Das Leben genießen - trotz und durch Spiritualität
Von Anton Weiß
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Buchvorschau
Das Leben genießen - trotz und durch Spiritualität - Anton Weiß
Hinführung
Der ursprüngliche Titel lautete: Das Leben genießen – trotz Spiritualität. Und da habe ich gedacht: Für jemanden, der diesen Titel liest, kann das eigentlich nur bedeuten, Spiritualität jemandem schmackhaft machen zu wollen, der vielleicht nicht so viel damit am Hut hat, sozusagen sich denen anzubiedern und die fangen zu wollen, die eher einen Bogen um Spiritualität machen.
Das entsprach aber nicht meiner Absicht. Meine Absicht war zu zeigen, dass es ein Missverständnis ist, wenn man glaubt, dass spirituelles Bemühen einen dazu anhält, auf viele Dinge des Lebens – genussvolle Dinge! – verzichten zu müssen. Dass dieses Denken verbreitet ist, zeigt z. B. die Frage eines Teilnehmers bei einem Vipassana-Kurs: „Ja, darf ich mich dann gar nicht mehr freuen, wenn meine Fußballmannschaft ein Tor schießt?"
Gerade wenn man sich mit Buddhismus beschäftigt, dann wird einem im Achtfachen Pfad nahegelegt, dass man keine berauschenden Getränke zu sich nimmt, natürlich keine Drogen, Sex nur in streng geregelten Bahnen lebt – am besten sich ganz enthält -, im Prinzip also allen Sinnengenüssen entsagt.
Therese von Lisieux hat sich Asche auf ihr Brot gestreut, um ja keinem Sinnengenuss beim Essen des Brotes zu erliegen.
Und dagegen möchte ich anschreiben, denn ich bin überzeugt, dass das ein großes Missverständnis ist, weil eine wichtige Unterscheidung nicht gemacht wird, die zum Verständnis dessen, wie Leben zu verstehen ist, ganz entscheidend beitragen kann. Das möchte ich aufzeigen.
Zwei stehen an der Mühle
Vielleicht kennen Sie folgenden Ausspruch von Jesus: „Dann wird von zwei Männern, die auf dem Feld arbeiten, einer mitgenommen und einer zurückgelassen. Und von zwei Frauen, die mit derselben Mühle mahlen, wird eine mitgenommen und eine zurückgelassen" (Mt 24,40f).
Für mich hat das immer bedeutet: Zwei tun das gleiche, aber der eine ist in seinem Tun gerechtfertigt, während es der andere bei dem gleichen Tun nicht ist. Um es ganz konkret zu machen: Zwei haben Sex, bei dem einen ist es in Ordnung, bei dem anderen nicht; zwei trinken ein Glas Wein, bei dem einen ist es in Ordnung, bei dem anderen nicht, zwei verdienen ihren Lebensunterhalt auf eine bestimmte Weise, bei dem einen ist es in Ordnung, bei dem anderen nicht.
Was ist das, was einen so entscheidenden Unterschied macht, dass das gleiche Verhalten beim einen gerechtfertigt ist und beim anderen nicht? Was sind diese beiden Haltungen, die dem Verhalten zugrunde liegen, von denen her die gleiche Verhaltensweise einmal als richtig und im anderen Fall als falsch angesehen wird?
Ich und Individuum
Im einen Fall geschieht die Handlung aus der Ich-Haltung heraus, im anderen Fall aus einer Haltung, die eben dieses Ich transzendiert hat. Diesen Zustand, in dem das Ich transzendiert ist, nenne ich den individuellen Zustand, das Individuum. Als Individuum zu handeln heißt, im Zustand des natürlichen Seins zu handeln. Andere nennen es vom Selbst her leben, wieder andere reden von der wahren Natur des Menschen, von dem her es zu leben gilt. Es ist der Zustand, von dem Nisargadatta sagt: „Sei einfach."
Den Menschen, der sein Ich-Sein transzendiert hat, als Individuum zu bezeichnen, scheint mir deshalb sehr sinnvoll, weil Individuum „ungeteilt" heißt, also ganz. Der Mensch ist als Individuum eine Ganzheit und das ist das exakte Gegenteil zu seinem Sein als Ich, das den geteilten, getrennten Zustand bezeichnet.
Im Ich ist der Mensch erstens gespalten in Denken und Leben, und zweitens ist er abgetrennt von seinem Grund, aus dem er lebt. Im Zustand des Individuums hingegen ist die Kluft zwischen Denken und Leben überbrückt und er ist mit seinem Grund vereint, er steht mit dem Grund, aus dem