Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

EXPAT UNPLUGGED
EXPAT UNPLUGGED
EXPAT UNPLUGGED
eBook389 Seiten4 Stunden

EXPAT UNPLUGGED

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Francesco Zimmermann-Piero, Sohn eines italienischen Architekten und einer deutschen Diplomatin, hat den Großteil seiner Schulzeit mit seiner Familie im Ausland verbracht und dabei seine ganz eigenen Erfahrungen im verführerischen und feudalen Umfeld der Luxus-Gastarbeiter machen dürfen. In munteren und bissigen Kapiteln wie "Oberstudienwas? Ganz locker Herr Hummel, wir sind hier nicht in Niedersachsen" oder "Mutti schmeißt den Laden – Die Expat-Frau: Hochqualifiziert, extrem motiviert und total unterfordert" lässt er seine Leser teilhaben am aufregenden Alltag in der Expat-Erlebniswelt. Dabei fällt dem ersten Jahr der Familie in der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro eine besondere Bedeutung zu. Den Kontrast zu diesem Fünf-Sterne-Leben liefert das oberhessische Dorf Stockfeld, die Heimat der Großeltern des Erzählers, die mit ihrer gelebten Völkerverständigung zu Vorreitern der Globalisierung wurden. Natürlich lassen sie es sich nicht nehmen, auch im Ausland immer wieder einmal nach dem Rechten zu schauen und ihrer Tochter und deren Anhang wertvolles und kreatives Feedback zu geben. Vor allem dem mit allen Wassern gewaschenen Power-Senior Herbert F. Zimmermann gelingt es bei derartigen Besuchen ohne größere Probleme, die ganze Familie auf Trab zu halten und seine Tochter noch mit dem einen oder anderen Auftritt auf der Diplomatenbühne in Erstaunen zu versetzen. Deutschland, Italien, Brasilien ... richtig: Das geht natürlich nur, wenn das runde Leder nicht zu kurz kommt. Nicht nur Fußballfreunden sollte die Lektüre mehr als ein Schmunzeln entlocken. Das Buch endet mit dem Finale der Fußballweltmeisterschaft im Juli 2014.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum12. Nov. 2015
ISBN9783737572484
EXPAT UNPLUGGED

Ähnlich wie EXPAT UNPLUGGED

Ähnliche E-Books

Biografien / Autofiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für EXPAT UNPLUGGED

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    EXPAT UNPLUGGED - Horst Giesler

    Horst Giesler

    EXPAT

    UNPLUGGED

    Imprint

    Expat unplugged

    Horst Giesler

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Copyright: © 2015 Horst Giesler

    ISBN 978-3-7375-7248-4

    e-Book-Konvertierung: Sabine Abels www.e-book-erstellung.de

    Covergestaltung: Ben Butof

    Statt eines Vorworts

    Bis zum Schluss war ich unsicher. Sollte ich gehen oder doch lieber zu Hause bleiben. Die Aussicht auf einen schönen Fußballfernsehnachmittag mit reichlich kühlen Kaltgetränken und Gute-Laune-Garantie schien zu verlockend. Schließlich war es unser Torwart Klaus, der mir am Telefon mit kurzen knappen Worten klar machte, det jeht gar net und er den Jungs schon beibringen werde, warum ich heute nicht dabei sein könne. Ich solle mich da einmal ganz locker machen und auf sein Gefühl verlassen, zumal in seinem Horoskop stehen würde, die Pflege der eigenen Wurzeln nicht zu vernachlässigen. Also kein DFB-Pokalfinale. Stattdessen stand ich um Punkt halb vier in der Sturmiusstraße 24.

    Die Sturmiusstraße kannte ich früher in und auswendig. Auch an diesem Tag kam mir alles sehr vertraut vor. Der Metzgerladen, die kleine italienische Eisdiele mit Café, selbst der Zigarettenautomat klebte noch an der Hauswand. Vor fast 5 Jahren hatte ich hier mein Abitur gemacht, oder wie Opa damals sagte gebaut. Nicht in der Sturmiusstraße sondern in der Harry S. Truman International School, die hier ihren Haupteingang hat.

    Die erste E-Mail kam bereits vor Weihnachten von meinem alten Mathenachbarn Brian, der mittlerweile in Manchester lebt. Brian galt schon damals als der virtuose Organisator, bei dem alle Fäden zusammenliefen.

    "20 Years HST in May. I count on you. No excuses!"

    In den folgenden Wochen und Monaten entwickelte sich ein reger E-Mail-Verkehr und es stellte sich schnell heraus, dass ein Großteil der old boys and old girls das Schuljubiläum nutzen wollte, um wieder einmal nach Berlin zu kommen.

    An den Signatures am unteren Rand der E-Mails konnte ich erkennen, dass aus den meisten anscheinend richtig etwas geworden war. Neben den akademischen Titeln waren es vor allem die fantasievollen Angaben zu den Berufen, die mich mächtig beeindruckten. Wahrscheinlich war das auch ein Grund, warum mich der Gedanke nicht hatte begeistern können und ich bis zum Schluss gezögert hatte, in der Sturmiusstraße aufzulaufen. Studienreferendar für Sport und Italienisch hört sich auch nicht so prickelnd an wie Stellvertretende Abteilungsleiterin der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit und Beziehungsmanagement oder Senior Executive Education Centre Nourishment Production Assistant.

    Also, hier war ich nun und was soll ich sagen: Schön wars!

    Der gut besuchte Nachmittag und Abend war rundum gelungen und wird in die glorreiche Schulgeschichte eingehen.

    Einige waren tatsächlich nur für das Wochenende in die alte Reichshauptstadt gekommen und hatten dafür keine Kosten und Mühen gescheut. Nur ein kleiner Teil der Leute lebt heute noch in der BAföG-Republik und ich weiß nicht aus wie vielen Herren Ländern und Kontinenten sie angeflogen kamen. Unglaublich!

    Mit am besten waren die Begrüßungsszenen. Umarmungen, lautes Geschrei, Küsschen rechts, links, oben, unten. Eigentlich dachte ich, ich wäre aus dem Alter schon längst raus. Aber als dann Queen Lizzy mit ihren Killer-Heels und in ihrem Mikro-Catsuit angestöckelt kam, gab auch ich alles. Es gibt Schlimmeres.

    Noch besser aber waren einige Abschiedsszenen. Obwohl sich manche viel Mühe gaben, diese nicht mehr ganz so öffentlich zu zelebrieren wie die Begrüßungen kam es zu später Stunde zu einigen erstaunlichen und originellen Verabschiedungszeremonien. Von wegen allet Jute!

    Alkohol und Hormone fegten jegliche Bedenken beiseite. Das hätte man dem einen oder der anderen gar nicht zugetraut. Wenige Stunden vorher hatten sich die honorigen Heile-Welt-Geschichten zu den Smartphone-Fotos mit ihren besseren Hälften noch perfekt angehört. Doch nun, ganz entspannt im Hier und Jetzt, kannten einige dieser Spießer kein Halten mehr und glaubten Turtel-Alarm auslösen und wilde Welt spielen zu müssen. Das hatte schon wieder Klasse. Respekt!

    Ich? Dachte schon, es interessiert niemanden.

    Ich war ganz brav. Frauentechnisch lief da gar nichts.

    Während an den anderen Tischen die gezähmten Alltagshelden mit angezogener Handbremse zu parlieren, vornehm im laktose- und glutenfreien Essen rumzustochern und an den Gläsern zu nippen begannen, herrschte am Marshall Plan Table gleich Bombenstimmung. Sehr schnell hatte sich an diesem Abend die alte Garde vom Eiscafé zusammengefunden und mit jeder Pilsette mehr wurden die Geschichten von alten Zeiten Herrlichkeiten besser und besser.

    Dabei ging es nicht nur um Anekdötchen und Pausenhofromantik von der alten Penne. Mindestens genauso interessant waren die Storys, die einige von ihren zahlreichen Aufenthalten im Ausland zum Besten gaben. Hier war ich in meinem Element. Von meinen insgesamt 15 Schuljahren (ich weiß, ich weiß …!) hatte ich so Pi mal Daumen achteinhalb im Ausland verbracht und war somit bestens qualifiziert, die Moderation an diesem Abend zu übernehmen.

    Als mir auch noch Wochen später viele dieser kuriosen Eskapaden von längst verflossenen Tagen durch den Kopf geisterten, tat ich etwas, was mir sonst nicht so leicht fällt. Ich fasste einen Entschluss.

    Die Erinnerungen an die aufregenden Jahre im Ausland und die damit verbundenen Turbulenzen und unvergesslichen Schul- und Familienmomente mussten für die Nachwelt gesichert werden.

    Auch wenn ich mich bis heute nicht zu dem Global Player entwickelt habe, wie es mein größter Förderer und Cheerleader, Opa Herbert, bei meiner Geburt prophezeit hatte, waren die Jahre prägend und haben nicht nur bei mir bleibende Spuren hinterlassen. Irgendjemand musste diese Episode unserer illustren Familien-Chronik festhalten. So empfand ich das und die Nachwehen des Abends in der Sturmiusstraße machten mir klar, dass es höchste Zeit war, damit anzufangen.

    Als angehender Hochleistungs-Pädagoge wusste ich, die nächsten Ferien kommen bestimmt. Diesmal kein Billigflug nach Malle mit den Ballartisten des FC Glasvoll Rangers sondern mit Laptop und Früchtebecher ins Eiscafé La Gondola in die Sturmiusstraße (Genau … wegen der Inspiration!).

    Das war zumindest Plan A.

    Plan B war dann doch etwas leicht modifiziert. Hatten die Jungs noch Verständnis gezeigt für mein Fernbleiben beim Pokalfinale, hielten sie meine Pläne für die Sommerferien nun für völlig daneben. Naja, und meinen hart erkämpften Stammplatz wollte ich nun auch nicht leichtfertig aufs Spiel setzen und deshalb hat es halt ein bisschen länger gedauert.

    Divirta-se! Buon divertimento! Enjoy! Viel Spaß!

    Die Familie Zimmermann-Piero – Gelebte Völkerverständigung

    Eigentlich hätte ich es ahnen können, dass wieder etwas in der Luft lag. Das gelbe Ronaldinho-Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft, das mir Papa damals mitten im Januar schenkte, passte so gar nicht in unseren familiären Geschenkerhythmus (Geburtstage, Weihnachten, Besuche bei Omas und Opas). Gewohnt war ich, dass ich im Juni zum Geburtstag immer die neueste Ausgabe des Trikots der Italiener bekam, was besonders in Jahren einer Fußballweltmeisterschaft oder Europameisterschaft immer gut kam. Naja, jedenfalls solange bis die deutsch-italienische Freundschaft in den meisten Turnieren am Ende oft einem harten Test unterzogen wurde.

    Aber Januar, Brasilien … Obacht!

    Knapp zwei Wochen später war klar, woher der Wind wehte. Nach dem Abendessen und Papas tiramisu alla paesana zum Nachtisch füllte der Chefkoch der Familie zwei Riedel-Weingläser mit seinem Lieblings-Roten Tignanello, bat mich und meine Schwester Chiara an den Küchentisch und verkündete geheimnisvoll, dass Mamma uns etwas mitteilen müsse.

    Die Situation erinnerte mich stark an einen Abend ein paar Jahre früher, als uns unsere Mutter ebenfalls mit ein paar Neuigkeiten überraschte. Damals hatte sie und angeblich auch Papa entschieden, dass wir ab sofort ohne eigenes Auto auskommen würden und versuchte anschließend mit einer ihrer sehnsüchtigen Ökopredigten Chiara und mich von den Vorteilen dieser Wahnsinnsidee zu überzeugen.

    Es musste also wieder etwas Großes im Anflug sein.

    Im Gegensatz zu Papa redet unsere Erzeugerin nicht lange um den heißen Brei herum sondern lässt die Katze immer gleich aus dem Sack. Auch diesmal war dies nicht unbedingt ein Vorteil.

    Die Würfel sind gefallen. Im Juli werde ich eine neue Aufgabe in Rio de Janeiro antreten. Und nach einer kleinen Pause: Ihr wisst, was dies bedeutet.

    Chiara musste nur kurz überlegen, dann hatte sie die passende Antwort parat. Wie von einer Tarantel gestochen sprang sie von ihrem Stuhl auf, stemmte beide Hände auf die Tischplatte und schmetterte ihrer erschrockenen Mutter zornroten Gesichts ein resolutes und schnörkelloses OHNE MICH! entgegen. Sie machte eine rosa Kaugummiblase, ließ sie lautstark zerplatzen, schnitt ihre berühmte Ihr-könnt-mich-mal-Grimasse und verließ fluchtartig den Raum.

    Was für ein Abgang.

    Die Szene war filmreif.

    Papa schaute seine bessere Hälfte an, als wolle er sagen: Prost Mahlzeit! Das hast du ja toll hingekriegt, Frau Doktor.

    Während unser kleiner Quälgeist mit dem pubertätsgebeutelten Hormonhaushalt anscheinend genau wusste, was Mamas Worte bedeuteten, schnackelte ich mit meinen knapp dreizehneinhalb Jahren damals zunächst gar nichts.

    Mama verdrehte die Augen, holte tief Luft, als habe sie einen längeren Tauchgang vor sich, nahm ihr Glas, flüsterte ihrem Gatten ein vertrautes Ich wusste es zu und folgte unserer Drama-Queen auf ihr Zimmer. Eigentlich völlig überflüssig, denn Chiaras Aussage ließ wieder einmal keinen Spielraum für Diskussionen. Diese Gabe hatte sie von ihrer Mutter.

    Papa fixierte kurz die Weinflasche, goss sich nach und nutzte die unverhoffte Zweisamkeit für ein Männergespräch. Dabei erfuhr ich unter anderem, dass die Millionenmetropole Rio de Janeiro an der brasilianischen Atlantikküste liegt und dass der Umzug dorthin genau zum richtigen Zeitpunkt meiner Fußballerkarriere käme. Schließlich wollte ich ja Profifußballer werden, oder etwa nicht? Und ob ich wollte. Dieser Gedanke beruhigte ihn ungemein. Aus dieser Ecke drohte vorerst keine Gefahr.

    Der stolze Unterton in Papas Stimme war nicht zu überhören, als er die Liebhaberin italienischen Rotweins nach ihrer Rückkehr mit einem Hier ist allet va bene etwas aufzuheitern versuchte.

    Sie setzte den Zeigefinger an die Lippen, schüttelte leicht den Kopf und ließ sich auf das weiße Rolf-Benz-Sofa fallen.

    Das Frauengespräch war offensichtlich nicht so erfolgreich verlaufen. Mamas Dackelblick war jedenfalls keinerlei Erleichterung anzusehen.

    Die Stimmung war im Keller. Kein gutes Brasilien-Omen.

    Unser italienischer Romantiker tat, was er bei derartigen familieninternen Herausforderungen immer tut: Deckenstrahler runterdimmen, mit einer Spaghetti zwei Kerzen anzünden, due amaretti e Eros Ramazotti. Sein Griff in die musikalische Hausapotheke wirkte sofort. Unsere Seelsorgerin für jede Lebenslage schloss die Augen, fuhr die Stresshormone im Körper runter und die miese Laune verschwand aus ihrem Gesicht. Die Musik und Papas Candlelight-Nummer machten sie sofort ruhiger. Salute!

    In den nächsten Tagen und Wochen erfuhr ich so einiges über unseren häuslichen Plagegeist und auch über ihre mangelnde Begeisterung für Mamas Traumstandort Rio.

    Chiara, und das war anscheinend das Grundübel für den ganzen Zinnober und ihre frühreife Antihaltung, hatte seit zwei Monaten einen neuen Freund. Ein Umzug würde, und da machte sie sich keinerlei Illusionen, für erheblichen Herzschmerz sorgen und das Ende der Teenie-Romanze mit Paul bedeuten. Die Tatsache, dass bereits jetzt diese zwei Tussen aus der Parallelklasse ein Auge auf ihren Loverboy geworfen hatten, machte die Geschichte nicht einfacher. Chiaras Herzensangelegenheiten sind heute noch verzwickt.

    Es gab noch eine Reihe anderer Gründe, warum sich bei der bockigen Kratzbürste, der jegliche weibliche Zaghaftigkeit fremd ist, keine richtige Begeisterung einstellen wollte. Diesmal brachte es Papa auf den Punkt:

    Pubertät beginnt im Kopf! Deine Schwester ist in einem sehr schwierigen Alter und wir müssen jetzt alle etwas Rücksicht auf sie nehmen.

    Ach, nee! Die Arme. Vielen Dank auch für den Hinweis.

    Papas aufmüpfiger Liebling mit der zerwühlten Wuschelmähne und dem frühreifen Teenagerhirn war ein Jahr älter als ich und wir kamen eigentlich ganz gut miteinander aus. Aber auch ich hatte bemerkt, dass in letzter Zeit andere Sachen wichtiger für sie waren. Früher hatte sie mir immer bereitwillig bei den Hausaufgaben geholfen und auch am Piano hatte sie sich immer sehr viel Mühe mit mir gegeben. Jetzt traute ich mich kaum noch zu fragen, zu unberechenbar und pampig waren ihre Antworten. Sie schien in letzter Zeit viel nachzudenken, vor allem über sich.

    Wie sich später herausstellte, war ihr hollywoodreifer Auftritt Anfang Februar lediglich der Auftakt für ein weiteres Jahr im Zeichen der Terrorzicke. Da konnte Konfuzius einpacken, wenn uns meine Schwester mit ihren Pubertätsweisheiten beglückte.

    Die Stimmung blieb angespannt bis zu unserer Abreise Ende Juni. Chiara, wegen ihrer flotten Sprüche und feinen Einzeiler nicht nur in den heimischen vier Wänden gefürchtet, drückte noch einige Male voll auf die Tränendrüsen und erreichte dabei ohne Probleme in gefühlter Überschallgeschwindigkeit ihre volle Schmollstärke. In Erinnerung ist mir der Boykott des Trotzköpfchens beim Packen des Containers geblieben. Unser patziges Madamchen weigerte sich auch nur einen Finger zu rühren – Den Teufel werd ich tun! – weshalb unser Erzeugerduo in einer Nacht und Nebelaktion, Chiara war ausgebüxt und verarbeitete zu nächtlicher Stunde ihren Trennungsschmerz bei Paul, ihr ganzes Zimmer in Umzugskartons verpackten.

    Leider war ich bei Chiaras Rückkehr nicht zu Hause. Aber von allem, was ich mitbekam, war unser frühreifes Zornröschen, dessen Zunge wie ein Samuraischwert zuschlagen kann, mit ihren poetischen Stilblüten wohl zur Höchstform aufgelaufen und hatte sich gegenüber unseren Eltern nicht nur im Ton sondern auch in der Wortwahl mächtig vergriffen. Es muss ordentlich gerummst haben.

    Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass unsere Little Miss Bossy mit ihrer ungebrochenen Provokationslust über ein ganz erstaunliches Repertoire an deutschen, italienischen und englischen Fachbegriffen verfügt, die eher aus der unteren Schublade stammen. Diesmal war ihre verbale Meuterei auch unserem Niedrigpulsvater mit der mediterranen Toleranzkultur zu viel gewesen und die todunglückliche Anarcho-Göre wurde mit einen seiner Belohnungen (außer Papa fand das niemand lustig) ausgezeichnet. In der Sprache Goethes und Schillers heißt das: Eine Woche Hausarrest, Taschengeldentzug einschließlich völligen Verzichts auf die multimedialen Begleiter iPod, iPhone und iLiner.

    Die Wochen und Monate vor und nach unserem Umzug nach Rio waren irgendwie typisch für unsere Familie. Eine gewisse Unruhe und latente Aufgeregtheit lagen ständig wie ein langer Schatten über der Familienidylle, wo immer wir uns auch gerade aufhielten.

    Als Kinder hatten wir das lange nicht wahrgenommen. Aber mit zunehmendem Alter, und Chiaras dicke Lippe und Psychoterror vor unserem Umzug nach Brasilien stehen dafür stellvertretend, stellten wir uns immer häufiger die Frage: Wie lange sind wir noch hier? Wann heißt es wieder Zelte abbrechen und was kommt als Nächstes? Wann drückt wieder jemand auf die Game-over-Taste?

    Fragen, die kein Mensch braucht, erst recht kein Teenager.

    Schuld an diesem Reizklima und ständigen Countdown-Stimmung war unsere Mutter, oder besser gesagt ihr Beruf im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland. Frau Dr. Dagmar Zimmermann-Piero – Leiterin Kulturabteilung so oder so ähnlich stand es für ein paar Jahre auf ihrer schmucken Visitenkarte.

    Dabei, so erzählte sie es jedenfalls, war sie eher zufällig beim Amt gelandet. Nach ihrem Abitur, für das sie trotz NATO-Doppelbeschluss, Wackersdorf, Startbahn West und Waldsterben noch Zeit gefunden hatte und welches ihren alten Herrn kurz an seiner Vaterschaft hatte zweifeln lassen, hatte sie in Gießen Tiermedizin studiert und auch eine kurze Zeit als Tierärztin gearbeitet.

    Opa, er plaudert heute noch gerne und oft aus dem Nähkästchen, erzählte später immer wieder, dass Black Beauty, das Pony vom Nachbarn, entscheidend für Mamas Studienwahl gewesen sei. Angeblich verbrachte sie als Schülerin jede freie Minute mit Blacky und erzählte bereits als Zwölfjährige jedem, dass sie Tierärztin werden wollte.

    Opa Herbert hatte bis zum Schluss gehofft, dass sie in seine Fußstapfen treten würde und sich für ein Lehramtsstudium entscheiden würde. Nicht nur, weil damit die große Lehrertradition der Familie Zimmermann hätte fortgeschrieben werden können. Für Opa war es vermutlich noch wichtiger, dass sein Spross damit auch Beamtin werden konnte. Das Berufsbeamtentum ist für ihn so etwas wie die höchste irdische Weihe, die die Republik zu vergeben hat und für seine Tochter konnte er sich das richtig gut vorstellen.

    Aber Mama war hart geblieben und hatte ihr Ding gemacht. Daher war die Aufgabe des Berufs als Tierärztin auch so etwas wie eine kleine Schlappe Opa gegenüber und der Schritt ist ihr wohl auch deshalb nicht leicht gefallen.

    Irgendwann hatte sie dann keinen Bock mehr auf armlange Latexhandschuhe und unzählige Bereitschaften und Wochenenddienste. Von einer ehemaligen Freundin aus gemeinsamen Tagen im Studentenwohnheim hatte sie vom Auswärtigen Dienst erfahren und sich wohl auch aus einem Stück Verzweiflung heraus dort beworben.

    Ihr großer Pluspunkt waren eindeutig ihre Fremdsprachenkenntnisse. Neben Englisch und Französisch war sie auch in Schwedisch und Portugiesisch nahezu perfekt. Ja, und natürlich Italienisch.

    Laut Oma Gisela sind ihr die Sprachen früher nur so zugeflogen und noch heute erzählt sie auf Familienfesten stolz davon, wie die Tochter in jedem Urlaub nach wenigen Tagen zur perfekten Dolmetscherin mutierte.

    Für den Vater mit den Spezialinstinkten war der Berufswechsel seiner Tochter die verspätete Krönung seiner Erziehungsarbeit. Der Spross aus der oberhessischen Beamtendynastie war jetzt nicht nur Staatsdienerin sondern konnte auch Besoldungsstufen erreichen, von denen er nur hatte träumen können. Stolz wie Oskar erzählte er damals jedem, der es wissen wollte und natürlich auch allen, die es nicht wissen wollten, wie hart das Auswahlverfahren gewesen sei und dass nur die top fünf Prozent und, und … Er sorgte auch dafür, dass bei jedem noch so untauglichen Anlass die gesamte Sippschaft und sein riesiger Bekanntenkreis über die berufliche Laufbahn der Kronprinzessin "upgedatet" wurden.

    Mutter und Tochter hatten mehrfach versucht, den Tyrannosaurus Rex davon zu überzeugen, nicht so auf die Pauke zu hauen, zumal einige Sachen auch einfach nicht zutrafen. Ihr Wunsch war so verständlich wie aussichtslos. Sehr wahrscheinlich hatten sie jedoch selbst nicht daran geglaubt, dass der Mann mit dem Sieger-Gen sich davon beeindrucken lassen würde. Ein Mangel an Wissen hält ihn auch heute noch nicht davon ab, Meinungen als Fakten auszugeben. Zu seinen Stärken gehörte zweifelslos auch anderen zu erklären, was sie alles falsch machen.

    Laut Oma fehlt es dem Sprüchemacher, der sich immer sehr stark für die eigene Meinungsfreiheit einsetzt, in solchen Momenten ein bisschen an intellektueller Beweglichkeit und Elastizität.

    Nicht alle Latten am Zaun!

    Wie dem auch sei, in den Augen des VB-Buddhas war die Tochter jetzt eine richtig große Nummer und es zählte zu den Aufgaben des meinungsstarken Seniors, dies in unregelmäßigen Abständen bei passender und unpassender Gelegenheit immer wieder einmal an die große Glocke zu hängen.

    Noch während Mamas Zeit im Studentenwohnheim hatte es für sie einen anderen "live changing moment" gegeben (O-Ton Opa Herbert). Natürlich ist auch der Spiritus Rector der Zimmermann-Horde mehrsprachig. Nicht ganz so flüssig wie seine Tochter aber nach ein paar Kümmel und Korn meistert er Sprachbarrieren, die Minuten vorher noch als unüberwindbar galten.

    Im Nachbarflur hatte sich ein Italiener für ein Semester einquartiert. Ihre Freundin hatte sie gebeten doch einmal rüber zu kommen und etwas zu dolmetschen. Es würde sich lohnen. Ja, und das hat es sich dann auch an jenem schicksalshaften Tag.

    Der Architekturstudent aus Pisa, Giuliano Piero, der so überraschend in ihr Leben getreten war, hängte noch spontan zwei Forschungssemester dran, wurde von Opa Herbert auf der Stelle zu seinem neuen Lieblingsitaliener befördert und hätte sich dem, was danach noch alles kommen sollte, wahrscheinlich nur noch durch Selbstmord entziehen können.

    Das junge Glück mit den Schmetterlingen und sprühenden Funken wurde jedoch für ein gutes Jahr noch einmal auf eine harte Probe gestellt. Papa flüsterte Arrivederci und bretterte mit seiner Sardinenbüchse zurück in den Stiefelstaat, um sein Studium zu beenden. Bei dieser Entscheidung hatten nonna Emilia und nonno Dino etwas nachgeholfen. Die Tatsache, dass das Dorfkind damals schon schwanger mit Chiara war, machte die Sache nicht einfacher. Im Schatten des Pisaer Wahrzeichens überraschte der Italiener die Frau mit dem legendenumwobenen VB-Autokennzeichen mit der Frage aller Fragen und Holter-die-Polter wurden noch die Ringe getauscht.

    Herbert Hannibal Zimmermann führte den Konvoi aus einem Reisebus und etlichen Pkws sicher über die Alpen und muss auch in seiner Rede während der Hochzeit wieder intuitiv die richtigen Worte gefunden haben. Obwohl ich unsere Großfamilie als überdurchschnittlich kommunikativ bezeichnen würde, ist es mir bis heute nicht gelungen, etwas Näheres über Opas Auftritt zu erfahren. Auch er selbst reagierte auf meine Nachfragen ungewöhnlich zurückhaltend und nuschelte sich kleinlaut etwas von Alles Kokolores … sollen sich nicht so anstellen … und konnte auch nicht wissen, dass der Traubensaft so rein haut … in die Spaghetti.

    Das Einzige, was durchsickerte war, dass der mündige Senior wohl wieder versucht hatte, seinen uralten Sätzen ein Zeitgeist-Mäntelein überzustülpen, und bei dem Vorhaben, dabei soll es um Architekten und Pisa gegangen sein, die Pointe sensationell vergeigte. Einzig sein Bruder Leo hätte für einen kleinen Moment laut gelacht und mit der flachen Hand auf den Tisch gehämmert. Aber auch nur bis er den Ellbogen von Tante Beate in seinem Brustkorb spürte. Ansonsten Totenstille.

    Ich kann mir die Situation lebhaft vorstellen, denn die mit reichlich viel schlüpfrigem Altherrenhumor ausgestatteten Witze und Schüttelreime der selbst ernannten Spaßgranate sind heute noch Glückssache. Da gibt es gute und, naja, nicht so gute.

    Hatte unser Familiensprachrohr während der Hochzeit ordentlich auf die Pauke gehauen, war es unsere tief im protestantischen Glauben verwurzelte Muster-Oma Gisela gewesen, die den Hochzeitsvorbereitungen ihren Stempel aufgedrückt hatte.

    Als ein wahres Problem hatten sich die unterschiedlichen Konfessionen der Brautleute erwiesen. In dem Glaubenskrieg wurde mit harten Bandagen gekämpft und es ging so weit, dass die oberhessische Familienhirtin, die Seele des Zimmermann-Clans und eigentlich ein engelsguter und besinnlicher Mensch, damit drohte, der Verehelichung fernzubleiben. Der Haussegen war gewaltig in Schieflage geraten. Es war offensichtlich, dass i sposi diese Geschichte gnadenlos unterschätzt hatten.

    Das durch und durch irdische Problem konnte erst auf einem Gipfeltreffen ausgeräumt werden. Dazu hatten Schwiegertochter und Schwiegersohn ihre Eltern zu einer interreligiösen Familiensynode nach München eingeladen. Mit langen Spaziergängen und reichlich Likörchen sowie vino rosso e campari gelang es tatsächlich, den katholischen Flügel mit dem protestantischen auszusöhnen.

    Was damals als der große Wurf gefeiert wurde, sollte die Familie Zimmermann-Piero in den kommenden Jahren wie einen Fluch verfolgen. Die Tatsache, dass Chiara katholisch getauft wurde und ich später als Ministrant bei den Protestanten eine bescheidene Kirchenkarriere durchlief, brachte uns an allen Wohnorten immer wieder in Situationen, die die gelebte Ökumene in der Familie auf harte Proben stellte. Das hatten sich die geistigen Familien-Oberhäupter damals sicher anders vorgestellt und Gottes Wille war es ganz bestimmt auch nicht.

    Unmittelbar vor der Eheschließung hatte es noch große Aufregung wegen Papas Junggesellenabschied gegeben. Von Opa Herbert erfuhr ich nur so viel, dass es Papa mit seinen amici architetti noch einmal richtig hat krachen lassen und dass die Veranstaltung einen eher suboptimalen Ausgang genommen hatte. Schließlich sei er es gewesen, der mit dem Verweis auf seine bewegte Jugend die Wogen wieder hatte glätten können.

    Während er von allen Seiten hohe Anerkennung für seine erfolgreiche Vermittlung erfuhr, musste sich Oma Gisela, die ihr Herz auf der Zunge trägt, schwer bremsen und höllisch aufpassen, ihre Fassung nicht noch am Hochzeitstag zu verlieren. Dafür nahm sie den Stockfelder aus Leidenschaft auf der Rückfahrt im Bus ordentlich ins Gebet und machte ihm die Hölle heiß. Den einen oder andern Schwank aus seiner Jugend durfte er ihr dann noch etwas detaillierter schildern. Noch heute erzählt ihr Langzeit-Partner, dass die Rückfahrt im Gegensatz zur Hinfahrt ewig gedauert habe.

    Nach Hochzeit und Flitterwochen ging es wieder zurück in die Metropole Mittelhessens. Mit Mamas Wechsel zum Amt endete dann kurze Zeit später die Phase Jung-verliebt-knapp-bei-Kasse. Das interkulturelle Familienensemble zog nach Bonn. Am Brandenburger Tor hingen noch Hammer und Sichel.

    Nach dem Tapetenwechsel, der bereits mit Chiara stattfand, spielte Papa den Hausmann und es lief viel besser als alle Experten prophezeit hatten. Seinen Beruf schien er nicht wirklich zu vermissen. Dies hatte sicherlich auch mit seinen Hobbys zu tun, die ihn neben der Hausarbeit und der Kinderbetreuung voll auslasteten.

    Zu seinen großen Leidenschaften zählten das Pianospielen, Kochen und natürlich Fußball. Ich erinnere mich an zahllose klassische Konzerte, zu denen sich die gesamte Familie rausputzte und Papa uns schon Tage vorher mit ständiger Beschallung in Stimmung brachte. Es war natürlich auch kein Zufall, dass Chiara und ich bereits im Vorschulalter mit dem Piano in Tuchfühlung kamen.

    Seine Begeisterung fürs Kochen prädestinierte ihn für die Rolle des Hauswirtschaftlers und die Karrierefrau vergaß nie, ihn und seine Zaubereien zu loben, auch wenn es nur ein paar Spaghetti al vole waren. Wie er die Spaghetti nahm und sie wie Mikadostäbchen in das kochende Wasser fallen ließ, war eine Zeremonie. Es schmeckte nie langweilig.

    Nicht ganz so einfach war es, seine Liebe zum Fußball mit unserem komplizierten Familienleben zu verbinden. Aber irgendwie schaffte er es immer, sich seine Freiräume zu schaffen. In welche Stadt wir auch immer gerade umgezogen waren, man konnte sich darauf verlassen, dass Papa ruck-zuck wusste, wo es die besten Pizzen in der Stadt gab, wo er seinen Corriere della Sera sowie die La Gazzetto dello Sport herbekam und dass er eine Squadra zum Kicken gefunden hatte.

    Aber Fußball war für ihn mehr als Kicken. Es konnte schon einmal passieren, dass er den Hochzeitstag vergaß. Den 11 luglio zu vergessen, war dagegen ausgeschlossen. Egal auf welchen Wochentag der 11. Juli fiel und an welchem Ort wir gerade lebten, gegen 18.00 Uhr saß Papa mit einer Schar Tifosi vorm Fernseher und alle konnten sich darauf verlassen, dass eine riesen Schüssel seiner berühmten Cannelloni Ricotta e Spinaci mitten auf dem kleinen Wohnzimmertisch steht, zwei Flaschen Limoncello sowie zwei Kästen Bier im Kühlschrank zwischengelagert sind und die VHS-Kassette (später die DVD) mit der Aufschrift Madrid mondiale di calcio finale 1982 zum Anpfiff bereit liegt.

    Angefeuert von der Stimme des Spielkommentators wurde in den nächsten Stunden gegessen, getrunken, palavert und unaufhörlich gestikuliert, so wie das nur Italiener können.

    Ich mochte diese

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1