to the sun: Nicht nur eine Radlreise
Von Andreas Hiemeyer
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Buchvorschau
to the sun - Andreas Hiemeyer
Vorwort
Es war einmal ein kleines Reisebedürfnis, das sich seinen Besitzer selbst gesucht hat. Wer es schon einmal in sich hatte, weiß, wie es sein kann – ziemlich lästig und manchmal nagt es sogar an einem. Und wenn man es dann noch aufschiebt und verdrängt, befriedigt es einen nicht wirklich. Bei mir ist es seit Jahren in meinem Kopf. Ich sitze am Frühstückstisch und schaue in meine Teetasse. Es ist Januar 2014. Draußen haben wir niedrige Temperaturen und ich bin kurz davor, mit dem Fahrrad zu meiner Arbeitsstelle ins Gesundheitszentrum zu fahren. Ich schätze meine Arbeit sehr und sie erfüllt mich auch, doch um mein Reisebedürfnis zu stillen und mir meinen Traum von einer längeren Reise mit dem Fahrrad erfüllen zu können, habe ich zum Ende des Monats gekündigt. Ich will mein Reisebedürfnis nicht mehr aufschieben. Ende Februar geht es nach Spanien. Dort radl ich den Jakobsweg entlang und anschließend reise ich auf den Radfernwegen durch ganz Europa. Schlafen werde ich meistens im Zelt und das Essen koche ich auf meinem mobilen Benzinkocher. Schon seit Langem habe ich diese Reise in meinem Kopf und lege dafür monatlich Geld beiseite. Das Equipment habe ich einzeln gekauft und für jedes Teil oft tagelang recherchiert. Es wäre ärgerlich, dabei ein unnützes Tool einzupacken. Außerdem habe ich letzte Woche zwei Radgeschäfte gefunden, die mir ein Schloss, Reifen und andere Ersatzteile sponsern. Die Vorbereitungsphase liebe ich sehr. Hier steigt bei mir die Vorfreude auf die Tour so stark, dass meine Fingerspitzen manchmal richtig anfangen zu kribbeln.
Nach meinem letzten Arbeitstag verstreue ich mein ganzes Gepäck auf dem Boden meines Zimmers. Insgesamt werden sechs wasserdichte Taschen für die nächste Zeit mein Zuhause sein. Die Dauer meiner Auszeit ist flexibel. Grob habe ich sechs Monate angepeilt – was sich aber durchaus noch ändern kann –. An meinem Fahrrad befinden sich zwei Taschen seitlich am Hinterrad und zwei mit einem Low-Rider-Gepäckträger am Vorderrad. Zusätzlich habe ich auf dem hinteren Gepäckträger eine Rolltasche befestigt und vorne montiere ich eine Lenkertasche für meine Kamera und Wertsachen. Jede Tasche hat ihren Sinn. Vorne sind Werkstatt, Ersatzteillager und Rumpelkammer. Die hinteren Taschen dienen als Kleiderschrank, Küche und Ort meiner mobilen vier Wände. Bis zu meinem Abflug am 27. Februar kontrolliere ich jedes Teil in meinem Zimmer noch ein Dutzend Mal, ob es wirklich für die Tour notwendig ist. Je leichter das Gepäck, umso weniger muss ich treten. In der Mitte meiner sauber gepackten Taschen liegt auf dem Fußboden eine Übersichtskarte mit den Radfernwegen Europas. Meine Route beginnt in Santiago de Compostela, führt mich durch Spanien über Frankreich, Irland, England, Norwegen, Schweden, Finnland, die baltischen Staaten, Russland und Polen zurück nach Deutschland. Länge der Strecke: 13.000 Kilometer. So der grobe Plan. In der Vergangenheit habe ich schon ein paar Radreisen unternommen. Sie alle waren allerdings maximal zwei Wochen lang und sind mit meiner mehrmonatigen Reise nicht vergleichbar. Der Grund, warum ich das Rad als Fortbewegungsmittel für meine Auszeit gewählt habe, ist, dass man ohne größere Umweltbelastung längere Strecken zurücklegen kann und dabei noch Land und Leute fernab von Touristenorten kennenlernt. Das Kennlernen von Land und Leuten durch Radreisen hat mich bei meiner ersten Radltour durch Bayern schon begeistert. Hier habe ich das Land, in dem ich aufgewachsen bin, nochmals neu entdeckt. Überall sind nette, freundliche und hilfsbereite Menschen und manch ein Bauernhof hat im Jahre 2011 von Smartphones noch nie etwas gehört.
Die Zeit bis zum lang ersehnten Abflug vergeht schnell und eine kleine Abschiedsfeier mit meiner Familie und Freunden macht mir klar: „Jetzt geht´s bald los! Einen Tag vor dem Start verpacke ich meine Sachen in einer großen Tasche und zerlege mein Fahrrad, damit es in einen handelsüblichen Fahrradkarton passt, den ich als Zusatzgepäckstück aufgebe. Der Abschied von meinen Großeltern am Flughafen am nächsten Tag fällt mir innerlich schon schwer, aber mit Internet und Handy kann ich ja zum Glück jederzeit alle meine Lieben erreichen. Nach der Gepäckkontrolle und dem kurzen Warten vor dem Abfluggate, klopft mein Herz wie wild und in meinem Kopf leuchtet ständig nur ein Satz: „Jetzt geht´s wirklich los!
Ich steige in das Flugzeug und ein paar Minuten später fliege ich über den Wolken in Richtung Abenteuer...
Jakobsweg mal rückwärts – Santiago bis San Sebastián
Eine herrliche, gemütliche Stadt taucht unter dem Flugzeug auf. Kleine, grüne Hügel mit dichten Wäldern zieren den Horizont. Wir landen. Meine anfänglichen Befürchtungen von dem unsicheren Zusammenbauen meines Fahrrades oder wegen etwaiger Diebstähle am Flughafen, lösen sich sekundenschnell in Luft auf, als ich die leere Ankunftshalle betrete. Nach knapp 45 Minuten Fahrradmontage nochmal ein Check, ob alles da ist, wo es sein soll. Dann die erste Fahrt auf meinem Trip. „Freiheit ohne Grenzen", so schießt es mir durch den Kopf. Füße und Hände füllen sich mit Glückshormonen. Ich muss lachen... kaum 150 Meter auf dem Tacho, da muss ich das Rad wenden. Falsche Richtung. Ausgang ist auf der anderen Seite.
– Das geht ja schon mal gut los! –
Die Kathedrale in Santiago de Compostela ist das Ziel verschiedener Jakobswege, die durch Europa sogar von Israel oder England aus starten. Ein Campingplatz in Santiago ist schnell gefunden und so mache ich mich auf zu Stadterkundung und Lebensmitteleinkauf. Im Zentrum treffe ich auf die ersten Wanderschilder „Camino de Santiago". Auf den Wegweisern, verschiedenen Häusern und Kirchen ist oft eine Jakobsmuschel abgebildet. Sie wurde früher von Pilgern als Universalwerkzeug zum Essen und Wasser schöpfen benutzt. Wenn sie dann nicht mehr gebraucht wurde, baumelte sie an einer Kette um den Hals. Heute ist sie Zeichen und Namensgeber des Jakobsweges. Ich selbst traf dieses Naturschmuckstück auf meinem Weg meist bei älteren Herrschaften am Rucksack befestigt oder auf einer Gepäckträgertasche eines Radfahrers an.
Da stehe ich nun – vor der Kirche. Das Ziel endlos vieler Pilger. Der erste Schritt verspricht vieles, doch ich bin zu diesem Zeitpunkt ein wenig enttäuscht. Schöner und prachtvoller habe ich sie mir vorgestellt, jedoch strahlen diese Mauern etwas Anziehendes aus. Der silberne Sarg unter dem Altar ist absolut sehenswert. Ich verweile noch ein paar Minuten auf einer Bank, um mich auf meine Reise einzustellen.
E:\to the sun Buch WORD\bilder für kapitel\Alle Bilder zusammen\1_Jakobsweg 1.JPGAller Anfang ist schwer
„Aufstehen, du Siebenschläfer! Das Abenteuer wartet!" ruft mich meine innere Stimme am nächsten Tag und schon reiße ich den Zelteingang auf. Ein wunderschönes Landschaftspanorama von Santiago erscheint vor meinen Augen, so soll’s losgehen (denke ich leichtgläubig). Zelt verpackt, Zähne geputzt, gefrühstückt, Taschen ans Fahrrad und ab geht die wilde Fahrt! Gleich finde ich den ausgeschilderten Jakobsweg, allerdings ist die Beschriftung nur in Richtung Santiago und nicht umgekehrt! Tja, da hilft nur ständiges Umschauen, ob ich richtig bin, und genaues Analysieren der Pfeile am Boden, aus welcher Richtung der normale Weg kommt.
Bis 17 Uhr laufen die Räder 50 Kilometer und so wird´s Zeit eine Übernachtungsmöglichkeit zu suchen. Drei Herbergen haben zu und freundliche Bauern, die ihr Grundstück für eine Nacht zum Zelten zur Verfügung stellen, suche ich vergebens. So fahre ich insgesamt nochmal 20 Kilometer und beschließe kurz vor Einbruch der Dunkelheit mein Zelt auf einer abgesperrten Wiese zwischen zwei Dörfern aufzuschlagen, in der Hoffnung, dass kein verärgerter Spanier an mein Zelt klopft. Damit dieses Risiko möglichst gering bleibt, stelle ich den Wecker auf 04:45 Uhr.
Pünktlich klingelt mein Wecker am nächsten Morgen. Nachts hat es leider heftig angefangen zu regnen. Als wenn mich das Schicksal mal wieder auf Herz und Nieren prüfen wolle. Meine innere Stimme plaudert: „Geht scho – das kann jetzt nicht so schlimm sein". Ich setze mir meine Stirnlampe im Zelt auf und gehe hinaus in die Dunkelheit und in den Regen. Rasch verpacke ich die Zeltplanen in die Verpackung und entferne einige Äste, die ich als Tarnung über das Fahrrad und die Taschen gelegt habe. Mein Gott – geht mir dabei die Pumpe. Ich fühle mein Herz bis in den Kopf schlagen. Jetzt nur noch das Absperrseil des Grundstücks so spannen wie es ursprünglich war und meine unübersehbaren tiefsinkenden Matschspuren ein wenig verwischen. Ein letzter Kontrollblick über das Gelände und zu den Häusern – Alles ok! Schnell schiebe ich das Fahrrad auf die Straße. Hier kann mich keiner belangen. Und wenn jemand kommt, würde ich einfach versuchen, diesen unwiderstehlichen Blick von unschuldigen kleinen Katzen oder Hunden nachzuahmen, kombiniert mit einem freundlichen Lachen und Nicken.
Das Fahrradlicht gibt mir Sicht und so geht es auf durch die schwarze, verregnete Nacht. Durchnässt und absolut erfroren finde ich im nächsten Ort eine Unterstellmöglichkeit unter einem runden überdachten Brunnen. 05:30 Uhr und wie zu erwarten war – kein Spanier wach. Eine selbstgemachte Tasse Tee wirkt in so einer Situation Wunder, hält jedoch nur 15 Minuten an, ehe es mich wieder fröstelt. Ich fühle mich wie ein Handtuch, das man endlos auswringen kann. Was nun? Soll ich vielleicht nicht doch einfach ein Hotel suchen und warten bis der Regen vorbei gezogen ist? – Nein, so leicht will ich noch nicht aufgeben. Der zweite Tag und schon die Nase voll vom Regen. Das geht doch nicht! Kurz nach dem Ende dieses Gedankens sehe ich, wie eine Frau die Türen ihres Cafés freundlichst öffnet. Also tue ich etwas, was mir persönlich immer weiterhilft. Erstmal eine heiße Schokolade trinken!
Während mir der genüssliche Kakao den Gaumen hinunterfließt, beschließe ich – ich fahre weiter! Um dem Regen und der Kälte zu trotzen, denke ich während der Fahrt immer wieder an die motivierenden Worte: „Geht scho!"
Etwa eine halbe Stunde später hab ich mich warm gefahren. So lange ich in Bewegung bin ist der auskühlende Wind mit seinen Wassermassen kein Problem. Der Weg von Santiago nach Osten ist von vielen Steinbrücken und kleinen Gassen geschmückt. Oft sieht man Moos zwischen den Steinschlitzen der Häuser, das sie noch älter erscheinen lässt. Ab und zu erinnert mich das an die Landschaft aus „Herr der Ringe", im Auenland, in dem alles friedlich und malerisch, ja perfekt aussieht. Anschließend führt der Weg auf hügeligen Schotterpisten durch herrliche Alleen. Ab und zu nehme ich eine kleine Straßenetappe, denn der andauernde Regen verwandelt den Schotterweg in ein undurchdringliches Gemisch für mein Reiserad. – Hier wäre ein leichtbepacktes Mountainbike eindeutig besser gewesen.
Zwei Regentage später gibt es die nächste Kraftprobe. Der Berganstieg von Alto do Poio. Er liegt in einem Gebirge im Nordwesten Spaniens. Insgesamt darf ich, über den Jakobswegabschnitt, zwei Berganstiege bewältigen. Nach dem zweiten habe ich dann etwa ein Viertel der 870 Kilometer bis nach San Sebastián hinter mir. Jetzt aber erst einmal hinauf zum Alto do Poio!
Regelmäßig 10 % Steigung, Gegenwind, Regen und eine angenehme Sichtweite von circa 10 Metern sind alles andere als optimale Bedingungen. Mit meinem Gepäck und dem Fahrrad komme ich auf über 60 Kilogramm – und die müssen da hoch! Die Steigung am Berg zwingt mich, meine Lungen schneller und öfter zu füllen. Der Schweiß kommt aus allen Poren und der Wind peitscht mir frontal ins Gesicht. Die Beine überwache ich ständig und bewege diese so, dass sie mir nicht übersäuern und letztendlich müde werden. Meine Augen befinden sich stets vor der Nebelgrenze auf den Boden gerichtet. Sobald meine Beine bei einer Steigung zu schwer werden, schiebe ich, was auch nicht immer die leichteste Option ist. Der Kraftaufwand entspricht ungefähr dem Hochschieben eines mit Büchern gefüllten Umzugskartons auf eine Rampe.
Auf meiner Lenkertasche befindet sich eine Karte mit Höhenprofil, die ich laufend schnaufend mit der bewältigten Strecke vergleiche. Mangelnde Sichtweite und die stetige Entladung meines körperlichen Akkus bringen mich manchmal der Vorstellung näher, der Ort, in dem ich bin, sei nur eine kleine Trainingsbox mit einem ziemlich steilen Laufband. Während des Anstiegs fühle ich mich, wie wahrscheinlich viele Ausdauersportler, als wäre ich „am Ende der Welt" oder einfach in meiner eigenen...
Für meine Psyche ist es einfacher, wenn ich körperlich schon