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Kreuzungen: Eine Spurensuche
Kreuzungen: Eine Spurensuche
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eBook244 Seiten3 Stunden

Kreuzungen: Eine Spurensuche

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Über dieses E-Book

Victor, ein junger Arzt, begibt sich auf die Reise, der von seinem Vater geschiedenen Mutter näherzukommen. Sie wurde während der Ehe psychisch krank, worauf der Vater ihn und seinen Bruder in eine neue Familie mitnahm und der Kontakt zu ihr abbrach. Das diffuse Bild seiner Mutter hatte sich nie aufgeklart. Durch die Nachkriegsjahrzehnte zieht sich ein Familientrauma, das wie Mehltau an ihr haftet. Aus einer von Victor rekonstruierten Entwicklung der Mutter in ihre Erkrankung hinein versucht er nun, seine eigene Entwicklung und sein Unbehagen zu rekonstruieren. Auch seine Reise auf einen anderen Kontinent macht ihm deutlich, was zerbrochen wird, wenn Menschen fallen gelassen werden. War sie an ihrem Schicksal schuld? War ihr Weg in die Krankheit unumgänglich? Alles bleibt im Unklaren. Aber auch die Sprache spiegelt das Verwirrende der Entwicklungen wider. Es gibt Entleihungen aus depressivem und paranoidem Denken, und greifbar ist kaum etwas. Verschiedene Schreibstile wechseln sich ab. Die Welt ist nicht kohärent. Auf der Suche nach Herkunft und Sinn lernt Victor ein wenig, wer er selbst ist. Das Eis zwischen Normalität und Wahn aber ist dünn, und auch sein Leben hätte ganz anders werden können.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Jan. 2017
ISBN9783738098235
Kreuzungen: Eine Spurensuche

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    Buchvorschau

    Kreuzungen - Stefan Weinmann

    1 Gras - 1956-1958

    Stefan Weinmann

    Kreuzungen

    Eine Spurensuche

    Roman

    Impressum

    Stefan Weinmann

    © 2016

    I

    In der Mulde stand sie, heilig, sanft. Man erkannte die Heiligkeit am goldenen Schein über der Stirn. Und dem Hellblau ihres Gewandes. Sie stand in der kleinen Nische, die der Urgroßvater in die wuchtige Steinwand gehauen hatte - genau über dem Haupteingang, jeden begrüßend und segnend, auch die Jungen aus Fellhausen, die klingelten und wegrannten, alle, die Gutes wollten und alle, die Böses im Schilde führten. Oben im Übergang zwischen Küche und Wohnzimmer, das auch das Esszimmer von Onkel und Tante war, auch hier berührte sie dich fast mit ihrem Zeige- und dem Mittelfinger. Und jedes Mal warst du ihr nah. Die Mutter Gottes war deine Freundin. Sie wusste alles. Und mit ihr teiltest du deine Geheimnisse, die sie in ihr großes Herz aufnahm. Ganz anders war es mit Jesus, der sich an den Kruzifixen quälte, und der wie ein unausgesprochener Vorwurf war, auch an dich. Du gingst ihm aus dem Weg. Auch bei Onkel und Tante gab es gekreuzigte Heilande, meistens aber kleine, und viel mehr Madonnen.

    „Gebenedeit sei die Frucht Deines Leibes..."

    Jeden Mittag am Wochenende versammelten sie sich in der Küche und dachten an den Tod und an die Frucht des Leibes. Und früher dachtest du, gebenedeit sei etwas Schlechtes, Peinliches und Unaussprechliches. Der Leib, ein eigenartiges, bedeutungsschweres altes Wort, und nur ein wenig heilig, mehr ein Bedürfnis; Körper war Bedürfnis, ein Wort, das man nur leise sagen durfte, weil das so Gemeinte einfach da war und nur schamvoll ausgehalten werden konnte, wie der dicke Bauch bei der Frau Gruber, die ihre Tochter immer aus dem Kindergarten holte, und die keinen Mann besaß. Denn manche Wörter waren nur für die Gedanken, nicht zum Sagen - und sie hielt sich dran, so wie sie sich an alles hielt, was die Erwachsenen in Schweigen hüllten. Und dennoch. Wenn Oma von den Unaussprechlichen sprach, die an der Leine wehten, war alles doch in Ordnung. Aus ihrem Mund war alles fast ein wenig heilig, sogar Wäsche. Manchmal auch bei Kindern, wie bei Falk. Der durfte pullern sagen. Falk kam aus dem Norden und war anders als all die Franks und Michaels und Wolfgangs. Theresas und Christines und Marias. Die Worte gaben die Erwachsenen vor - so wie die Namen ihrer Kinder bei Geburt - sie machten dir die Bilder in den Kopf. Und viele dieser Worte, welche andre zubereiteten, sie hinterließen dir Geschmack auf deiner Zunge, Geruch in deiner Nase. Wort und Ding, Vanille, Stuhl, gelb, Rauch, Schwamm, Holz, Ruß, Regen, Tabak, weiß, grün, Stern und heiße Suppe ließen sich nicht trennen. Eins waren auch die Räume mit allem, was geschah in ihnen. Kinderzimmer, Küche, Speiseraum, Esszimmer, Wohnzimmer, Küche – Bad. Der große Bastelraum im Kindergarten war dein Raum gewesen. Du warst so dankbar für den Kindergarten und auch für die Schule, auch wenn es dir zu viele Kinder waren, zu viel Bewegung, zu viel Chaos, zu viel des ineinander grell verschlungenen Lärms. Aber es waren deine Räume, denn nie kam Papa dich hier holen.

    Er kam am Wochenende oft zu spät zum Essen und machte immer irgendwelche Sachen und Erledigungen, war lange im Verborgenen beschäftigt oder einfach weg, verschwunden. In Kellern, Schrebergärten, Werkstätten, Stammtischen, Höfen. Und dann nahm er am Esstisch schweigend Platz, und niemand fragte. Obwohl sie schon gebetet hatten. Dann aß er, ohne selbst zu beten. Vielleicht hatte er vorher gebetet…. Du aber warst stets pünktlich da, weil du es mochtest, bei Tante Lena in der Wohnung zu spielen, wenn sie kochte. Hier war alles leicht, die Zimmer waren heller als zuhause, man durfte überall hin. Vor allem gefiel dir die alte braune Nähmaschine mit dem großen Pedal. Hier war alles Gute aus der Vergangenheit herübergerettet worden und hatte den wertvollsten Platz im Haus bekommen. Tante Lena lebte gut mit der Vergangenheit zusammen und haderte nicht mit ihr wie Mama, Papa und die ewig Gestrigen im Dorf. Der Duft von Kohlrouladen, Klößen, Braten oder Rotkraut breitete sich langsam in den Zimmern aus, und Tante Lena war beim Kochen nicht verbannt in eine abgelegene Küche wie Mama zuhause. Man sah sie stets vergnügt durch die weit geöffnete Türe neben dem Speisezimmer die Geheimnisse ihrer Kochkunst feiern. Manchmal rief sie:

    „Johanna, bist Du da? Sei so gut, hol mir den Nachtisch aus dem Keller ..."

    Und auch der Keller war nicht dunkel, sondern voller kulinarischer Geheimnisse.

    Alles war leicht. Und die einzige Schwere war das Gebenedeit-Gebet, das nie fehlte vor dem Essen, und niemand fehlte außer manchmal Papa.

    „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unsres Todes. Amen."

    Du wusstest, dass du Sünderin warst, aber du warst froh, dass du noch nie beten musstest, auch im Kindergarten durftest du nie aufsagen, obwohl du dies vielleicht sogar wolltest, man traute es dir einfach noch nicht zu, aufsagen durften nur die Jungen und die forschen Mädchen. Du warst kein lautes Mädchen.

    Der Tod war jeden Tag anwesend im Gebet. Auch andere Familien im Dorf kanntest du, in denen der Tod mindestens einmal seine Macht ausgespielt hatte. Seine Macht ausspielen hieß nicht die Alten zu sich holen, die immer häufiger vom Tode sprachen, von Petrus und vom Sensenmann. Des Todes Macht ausspielen tat er an den Kindern und den Zwanzig- oder Dreißigjährigen. Wenn du so etwas hörtest, wie es einen mitten aus dem Leben riss, dann wanderte die Phantasie umher, je weniger davon gesprochen wurde, desto stärker. Und dann bekamst du doch nur häppchenweise Auskunft. Du fragtest kaum mehr. Dann landete die Phantasie auf einem klammen Bett zuhause oder in den riesigen Gewölben der Familiengräber, zu denen du mit Tante Lena manchmal durftest gießen helfen – im Alltag jener selbstverständlichen besuche auf dem Friedhof nach dem Marmeladekochen und dem Wohnungsputz. Und immer war auch Jesus da, wenn irgendwo gestorben wurde. Er war ein bisschen schuld, er war für uns gestorben, wie alle sagten, und hatte vielleicht für alle die zu früh Gestorbenen ein viel zu gutes Vorbild abgegeben. Zu früh gestorben war vor allem Falk, zwei Jahre, nachdem er hergezogen war, nach einem gemeinsamen Jahr im Kindergarten und einem in der Schule, Falk, der, dies hat man allen in der Klasse erzählt, von seinem Bruder auf dem Traktor überfahren worden war, mit diesen großen Reifen - nie konntest du verstehen, dass er nicht einfach laut genug gerufen, ja, geschrien hatte, du hattest immer wieder nachgedacht, sogar geträumt davon, wie denn ein Bruder seinen Bruder rückwärts mit dem Traktor überrollen konnte – ach, wäre es doch nur ein Bein gewesen, auf ein Bein konnte man verzichten, manchmal dachtest du, du hättest gerne auf ein Bein – vielleicht eher einen Arm, den linken – verzichtet, um Falk wieder lebendig zu machen. Dann hättet ihr beide eine Gliedmaße weniger und würdet euch dennoch freuen. So war der einzige vernünftige und ruhige Junge aus deiner Klasse, der kein Rabauke oder Hänsler war, von heute auf morgen verschwunden gewesen, und du wusstest noch nicht mal, ob es ihm weh getan hatte. Du wusstest nur, dass euer Lehrer, Herr Heinz, seitdem verändert war, gebeugt, ja fast gebrochen, vielleicht auch haderte er mit Jesus. Du wusstest auch, dass Falk bei seiner und bei deiner Mutter Gottes war, sie nahm ja in ihr großes Herz all die zu früh Gestorbenen auf und schenkte Trost…

    Du warst kein lautes Mädchen, weil es dir nie in den Sinn kam, laut zu sein. Du bogst dich wie Schilfgras unter dem Wind, etwas anderes kanntest du nicht, und etwas anderes wurde von dir auch nicht erwartet. Für Wut, Trotz, Treppentrampeln und Türenschlagen war deine Schwester zuständig, und niemand machte ihr diese Auftritte streitig. Deine Rolle war es, gedämpft zu sein, geschmeidig und geräuschlos, du hattest eine nahezu Vollkommenheit entwickelt, Störungen vorauszuahnen und zu verhindern. Du warst für andre da.

    II

    Das neue Bad lag in einem separaten Anbau. Sie hatten es an mehreren Wochenenden hingeklebt, Stein für Stein. Die Männer, die den Zement gemischt und die Ziegelsteine herbeigeschleppt hatten, waren keine Maurer gewesen, und hatten besonders stark geschwitzt; sie waren Feldarbeit gewohnt, die Arbeitshosen grün, nicht blau, und lange Kaffeepausen mit belegten Broten. Das Bad war viel moderner als das Haus. Man musste durch die Eingangstüre und die Garderobe. Am Schuhregal vorbei. Vorbei am Ölbild eines bärtigen Opas, der Pfeife rauchend selbstgenügsam in den Vorraum blickte und die Welt an sich vorbeiziehen ließ. Vorbei an jenem Hutständer, dessen schwarze Arme, wenn sie unbeladen waren, gefährlich in den Eingangsraum hineinragten. Dann die zwei Treppenstufen, Stolpersteine, Grund für viele blaue Flecken. Der Fußabstreifer am Fuß der Türe, die ein milchig gelbes Glas einrahmte, das den Blick nicht frei gab, sondern nur zerstreute. Das Bad in blassen, gelben, grünen, braunen Tönen. Das Bad.

    Sie waren den ganzen Tag draußen gewesen. Schule und Kindergarten waren geschlossen. Die Zeit war schon mit einer Woche Ferien angefüllt. Mama war beim Einkaufen, einer ihrer langen Touren über den Markt und die Höfe. Zuerst waren sie durch die Oleanderbüsche gelaufen, die über den Steinweg hingen, und die sie sachte vorbeischieben mussten, um sie nicht abzuknicken. Dann kam immer dieser süßlich leicht verwesende Geruch – nie wusste sie, woher er kam, von Pflanzen, von den Komposthäufen, den Schnecken, oder gar den Nachbarn, besonders wenn es vorher stark geregnet hatte. Sie sprangen über runde Trittsteine, aber diese waren im Abstand erwachsener Schritte gelegt worden, daher landeten sie oft in den Beeten, und an ihren Schuhen klebten große Brocken Erde, die erst mit der Zeit wieder abfielen. Johanna öffnete die hintere Gartentüre, und sie sprangen hindurch. Ihr Lieblingseck war die versteckte Laube, kaum einsehbar, mit dieser großen Schaukel, die die anderen „Hollywood" nannten. Ihr Onkel und der dunkelhaarige Franz hatten sie herbeigeschafft, sie sah die beiden immer noch die Heerstraße entlang laufen, die große rote Schaukel mit dem riesigen überhängenden Dach, den Ketten, den gelben und türkisen Blumen schleppen wie ein Großtransport, die Leute blieben auf der Straße stehen, die Autos hielten, weil der Gehweg zu schmal gewesen war. Die Schaukel passte in die Ecke wie angegossen – nie sah sie ihren Vater schleppen, ihr Vater organisierte und kam wenn alle Arbeit getan war. Nie sah sie ihren Vater dort sitzen, auf der Schaukel saßen immer nur die Frauen und die Kinder, man saß dort, um zu stricken, um erdige Gelbe Rüben vom Grünzeug zu befreien, das den Stallhasen hingelegt wurde, um warmen Apfelkuchen zu essen, den die Tante im Korb mitbrachte für alle. Der Stoff war schon nach kurzer Zeit zunehmend angegrünt und glich sich diesem Garten an. Man spielte mit den Puppen auf der Schaukel, die nicht müde wurde, schwerfällig hin und her zu wippen und leise, nur ganz leise zu quietschen anfing seit dem letzten Sommer – erst später wurde es so laut, dass man das Schaukeln im Hause hören konnte.

    Sie setzten sich beide und fuhren gleich wieder hoch, der Stoff war vollgesogen mit Regen von heute Nacht, und beide Kleidchen wurden nass am Po. Frieda sah auf ihre Uhr.

    „Oh, vier Uhr schon. Ich müsste längst zuhause sein."

    Seitdem sie ihre Uhr bekommen hatte, war sie angespannter, und musste immer wieder darauf sehen, die Uhr hatte sie in eine Verantwortung katapultiert, jetzt musste sie um so und so zuhause sein, und dafür konnte sie gescholten werden, denn sie hatte ja eine Uhr, die ging. Johanna würde nie eine Uhr haben wollen, die so unbarmherzig Macht über ihren Tag hatte – und tatsächlich würde es lange dauern, bis man ihr eine kaufte, auch das traute man ihr noch nicht zu.

    Frieda war aufgeregt.

    „Papa kommt heute Abend schon nach Hause, rief sie. „Wir müssen alle unsere Zimmer aufräumen und den Hof kehren. Bis morgen!

    Und lief durch das Gatter, verschwand hinter der alten Scheune. Johanna beschloss, die Hasen aus dem Stall zu holen und sie mit Löwenzahn zu füttern. Sie lief ins Haus, um den rostigen Schlüssel vom Stall in der Küche zu holen. Erschrak kurz, als sie Papa am Treppenaufgang sah mit dem Schraubenzieher und der Rohrzange in der Hand. Sie dachte, sie sei alleine zu Haus.

    „Da bist Du ja."

    Papa sah sie nicht an. Der Hut auf seinem Kopf sah in der Wohnung seltsam aus, so fehl am Platz.

    „Deine Mutter hat gesagt, Du sollst heute Nachmittag baden. Wir gehen heute Abend in die Kirche, nicht morgen. Ich lass das Wasser rein. Geh und hol ein frisches Kleid."

    Er ging zum Bad, nahm schwerfällig seinen Hut ab und setzte ihn auf den Hutständer. Sie zögerte nicht. Eine Antwort von ihr war nicht vorgesehen. Wie in Trance ging sie die Treppe zum Kinderzimmer (Marlene, wo war ihre Schwester Marlene?). Sie hatte nur zwei Kleider für die Kirche. Sie nahm das weiße, und weiße Unterwäsche.

    Papa stand schon im Bad und ließ das Wasser in den Boiler laufen. Sein grünes Hemd zerknittert, die Knöpfe oben offen, der sorgsam gekämmte Scheitel über den Kotletten. Die braune Hose mit Farbspritzern. Er war Maler.

    Er war zu sorgsam. Seife, Haarwaschmittel. Sogar das Handtuch hing schon auf der Stange. Dies war das Irritierendste. Das Bad ist für die Frauen.

    Sie zog ihr nasses Kleid zögernd über den Kopf. Der Wasserkessel fing zu dampfen an, und Papa ließ das Wasser im Strahl in die gelbe Wanne. Sie suchte die kleinen Töpfchen, die sie immer nahm, um die Fontänen im Park zu imitieren, es waren fünf, und jedes hatte ein Tier auf der Seite, drei hatten ein Loch. Das Regal mit den Badespielsachen war leer, jemand hatte aufgeräumt, alles sah sauber aus, so dass sie auf der Seite suchte, die Töpfchen waren weg, sie suchte unterm Milchglasfenster und kreuzte seinen Blick, der auf sie gerichtet war wie ein Raubtier, gleich wollte sie wieder zur Seite sehen, da bemerkte sie, dass er nicht in ihre Augen blickte, sondern mit glasigem Blick ihren Körper betrachtete, wie ferngesteuert, sie hörte sein Atmen, die Luft, die schwer durch seine Nasenlöcher entwich. Sie zögerte, die Unterhose auszuziehen, bis sein Signal kam, das Wasser sei nun richtig. Er lief zur Türe und drehte den Schlüssel leise nach rechts, sie stieg in die Wanne und wusste, dass sein Blick ihr von hinten folgte, das Wasser war warm, ein wenig Schaum hatte sich auch gebildet, aber kein Spielzeug, nichts. Sie saß unbewegt, während er den Hocker holte, sich mechanisch neben die Wanne setzte und sie mit seiner rechten Hand, die fest, bestimmt und auch ein wenig zärtlich war, den Rücken, Bauch, die Beine einseifte, während sein Atem schneller ging, sie sah die ganze Zeit zum Milchglasfenster, sah die Fassung, die weiße Farbe, die schon anfing abzublättern, obwohl das Bad so neu war, und schemenhaft den Hut dahinter, den Papa zum Grüßen heute Abend in der Kirche abnehmen und den ganzen Gottesdienst in seiner Hand behalten würde. Seine große Hand fuhr fort, den Körper zu erkunden, und wieder fing sie an zu hoffen, dass er ihr weh tun möge, er tat es nicht, warum tat er es nicht?

    Sie hörte, wie er den Reißverschluss seiner Hose mit der anderen Hand herunterzog, jetzt war ein unterdrücktes Stöhnen zu hören, nie würde sie dies sehen wollen, was sich auf dem Hocker neben ihr abspielte, nur im Augenwinkel war die Haltung ihres Vaters wie die der Bauern, wenn sie ihre Kühe molken. Sie dachte wieder daran, wie sie Hüte hasste, jeglicher Art. Ihre Gedanken wanderten zur Schaukel, sie beschuldigte die Uhr von Frieda, dass sie nicht dort saßen beide. Sie ging die Messe durch, die sie erleben würde später in der Kirche, sie wusste, dass sie Sünderin war, es war gut, dass es vor der Messe passierte, dann bat sie um Vergebung, dass sie sich zwischen ihre Eltern drängte, er hat doch Mama, aber wer ist er, sie wusste, dass es nicht der Vater war, der neben ihr keuchte, es konnte nicht derselbe sein, neben dem sie später die Kirchenbank teilen würde, den Hut auf dem Schoß, es war ein anderer, vollkommen anderer. Sie wusste nicht, dass dieser andere auch durch Gedanken irrte, Bilderfriedhöfe durchwatete, und beide litten, aber danach war es besser.

    (Der Schock saß ihnen noch tief im Körper, die hinterlistigen Polacken hatten Knut am Arm getroffen, bevor sie alle eliminiert wurden. Knut war immer weißer geworden, sie hatten ihn im Lazarett diesseits zurücklassen müssen, weil sie rasch weiterzogen, um sich mit der Zweiten Einheit zu verbünden. Auch hier hatte er die Rolle des Technikers gespielt, hier, ohne Sanitäter, abbinden, desinfizieren, dann die Spritzen, sie hatten ihn alle machen lassen, so wortkarg er war, so effizient war sein überlegtes Handeln, während sonst Unruhe und sinnlose Bewegung aufkamen, wie auch sonst bei all den Hutmachern, Goldschmieden und Kontoristen, die sie in die Uniformen gesteckt hatten, er war der Besonnene und auf ihn konnte man sich verlassen, er konnte die Zelte so aufrichten, dass sie nicht wackelten, er kannte die Mechanik der Gewehre wie im Schlaf, er nähte Kleidung wie ein Schneider, war so geländekundig wie ein Gebirgsjäger, und er wusste wie man die Freischärler einkeilte und wie sie eliminiert werden konnten mit geringstem Verlust an Munition, diese slawischen Gesichter mit den abstehenden Ohren, warum wehrten sie sich alle und rotteten sich zusammen, er verstand es nicht, früher oder später war sie so oder so unser, die ganze Gegend, im Zweifelsfall Partisanen, sagt der Spieß - aber er selbst war nie dabei, wenn sie erschossen wurden, er plante die Gruben, berechnete den Sprengsatz für die Brücke, aber wenn es losging, war er schon weter. Niemand sah ihn um Knut trauern, überhaupt war es eher das Material, was ihn interessierte, er konnte sich stundenlang mit Eisen und Holz, Tuch und Blech, Nadel und Faden, und mit der Zündapp beschäftigen. Sie schafften es auf der Landesstrasse nach Janów, schlussendlich, und alles war so geordnet gelaufen, die Kameraden hatten gute Arbeit geleistet, die Stadt war besetzt und peinlich gut organisiert, sie wohnten wieder wie Menschen, aßen Fleisch und Kartoffeln, und nur ihn mussten sie überreden, ins Blaue Haus zu kommen, Junge, alles paletti, Schluss mir der Selbstzucht, genügend „Material, mein Guter, kennst die Truppe doch, ausgesuchte Mädels, keine Jüdinnen, sauber, durchorganisiert und ohne Tripper, der Spieß lädt alle ein, durch die heilgebliebene Tür ins Blaue, Egon voran, der Helmut, der lange Ernst, dann Hans - du und nicht Ernst müsstest eigentlich „Ernst heißen, hatten sie mehrmals geflunkert - was guckste so bedebbert, haben wir doch verdient, vorbei an den zwinkernden Wachen, an der Dame des Hauses, auf die Polin zu, eine der Unsrigen, eilfertig und umsorgend auf sie zueilend, warm gestikulierend, die Alte mit dem roten Kopftuch und dem Blümchenkleid über den Schwimmringen, den ausgetretenen Stiefeln, „eingetreten, eingetreten, Freunde", was für ein Geschäft läuft da ab, den Helmut komplimentiert sie zuerst hinauf, wo haben sie nur den roten Teppich aufgetrieben, der die Holztreppe rauf schleicht, das sieht er vom dunklen Gang aus, er darf im überdachten Innenhof Platz nehmen, sogar eine Pflanze hat sich hierher verirrt in einem mediterranen Kübel, links und rechts eine Mischung von eifrigen Verwaltungsgesichtern und

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