Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Stationen der Erinnerungen 1945 bis 2016 - Eine Autobiografie
Stationen der Erinnerungen 1945 bis 2016 - Eine Autobiografie
Stationen der Erinnerungen 1945 bis 2016 - Eine Autobiografie
eBook245 Seiten3 Stunden

Stationen der Erinnerungen 1945 bis 2016 - Eine Autobiografie

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Autobiografie zwischen 1945 bis 2016. Prägnante Ereignisse, wie Mauerbau, Mauerfall, Jugoslawienkrieg ... persönliche Erlebnisse aus der Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter sollen nicht nur unterhalten sondern auch zum Nachdenken anregen.
Beschreibung der KIndheit nach dem Zweiten Weltkrieg, Lehre zum Drogisten, erste Selbständigkeit, Heirat, Geburt der Tochter, Ausbildung zum Heilpraktiker und Eröffnung einer erfolgreichen Praxis in Düsseldorf. Auswanderung nach Jugoslawien und Erleben der Kriegsereignisse auf dem
Balkan, Rückkehr nach Deutschland, Neuanfang mit Gründung der renommierten WINKELS AKADEMIE BERLIN. Verkauf der Akademie und Eintritt ins Rentenalter.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum27. Mai 2017
ISBN9783745043112
Stationen der Erinnerungen 1945 bis 2016 - Eine Autobiografie

Ähnlich wie Stationen der Erinnerungen 1945 bis 2016 - Eine Autobiografie

Ähnliche E-Books

Biografie & Memoiren für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Stationen der Erinnerungen 1945 bis 2016 - Eine Autobiografie

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Stationen der Erinnerungen 1945 bis 2016 - Eine Autobiografie - Horst Winkels

    cover.jpg

    FÜR MIRIAM, MEINE GELIEBTE TOCHTER

    STATIONEN

    DER ERINNERUNGEN

    1945 – 2016

    Inhalt

    Station I  Behütet

    1944 – 1951

    Station II  Unbelastet

    1951 – 1956

    Station III  Hilflos, verzweifelt, unverstanden

    1956 – 1960

    Station IV  Danke Oma, Danke Opa. Entdeckung ungeahnter Fähigkeiten

    1960 – 1968

    Station V  Weiterentwicklung, von null auf hundert

    1969 – 1979

    Station VI  Menschliche Qualitäten

    1979 – 1989

    Station VII  Mut zum Risiko

    1989 – 1992

    Station VIII  Depression, Kriegserlebnis

    1992 – 1993

    Station IX  Hoffnung

    1993 – 1994

    Station X  Wie Phönix aus der Asche

    1994 – 1995

    Station XI  Orientierungsphase

    1995 – 1999

    Station XII  Erfolgreich, schönste Zeit

    1999 – 2010

    Station XIII  Neuorientierung, Opfer beklagen

    2010 – 2016

    KOPFSPRUNG IN DAS WECHSELBAD DER ERINNERUNGEN 1944 – 2016

    PROLOG

    Heute ist der 1. März 2016.

    Nachdem mich meine Frau Marina heute Morgen mit dem Auto von Pankow zum Flughafen Berlin Tegel gefahren hat, sitze ich nun in einer Boeing der Austrian Airlines und befinde mich auf dem Flug nach Wien.

    Hier angekommen, ist wie immer wenig Zeit, denn mein Anschlussflug nach Podgorica, der Hauptstadt Montenegros, startet bereits in einer Stunde von Gate C. Wie immer, so auch heute laufe ich, so schnell es geht, nach Personen- und Passkontrolle quer durch den Flughafen, um den Anschlussflug zu erreichen. Die zweimotorige Bombardier ist bis auf den letzten Platz besetzt. Während ich den Flug genieße, schweifen meine Gedanken zum Sinn dieser Reise, einer mentalen Reise in meine Vergangenheit. Mit dieser Vergangenheit werde ich mich im Laufe der nächsten vier Monate an einem Ort, der in wichtigen Stationen meines Lebens eine zentrale Rolle spielt, auseinandersetzen und diese Gedanken zu Papier bringen. Ob mir das gelingt, weiß ich nicht.

    Es ist geplant, dass ich in den ersten zwei Monaten alleine sein werde, sodass danach Marina hinzukommt und wir die weiteren zwei Monate gemeinsam verbringen.

    Nebenbei gibt es in diesem Ort unsere zwei Immobilien, die ich in dieser Zeit gerne verkaufen würde. Abschied nehmen – mit einem lachenden (rationalen) und einem weinenden (emotionalen) Auge.

    Nun überfliegen wir die schwarzen Berge (Montenegro). Schneebedeckte zweieinhalbtausender Gletscher, die auch im Sommer vereist und verschneit sind, tiefe Schluchten, unbewohnte Berglandschaften. Obwohl ich diesen erhabenen Anblick schon viele Male genießen durfte, bin ich auch heute wieder fasziniert.

    Der Landeanflug beginnt unmittelbar hinter der Gebirgskette mit dem Überfliegen von Podgorica, das in einem Talkessel liegt. Nun dreht der Pilot das Flugzeug leicht nach Osten, um dann mit einem Schlenker westwärts, an Höhe verlierend, über eine weite Fläche des Skotari-Sees, vorbei an seitlichen Felsformationen in Richtung Landebahn zu fliegen. Selbst heute, nachdem ich in der Vergangenheit sämtliche dieser Landeanflüge überlebt habe, fühle ich hier immer noch ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Der Skotari-See bildet die Grenze zwischen Montenegro und Albanien, ist Weltkulturerbe und ein Paradies für eine Vielzahl von Vögeln, die zum Teil nur noch hier heimisch sind.

    Landung pünktlich 14:30 Uhr.

    Im neuen, supermodernen Flughafengebäude erwartet mich Ismet. Mit seinem Golf fahren wir los. Ismet Karamanaga, pensionierter Gymnasialprofessor, Germanist und vor allem mein Freund, steuert zunächst durch ein Dorf mit einem für uns ungewohnten, balkanischen Charakter. Dem Betrachter fallen die vielen teuren Autos auf, die hier an der Straße stehen, während die Besitzer dieser Statussymbole in Straßencafés sitzen und die Zeit totschlagen. Womit diese Zeitgenossen hier an der Grenze zu Albanien ihr Geld verdienen, kann man nur vermuten.

    Nun geht es vorbei am Skotari-See, den ich vor einer Stunde noch überflogen habe, vorbei an Ruinen aus dem frühen Mittelalter. Vorbei an Virbazar, einem kleinen Ort, der im Ersten Weltkrieg am Balkan eine wichtige Rolle spielte. Der Tunnel durch das Gebirge ist Montenegros ganzer Stolz. Er ist fast 5 km lang und führt zur Küste. Der Moment, an dem wir den Tunnel verlassen, ist der Zeitpunkt, an dem ich heute zum ersten Mal das Meer erblicke.

    Es scheint die Sonne vom wolkenlosen Himmel, bei 20 Grad. Für mich ist das ein Begrüßungsgeschenk, denn genauso gut hätte es heute, am 1. März, bei nur drei Grad, stürmen und regnen können.

    Von Sutumore, einem bekannten Urlaubsort, geht es über die Küstenstraße, wo um diese Jahreszeit wenig Verkehr herrscht. Nun sind es noch etwa 50 km bis Ulcinj, meiner zweiten Heimat. Wir fahren entlang der Küste, vorbei an unendlichen Pinien- und Olivenhainen und traumhaften Buchten. Von Bar, der Hafenstadt, die wir passieren, sind es dann nur noch wenige Kilometer.

    Vom Ortseingang Ulcinj, am Gymnasium vorbei, überfahren wir die Ampel in Richtung Pinjes, wo am obersten Punkt der Straße das Haus steht, mein Haus, in dem ich seit 26 Jahren wohne, immer dann, wenn ich in Ulcinj bin.

    Als ich am Ziel bin, sehe ich zum ersten Mal das riesige, noch im Rohbau befindliche Hotel auf der anderen Straßenseite, gegenüber unserem schönen Haus. Branko hatte mich telefonisch vorgewarnt. Trotzdem bin ich entsetzt.

    Pinjes, der Teil von Ulcinj, in dem ich wohne, zeichnet sich durch gepflegte, maximal dreistöckige Einfamilienhäuser aus, die allenfalls über das eine oder andere Appartement verfügen, das zur Vermietung an Feriengäste genutzt wird. Dass hier ein achtstöckiger Klotz mit 50 Hotelzimmern und dem Charme eines 70er-Jahre-Studentenwohnheims gebaut werden durfte, ist eine Frechheit und riecht gewaltig nach Korruption. Beim Anblick dieses Gebäudes, übrigens eines von vielen dieser Art an der Küste Montenegros, tut sich zwangsläufig die Frage auf, woher die ungeheuren Summen Geld kommen, die hier verbaut und offenbar gewaschen werden. Bei einem großen Teil dieser Schandflecke wurde noch nicht einmal fertiggebaut, sodass viele Bauruinen die Küste verunstalten. Die kriminellen Strohmänner, die als Handlanger krimineller Hintermänner hier sichtbar sind, sind in der Regel aalglatte Montenegriner, die aufgrund ihrer Kontakte zu Montenegro-Regierungskreisen durch unsere hiesige Gemeindeverwaltung und Polizei nicht angreifbar sind und machen können, was sie wollen. Meine Nachbarn, alle Einheimische, denken wie ich. Wir stehen hilflos vor dieser Krebserkrankung, die immer schneller neue Metastasen setzt. Massiver Verlust an Anstand und Kultur, gepaart mit hemmungsloser Gewinnsucht prägen immer unverhohlener das andere Gesicht dieses wunderschönen Landes.

    Alles andere ist wie gewohnt. Branko, unser Hausmeister, steht auf der vorderen Terrasse und erwartet mich. Branka, seine Frau, hat alles so weit vorbereitet, dass der Kühlschrank mit dem gefüllt ist, was ich gerne esse, mein Lieblingswein im Regal steht, die von Branka vorbereitete Pizza muss nur noch in den Backofen, Kaminholz ist ausreichend vorhanden. Es kann also losgehen.

    Nun beginnt eine Zeit, in der ich viel träume, das Geträumte aufschreibe, in der ich lange Spaziergänge am Sandstrand oder in den Klippen mache, aber auch Abende verlebe, die ich am offenen Kaminfeuer und in der Sauna verbringe.

    DER KOPFSPRUNG IN MEINE VERGANGENHEIT, auf geht’s ins Wechselbad der Gefühle, von heiter über wolkig bis stürmisch

    STATION I  BEHÜTET

    1944 – 1951

    Gezeugt hat mich mein Vater im April 1944. Meine Eltern sind Hans-August und Gerda Winkels. Gerda, geborene Schölwer, entstammte einer eingesessenen Familie in Gelsenkirchen-Buer. Mein Vater Hans, damals bei der Reichswehr, wuchs bei seinen Eltern Hans und Henriette mit zwei Schwestern in Herten-Westerholt in der Nähe von Buer auf.

    Im Bauch meiner Mutter wohnte ich, ungeborener Weise, bei meinen Großeltern Hermann und Maria in Gelsenkirchen-Buer. In einer Bombennacht, Ende 1944, wurde das Wohnhaus der Großeltern völlig zerstört. Unter den Trümmern fand man mit meiner Mutter auch mich in ihrem Bauch, beide unverletzt.

    Da das Leben in den Städten, besonders des Ruhrgebietes, damals gegen Ende des Zweiten Weltkrieges sehr gefährlich war, wurden Teile der Bevölkerung, vor allem Frauen und Kinder, evakuiert. So landete ich im Teutoburger Wald in der Nähe von Detmold, in Bad Meinberg. Hier kam ich am 20. Januar 1945 zur Welt.

    Nachdem der Krieg vorbei war und mein Vater aus Griechenland zurückkehrte, bildeten wir drei eine kleine Familie. Da mein Vater beim Ruhrbergbau im Labor beschäftigt war, bezogen wir einen betriebseigenen Neubau, der noch zu Nazi-Zeiten fertiggestellt worden war in der Buerschen Resser Mark.

    Nach eineinhalb Jahren kam mein Bruder Peter zur Welt.

    Einige Dinge und Schlüsselerlebnisse der damaligen Zeit sind für mich noch heute präsent. So war z. B. alles knapp. Es musste vieles „organisiert" werden, das heißt, es mussten ständig Wege gefunden werden, dringend benötigte Dinge des Alltags zu beschaffen.

    Wir zählten damals eindeutig zu den Privilegierteren, weil Opa Hermann zusammen mit seinem Bruder Theodor eine Bäckerei betrieb und außerdem eine Schwester meines Vaters mit einem Bauern verheiratet war, die im Vorgebirge in der Nähe von Bonn lebte. Aus diesen Quellen schöpften und überlebten wir.

    Wenn es aber darum ging, anderes wie z. B. Kleidung für uns Kinder oder anderes aus der Non-Food-Abteilung des Bedarfs zu beschaffen, brauchte man Geld.

    Die Angestellten des Ruhrbergbaus hatten ein jährliches Anrecht auf einige Zentner Kohlen. Dieses Deputat, ausschließlich für den Eigenbedarf der Empfänger bestimmt, war aber auch ein Kapital, das darauf wartete, verflüssigt zu werden.

    Nun kam meine Mutter ins Spiel. Der Begriff Kohlenschieber war damals nicht negativ belegt und gang und gäbe. Kohlenschieber waren die, die nachts mit ihren klapprigen, meist dreirädrigen, kleinen Lieferwagen vor den Häusern standen. Es waren die Ehefrauen und Mütter, die dann, meist ohne Wissen ihrer Männer, auftauchten, mit den Kohlenschiebern in den Keller gingen, wo dann gegen Bargeld der eine oder andere Sack Deputat-Kohlen den Besitzer wechselte.

    Mein Vater tat immer sehr erstaunt, wenn Mutter mit Stolz die Dinge vorzeigte, die sie mit diesem Geld gekauft hatte. Offiziell durfte er von Mutters Kohlenschiebereien natürlich nichts wissen.

    Nachdem unsere Familie in die Nähe von Vaters Arbeitsplatz umgezogen war, in die Westfalenstraße in Gelsenkirchen-Buer, gingen Peter und ich in den Kindergarten Sankt Ludgeri. Das muss für mich recht langweilig gewesen sein, denn an Details aus den Kindergartentagen kann ich mich nicht erinnern.

    STATION II  UNBELASTET

    1951 – 1956

    Mit sechs Jahren, also 1951, wurde ich eingeschult. Es ging in die Volksschule am Buerschen Brößweg. Auch hier gab es keine Besonderheiten. Schnell erkannte ich damals schon, dass mir musische Fächer wie Musik, Geschichte, Geografie mehr lagen als alles Naturwissenschaftliche.

    Als mein Bruder Peter eingeschult wurde, war ich bereits in der zweiten Klasse. Von uns beiden war ich eindeutig der ruhigere Typ. Wenn irgend möglich ging ich aufkommenden Konflikten aus dem Weg. Ganz anders Peter. Wo auch immer versuchte er, seinen Kopf durchzusetzen, neigte zu Jähzorn und fand sich in Situationen, die für ihn ungünstig waren, sehr schwer zurecht. Wenn es zwischen ihm und anderen zum Streit kam, drohte er stets mit seinem großen Bruder. So kam es, dass ich regelmäßig in seine Kleinkriege mit einbezogen wurde und den einen oder anderen Schlag auf die Nase bekam, der eigentlich ihm gegolten hatte. Trotzdem verstanden wir uns meistens gut.

    Damals waren wir uns einig, dass wir später einmal als Artisten oder Akrobaten Weltruhm erlangen würden. Um das zu erreichen, übten wir täglich, wobei wir uns an der Camilla-Mayer-Truppe orientierten, die zu der Zeit internationalen Ruf genoss und häufig in Ruhrgebietsstädten auf Marktplätzen auftrat. Die zeigten in erster Linie gewagte Hochseilakrobatik, die wir auch, aber noch besser bringen wollten.

    Da wir uns zunächst einmal mit den vorhandenen Übungsmaterialien zufriedengeben mussten, genügte uns der Küchentisch, auf den man zwei Stühle aufeinanderstellte. Als Peter nun nach Akrobatenmanier auf diesen Stühlen den Handstand versuchte, rutschte der obere Stuhl ab und Peter schlug mit dem Unterkiefer auf die Tischkante. Als er mich ansah, war ich entsetzt. Unterhalb seiner Unterlippe klaffte ein stark blutendes Loch, durch das man die untere Zahnreihe sehen konnte, als er mir sagte, dass er die Übung nochmal machen wolle. Im Krankenhaus wurde genäht und die Camilla-Mayer-Truppe ging weiter.

    Die kleine Narbe ziert noch heute wie ein Studentenschmiss recht vorteilhaft sein Gesicht.

    Unser gemeinsames Kinderzimmer befand sich unter der Dachschräge, mit dem Fenster zur Straße. Eines schönen Tages stand unsere Mutter am Küchenfenster und blickte auf die Straße. Es irritierte sie, dass sich auf der anderen Straßenseite eine Menschenansammlung gebildet hatte. Alle schauten und zeigten mit den Fingern nach oben. Einige hatten vor Entsetzen die Hände vor ihre weit geöffneten Münder gelegt. Mutter ahnte Schlimmes, rannte die Treppe hoch … das Kinderzimmer war leer, das Fenster weit geöffnet …

    Für Peter und mich war das die erste Vorstellung vor Publikum. Stolz balancierten wir über die Dachspitze und winkten den Menschen auf der Straße freundlich zu. Anstatt tosenden Applauses erfolgte ein spitzer Schrei unserer Mutter. Vorsichtig, mit zitternden Beinen, auf allen Vieren, durch den Schrei unserer Mutter verschreckt, hangelten wir uns, möglichst nicht nach unten schauend, in Richtung Dachfenster. Den Traum von der Hochseilakrobatik gab es nun für uns nicht mehr.

    STATION III  HILFLOS, VERZWEIFELT, UNVERSTANDEN

    1956 – 1960

    Diese Jahre waren ausschlaggebend für mein zukünftig schlechtes Verhältnis zu meinem Vater. Nach der vierten Klasse wurde ich vom Klassenlehrer der Volksschule zur höheren Schule vorgeschlagen. Nachdem ich die erforderliche Eignungsprüfung zur Realschule bestanden hatte, fand der Schulwechsel statt.

    Hätte man mich gelassen, wäre es für mich ein Leichtes gewesen, diese Schule abzuschließen. Doch mein Vater entwickelte zu der Zeit an seinem Arbeitsplatz im Umgang mit seinen Kollegen und seinen Vorgesetzten durch chronischen Geldmangel und durch Neid auf das, was andere hatten, ein enormes Aggressionspotenzial und Frust. Er brauchte ein Ventil. Er brauchte einen Stellvertreter für alle, die er hasste, und alles, was er hasste. Ein noch vorhandenes Kriegstrauma und die Tatsache, dass der Krieg seine geplante Berufskarriere zunichte gemacht hatte, verstärkten seinen Unmut. Auch hasste er mich, weil ich der Grund war, aus dem er meine Mutter heiraten musste. Seine Trinkgewohnheiten nahmen ihm zusätzlich die letzten Hemmungen.

    Mit größtem Interesse verfolgte er, mit diesem Negativpotenzial ausgestattet, alles das, was an dieser Schule unterrichtet wurde. Er suchte mit sadistischer Gründlichkeit meine Schwächen im Umgang mit dem Lehrstoff, um mich dann für diese Schwächen zu bestrafen. Vor allem die Hausaufgaben unterlagen seiner strengsten Kontrolle. Alles, was ich zu Papier brachte, wurde von ihm auf Fehler untersucht. Obwohl ihm jede Kompetenz fehlte, entwickelte er Erklärungsmodelle, die er dann natürlich selber nicht verstand. Sein Frust führte dazu, dass er fast täglich auf mich einprügelte und sich bei mir große Ängste entwickelten. Die meiste Zeit verbrachte ich nicht damit, zu lernen, sondern Strategien zu entwickeln, die mich vor ihm schützen sollten. Seine Aversion mir gegenüber übertrug sich auch auf andere Dinge des Alltags, sodass schon bei Banalitäten wie auch bei kleinen Unpünktlichkeiten nicht geschimpft, sondern gleich geprügelt wurde. Verbote und Einschränkungen meiner Freizeitmöglichkeiten gehörten dazu. Modische Kleidung wie die damals von den meisten meiner Mitschüler getragenen Jeans wurden strikt verboten. Um diesen häuslichen Qualen aus dem Weg zu gehen, bekam ich dann angeblich immer weniger Hausaufgaben auf.

    Da ich mich nun, ohne Hausaufgaben gemacht zu haben, nicht in die Schule traute, entwickelte ich mich zum Schulschwänzer. An vielen Vormittagen lief ich durch die Stadt, immer in der Hoffnung, dass mich keiner sieht, der mich kennt. Die erforderlichen Entschuldigungen für die Schule schrieb ich selber. Die Handschrift und die Unterschrift meiner Mutter hatte ich gut geübt. Die Last auf meinen Schultern wurde immer schwerer, mein Leben immer unerträglicher.

    Noch genau kann ich mich an die schrecklichen Magenschmerzen erinnern, an den schweren Stein in meinem Bauch, wenn ich morgens das Haus verließ, um in die Schule zu gehen. Wie schlecht ich mich fühlte, da ich manchmal in der Schulklasse als Depp der Einzige war, der die Aufgabe nicht verstand.

    Die schlechten Leistungen in Mathematik glich ich immer wieder dadurch aus, dass ich in Deutsch und auch in einigen Nebenfächern so einigermaßen klarkam. Mit meinem Vater an meiner Seite aber hatte ich keine Chance.

    Immer häufiger dachte ich daran, mich umzubringen. Während einer seiner Prügelattacken bat ich meinen Vater, mich totzuschlagen, was ihn dann noch wütender machte.

    Mit der Zeit entwickelte er ausgeklügelte Bestrafungsrituale. Beginnend mit endlosen Monologen über meine bodenlose Dummheit und Faulheit endete es immer mit Schlägen.

    Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte weg. Planlos lief ich los mit der festen Absicht, nie wieder zurückzukommen. Am späten Abend fand ich mich vor dem Haus meines Onkels Hermann, dem Bruder meiner Mutter. Seine Familie beneidete ich um die Toleranz, die sie untereinander pflegten. Ich beneidete meine Cousine Doris um ihre Eltern.

    Als ich auf das Garagendach stieg, konnte ich die Familie beim Abendessen beobachten. Nach einigen Minuten löste ich mich von diesem harmonischen Anblick. Beim Rückzug stieß ich mit dem Fuß gegen das metallene Garagentor. Das Geräusch veranlasste meinen Onkel, das Fenster zu öffnen und nachzusehen. Ich war schneller, versteckte mich hinter einem Busch und schlich dann davon. Die Polizei griff mich auf und brachte mich zu meinem Peiniger zurück. Dass Vater mich schlug, hatte ich nicht anders erwartet.

    Zu dieser Zeit starb mein Großvater Hans, der Vater meines Vaters, mit nur 55 Jahren an Bronchialkrebs. Dafür, dass er im Nazi-Deutschland ein höherer Parteifunktionär war, saß er mehrere Jahre im Gefängnis. Als er 1950 entlassen wurde, war ich bereits fünf Jahre alt. Wenn ich an meinen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1