürlich, die Telefonanlage. Hatte er für einen Moment vergessen. Da lebte man im 21. Jahrhundert und konnte rund um die Welt telefonieren, in Sekundenschnelle auf die anderer Seite der Erde chatten und bis weit in den Weltraum hinausgucken und wenn dann mal so eine Telefonanlage ausfiel, war man abgeschnitten wie auf einer einsamen Insel. „Sie hat den Namen der Person nicht zufällig genannt, die sie sprechen wollte?

    „Hat sie nicht. Frau Krämer schüttelte bedauernd ihren Kopf. Aber ich habe mir das da gemerkt…. Sie schob Waldner seine zerknitterte Visitenkarte zurück, nachdem sie etwas darauf geschrieben hatte. Es waren sechs Zahlen. Eine Telefonnummer. Eine Ortsnetznummer. „Sie sind ein Schatz", entfuhr es Waldner unwillkürlich und für einen kurzen Augenblick lang hatte er den Eindruck eines verschwörerischen Lächelns im Gesicht von Frau Krämer. Vielleicht war es ja auch eine Täuschung gewesen, denn beim nächsten blick sah sie wieder aus wie man sich eine freundliche Dame vorstellte, die an der Pforte Dienst tat, freundlich und unverbindlich….

    Mittlerweile war es früher Nachmittag geworden, kurz nach 15:00 Uhr, stellte Waldner mit einem Blick auf seine Armbanduhr fest. Er trug eine altmodische Casio mit Uhrzeiger, im Glasdeckel einen Sprung von der Zwölf zur Drei. Eine Erinnerung an eine der Festnahme, die nicht ganz friedlich abgelaufen war. Er hätte sich längst eine neue kaufen sollen, aber er hing an der Uhr, weil sie noch mechanisch aufzuziehen war und ein Zifferblatt besaß. Digitalanzeigen waren ihm ein Gräuel, deshalb zog er eine solche altmodische Uhr vor. Über sechs Stunden war dieser Fall nun schon alt, etliche Tassen Kaffe, eine weniger warm als die andere, fünf Zeugenvernehmungen, die üblichen Griffe zur nicht vorhandenen Zigarettenpackung und leider war er bislang ohne wirklich weiterführende Erkenntnisse geblieben. Immerhin, er war nicht mehr von der Außenwelt abgeschnitten. Die Techniker von der Telekommunikationsfirma hatten das Wunder vollbracht, die Telefonanlage wieder in Gang zu bringen. Waldners Laune besserte sich etwas. Ein Tatort, von dem aus man nicht telefonieren konnte, war ein Alptraum.

    Die Besitzerin der Telefonnummer hatte Gromitzke bereits ermitteln können, eine gewisse Sylvia Fraise. Waldner überlegte, ob er den Namen schon einmal gehört hatte. Unter der Nummer meldete sich lediglich ein Anrufbeantworter. Der allerdings mit der klaren frischen und glockenhellen Stimme einer höchstens Enddreißigerin vom Typ dynamisch und jung geblieben. Diese Frau Fraise, wer immer das auch sein mochte, so hatte Waldner sich vorgenommen, würde er persönlich befragen, wenn es sich einrichten ließe. Vielleicht bei einem zur Abwechslung mal heißen Kaffee, stellte er sich vor, während er eher lustlos den kalten Rest aus seiner Tasse schlürfte. Mit einem mehr als grottenschlechten Geschmack im Mund wendete er sich einem neuen Zeugen zu.

    Der nächste auf der Liste war der Verwaltungsleiter, von dem sich Waldner mehr Informationen über das Krankenhaus und vielleicht auch über die Tote erhoffte. Allerdings dauerte die Hoffnung nur so lange, bis er ihm direkt gegenüberstand. An Waldners Alter gemessen war er ein junger Schnösel und zudem von ziemlich aufgesetzt unechter Freundlichkeit, was ihn in Waldners Augen einige Sympathiepunkte kostete. Dass er ihm heute Morgen die Notleitungen verweigert hatte, kostete ihn den Rest.

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