Spiritualität - ganz ohne Spiritualität: Versuch einer ganzheitlichen Sicht menschlichen Daseins
Von Anton Weiß
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Buchvorschau
Spiritualität - ganz ohne Spiritualität - Anton Weiß
Vorwort
Ich möchte mit dieser Abhandlung einen Schlusspunkt setzen, weil ich glaube, nun alles gesagt zu haben. Es soll ein Gesamtbild dessen entstehen, wovon ich überzeugt bin. Deshalb möchte ich noch einmal alles ansprechen, was in den vorangegangenen Arbeiten schon verschiedentlich sichtbar wurde. Ich bitte daher um Verständnis, wenn schon Gesagtes hier noch einmal auftaucht, zum Teil als direkte Übernahme aus meinen früheren Abhandlungen.
Die Formulierung des Titels ist paradox, aber doch leicht verständlich zu machen: Das, was von vielen als Spiritualität angesehen wird, ist von östlichem Denken, besonders insoweit es von Advaita Vedanta her kommt, beeinflusst. Was ich als Spiritualität ansehe, verzichtet aber weitgehend auf diesen gedanklichen, in der Vedanta-Tradition verwurzelten Überbau. Wer nur das als spirituell gelten lässt, wenn Gedankengänge wie „Ich bin das Absolute, „es gibt nur das eine Bewusstsein
, „die Welt ist eine Illusion" im Vordergrund stehen, dann kann man das, was ich vertrete, nicht als spirituell bezeichnen. Ich sehe aber in dem, was ich erkannt habe, das Ziel aller Religionen, also das, worum es in der Spiritualität geht. Ich halte meine Sicht sehr wohl für spirituelles Denken, auch wenn es weitgehend – nicht immer - ohne das Absolute, das universale Sein oder Gott auskommt.
Sie werden sich als Leser im Verlauf der Lektüre selbst ein Urteil bilden können.
Noch etwas: Meine Darlegungen klingen häufig nach Behauptungen. Im Grunde aber sind sie lediglich Beschreibungen aus meinen gewonnenen Überzeugungen.
Spiritualität contra Spiritualität
Das Thema mag etwas befremdlich erscheinen, es drückt mein Anliegen aber vollgültig aus. Es geht mir darum, Spiritualität von ihrem Nimbus, den sie gerade durch den Einfluss östlicher Vorstellungen hat, zu befreien und den wesentlichen Kern sichtbar zu machen.
Wenn ich das sage, dann heißt das natürlich – wie immer -, dass dies meine Erfahrung und deshalb meine Überzeugung ist. Es hat natürlich jeder das Recht, die Dinge so darzustellen, wie er es für richtig hält. Ich tue das hiermit auch.
Mir geht es darum, Spiritualität ohne jeden spirituellen Überbau aufzuzeigen, weil dieser nur irreführt, anstatt einem Suchenden den Kern zu zeigen, um den es geht. Es geht eben nicht darum, durch Meditation, Yoga-Übungen, Konzentrations- oder Entspannungsübungen zu einem Zustand zu gelangen, der einen hinaushebt über das als begrenzt erfahrene existenzielle Sein.
Auch ich bin überzeugt, dass wir uns in einer Begrenztheit vorfinden und dass es Ziel des Lebens ist, diese Begrenzung aufzuheben, zu durchbrechen oder wie immer man es formulieren will. Dieses Durchbrechen der Begrenzung wird von vielen als Erleuchtung bezeichnet. Mir liegt die Bezeichnung „Befreiung", die auch gebraucht wird, näher, denn es geht wirklich um die Befreiung aus einem gefangenen Zustand.
So sehr die beiden Begriffe parallel gebraucht werden, so weisen sie doch in sehr verschiedene Richtungen: In Erleuchtung ist das Wort „Licht" enthalten, sie hat mit dem Licht der Erkenntnis zu tun; es geht um die Erkenntnis des Einsseins mit dem universalen Geist, dem Absoluten. Alles Bemühen eines Suchenden richtet sich darauf, durch Erkenntnis dieses Einsseins die Sprengung der Fesseln zu erreichen. Aus meiner Sicht ist das zum Scheitern verurteilt. Mir geht es darum, aus der Gefangenheit im Ich befreit zu werden, und das ist ein ganz existenzielles Geschehen und hat nur am Rande mit Erkenntnis zu tun.
Sehr vieles, was in der spirituellen Literatur zu finden ist, sind lediglich intellektuelle Gedankenspiele, die keinerlei Bedeutung für das, worum es geht, haben. Ich möchte dafür ein Beispiel bringen:
Bei Liquorman stellt ein Suchender folgende Frage: „Ich würde diese Hinweise – vorausgegangen war der Gedanke: Was ist, ist einfach – gerne besser verstehen. Wie Hinweise auf die Wahrheit. Du hast gesagt, dass der Verstand unmöglich die Quelle kennen kann, weil er ein Charakter in dem Gemälde ist, und um das Gemälde zu kennen, müsste er sich vom Gemälde trennen, was er aber nicht kann. Deshalb kann er die Totalität oder Quelle nicht kennen. Auf der anderen Seite sprichst du über die Quelle: dass alles, was ist, Bewusstsein ist. Jedoch kann der Körper-Verstand-Mechanismus es nicht wissen. Was ist also der Hinweis, der dir erlaubt, darüber zu sprechen? Ist es ein intuitives Verstehen?"
Das ist eine von vielen von Hunderten von Fragen, die Weisen von Suchenden gestellt werden, und in der Regel bemühen diese sich, darauf eine Antwort zu geben. Die Frage ist aber rein vom Verstand, also vom Ich her gestellt, und keine noch so einleuchtende und richtige Antwort wird auch nur das geringste bewirken. Solange nicht begriffen wird, dass genau dieses Ich, das die Frage stellt, transzendiert werden, also über Bord gehen muss, solange wird absolut nichts passieren. Der Fragesteller fühlt sich mit einer zufriedenstellenden Antwort nur um so sicherer in seinem Ich-Gebäude.
Zwei weitere Beispiele: Bei Harding (86) stellt ein Teilnehmer folgende Frage: „Glauben Sie, dass Gefühle wie das des Mitgefühls als etwas gelten könnte, das von dem Einen herkommt? Bei Kruse (197) äußert ein Teilnehmer: „Dass kein Denker oder Macher oder Besitzer da ist, das sehe ich. Und was mache ich jetzt damit?
Solche Fragen und deren Beantwortung bringen den Fragesteller keinen Schritt weiter. Im Hintergrund des Fragenden befinden sich weitere 10 000 Fragen, von deren Beantwortung er sich erwartet, dass sie seinen Wissensdurst befriedigen, seine Erkenntnisse erweitern werden. Es kann durchaus sein, dass er ein Wohlgefühl nach der Beantwortung seiner Frage hat und sich in seinen Auffassungen bestätigt fühlt, oder er lernt, die Dinge etwas anders zu sehen, was ebenfalls einen beglückenden „Aha"-Effekt auslösen kann. Damit glaubt er sich seinem Ziel einen, wenn auch nur kleinen, Schritt näher. Aber er irrt sich. Es kommt nicht darauf an, ob die Frage in der einen oder in der gegenteiligen Richtung beantwortet wird. Davon hängt für die Situation im Ich überhaupt nichts ab. Der mögliche Erkenntnisgewinn hat überhaupt keine Bedeutung für das Stehen im Ich. Daran ändert sich überhaupt nichts, aber nur darum ginge es.
Der Fragesteller müsste dahin geführt werden zu erkennen, dass das Problem in seiner Art der Fragestellung liegt, denn sie erfolgt immer vom Ich her. Das Problem liegt darin, dass er als Ich diese Frage stellt und glaubt, durch Beantwortung dieser Frage das zu finden, was er sucht: Die Befreiung vom Ich. Und so kann es nicht gelingen.
Dem möchte ich die Frage eines Suchenden gegenüber stellen, die die Ich-Problematik ganz existenziell berührt: „Grundsätzlich steckt der Mensch voller Ängste, am meisten vor sich selbst. Ich fühle mich wie jemand, der eine Bombe mit sich herumträgt, die irgendwann explodieren wird. Er kann sie nicht entschärfen, er kann sie nicht wegwerfen. Er ist zu Tode geängstigt und sucht wie wahnsinnig nach einer Lösung, findet aber keine. Für mich heißt Befreiung, diese Bombe loszuwerden. Ich weiß nicht viel über die Bombe. … Manchmal möchte ich jemanden töten oder mich selbst. Dieses Verlangen ist so stark, dass ich permanent in Angst lebe. Und ich weiß nicht, wie ich mich von dieser Angst befreien kann" (Nisargadatta, Ich bin I, 127).
Wenn Sie, lieber Leser, keinen großen Unterschied zwischen den ersten und der letzten Frage sehen, dann kann ich nur hoffen, dass Ihnen das im weiteren Verlauf der Lektüre klar wird. Für mich könnte der Unterschied nicht größer sein. Beiden gemeinsam ist nur eines: Beide Aussagen erfolgen von einem Ich her. Aber während bei dem ersten sowohl beim Fragenden als auch beim Antwortenden die Gedanken lediglich intellektuelle Überlegungen darstellen, steht beim zweiten die Existenz auf dem Spiel. Hier ist das Ich bereits an die Grenze der Verzweiflung vorgedrungen, und die Antwort ist für ihn, im Gegensatz zum ersten, von existenzieller Bedeutung.
Dieser Vergleich zeigt besser als jede theoretische Darlegung, worin ich den Unterschied zwischen einer sogenannten Spiritualität sehe und dem, worum es mir geht, nämlich um die Transzendierung des Ichs, die den Menschen in seiner gesamten Existenz erschüttert.
Ich komme inzwischen weitgehend ohne jeden theoretischen Hintergrund aus, ohne: „Du bist der Ursprung der Welt, „Du bist das Eine
oder wie immer solche Formulierungen lauten.
Spiritualität in jenem Verständnis ist der Irrtum zu glauben, dass sich die Dinge des Lebens viel leichter werden organisieren lassen, wenn ich erleuchtet bin. Es ist die Hoffnung, ein leichteres Leben zu haben, vor allen Dingen das Leid, das einem aus sich selbst entsteht zu beseitigen. Es wird viel Bemühen hineingesteckt in Meditation und alle anderen Praktiken, um sich über das öde Alltagsleben hinauszuheben.
Das halte ich für ein völliges Missverständnis. Es ist immer das Ich, das unter der Mühsal des Lebens leidet und dem entfliehen zu können glaubt. Dieses Ich ist die Ursache des Übels und nicht die fehlende Erleuchtung, aber das kann von den meisten nicht erkannt werden. Es ist immer ein Ich, das auf Erlösung oder Befreiung hofft, das die Bürde dieses elenden Lebens loswerden möchte, in das es verstrickt ist. Aber es geht überhaupt nicht darum, ein leichteres und angenehmeres Leben zu haben. Das ist der Wunsch eines Ichs. Es geht auch nicht um einen erhebenden Zustand, in dem die Last des Lebens von einem abfällt, so wie es sich viele vom Drogenkonsum erwarten und auch erhalten. Nur braucht man dann ständig die Droge und wird dadurch zunehmend ruiniert, sowohl körperlich, als auch geistig, seelisch und in seinen sozialen Kontakten.
Wer sich auf den Weg der spirituellen Suche begibt in der Hoffnung, das „niedere Leben hinter sich zu lassen, wird kein Ziel erreichen. Solange nicht wenigstens intellektuell begriffen wird, dass das Ich-Sein die Ursache aller Misere ist, dreht sich immer alles im Kreis. Er wird von Guru zu Guru wandern, Buch um Buch lesen in der Hoffnung, dass das Entscheidende doch irgendwann passieren müsste. Und immer, wenn er erhebende Erlebnisse hat, wird er glauben, dass er „Es
nun hat, dass endlich der Schleier gefallen ist, aber kurze Zeit später oder wenn er wieder in seinem Alltagsleben steht, ist alles verflogen und zurück bleibt ein enttäuschter und verwirrter Suchender, der