Zwischen Coletti und Capriccio: Die Braunschweiger Jugendszene der 60er
Von Ulfert Beiß und Andreas Hartmann
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Buchvorschau
Zwischen Coletti und Capriccio - Ulfert Beiß
Die Erinnerung ist das einzige Paradies,
woraus wir nicht vertrieben werden können.
(Jean Paul)
Inhalt
Zur Entstehung dieses Buches
Gebrauchsanweisung
Wer B(-ohlweg) sagt, muß auch C(-oletti und -ap) sagen!
Ich sehe sie vor mir ... oder warmes Gespräch über ein kaltes Thema
Und dann gab's da noch ... Eiscafés
Streiflichter ... Braunschweig in den 60ern
Die Verabredung
Jugenderinnerungen
Dikjen Deel - für viele ein unvergeßliches Stück Leben
Mit Nyltest und Pomade
Und dann gab's da noch ... Lokale mit Sälen
Live-Beat, Razzien, Kellerklos
Party-Club - der Beatschuppen am Kohlmarkt
Die Musikszene
Die „New Brunswick Combo"
„The Black Devils"
„The Kingbees"
Und dann gab's da noch ... Tanzlokale
Die „Ghosts" - eine Beatlegende aus Braunschweig
„The Phantoms"
„The Churls"
„The Summits"
„We Few"
Streiflichter ... Die Bundesrepublik in den 60ern
Wie die Falken auf den Rock'n Roll kamen
Prädikat: Besonders wertvoll
„Locke" Stedings Groschengrab
Massencamp auf Liegewiese
Das Freibad in Hemkenrode oder wie „Entenpaule zu „Fußbeißerpaule
wurde
Statisterie oder Abitur - das war die Frage
Aus der Forschung
Lange Unterhosen leuchten in Venedig oder Auch Leichen haben Blähungen
Als die Mark noch was wert war
Und dann gab's da noch ... Cafés
Das Schloß-Café
Expertise - die Studentenkneipe im Magniviertel
Streiflichter ... Die Welt in den 60ern
Memphis hat seinen „Hunni" wieder
Denkmal für ein „Stübchen"
Und dann gab's da noch ... Kneipen
Flamenco mit Schmalzbroten und Zwiebelringen
Und dann gab's da noch ... Eßlokale
Vier Uhr morgens in „Athen"
Jazzszene der 60er
Wenn man damals ...
Die Spottdrossel
Die 60er - aus Wolfenbütteler Sicht
Otto Muehl und das Schwein von Braunschweig
Und dann gab's da noch ... Bälle und Feten
Feste feiern
Jatzen Sie schon?
Eine ganz besondere Art, Feste zu feiern - ein Gespräch mit Immo Grisebach
Und dann gab's da noch ... die Angewohnheit
Ist unsere Jugend wirklich so schlecht ...
Und dann gab's da noch ... Barbiere
Was damals so Mode war ...
Erinnerung aus Gründersicht
Gespräch mit Günter Lindhorst
Erster „Auftritt im „Cap
Das „Cap" - Mythos und Legende
Cap oder nicht Cap - das ist hier die Frage
Abrufbereit gespeichert
Wer auf der Schloßparkmauer sitzt ...
Und dann gab's da noch ... Hunderte
Nachwort
Namensregister
Zur Entstehung dieses Buches
Im Herbst '94 feierten wir - Michael Kuhle und Ulfert Beiß - einen Hockey-Sieg unserer Söhne und kamen im Laufe des Abends - wie so oft - auf die „guten alten Zeiten" zu sprechen. Schon bald wurde uns klar, daß vieles von dem, was völlig versunken schien, nur verschüttet war und mit Hilfe des anderen und der weinseligen Stimmung sofort wieder lebendig wurde; wir schaukelten uns gegenseitig in eine nostalgische Hochstimmung, und Micha meinte, daß man vieles aus jenen 60er Jahren unbedingt festhalten müsse, weil es sonst verlorenginge. Natürlich stimmte ich ihm zu, und die Idee für dieses Buch war geboren.
Der Grundgedanke war, zahlreiche Mitarbeiter zu gewinnen, um möglichst viele unterschiedliche Aspekte einfließen lassen zu können. Die Braunschweiger Zeitung half uns durch einen Artikel, der über unseren Plan berichtete, andere für unser Vorhaben zu interessieren, sie zum Mitmachen zu animieren bzw. uns Material zur Verfügung zu stellen.
Dieses Buch möchte allen, die nicht dabei waren, diese 60er kurzweilig nahebringen und verstehen helfen. Allen, die dabei waren, soll es Erinnerungen auffrischen, Vergessenes wiederbeleben und vielleicht auch dazu beitragen, alte Kontakte wieder herzustellen und zu pflegen.
Natürlich können und wollen wir - inzwischen war auch Andreas Hartmann zu uns gestoßen - keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben; wir sind uns bewußt, daß wir nur ganz bestimmte Tupfer, nur Lückenhaftes zusammenbasteln können, das aber jeder auf seine Weise ergänzen kann. Darin liegt der Reiz, das Buch als Anregung zu verstehen, als bunten Flickenteppich: echt und handgemacht.
Ulfert Beiß
Gebrauchsanweisung
Alle, die am Zustandekommen dieses Buches in irgendeiner Form mitgewirkt haben, hatten dabei so viel Spaß und Freude und - vor allem - genüßliche Verwunderung darüber, wie intensiv und reich an Einzelheiten die damalige Zeit plötzlich wieder lebendig wurde.
Damit diese Erfahrung auch die Leser dieses Buches machen können, sollen folgende Hinweise für die richtigen Voraussetzungen sorgen:
Mit Muße und Vorfreude sich irgendwo hinlümmeln.
Das Buch bewußt, fast zärtlich in die Hand nehmen.
Erinnerungsschleusen öffnen, sich wohlig überfluten lassen.
Zunächst kurz anblättern, irgendwo hängenbleiben und ausrufen: „Moment mal - richtig - stimmt ja - genau - so war das - irre! oder so ähnlich.Typen, Freundinnen, Freunde auf Fotos entdecken und sich sagen: „So haben die/wir mal ausgesehen?! Der Putz, die Koteletten, die Röcke, die Hosen.....Wahnsinn!
- „Stimmt ja - die/den gab's ja auch - richtig, da fällt mir ein, wie der/die damals....."
Im Register nachschlagen, ob ich mich da finde oder wer oder was da womöglich auch drinsteht.
Alte Platten und Bänder spielen, eigene Fotos raussuchen, Gegenwart vergessen.
Leute anrufen - vielleicht solche, von denen man schon lange nichts mehr gehört hat.
Über Empfindungen, Eindrücke und Zeitgeist von damals mit anderen reden und schwelgen.
Sich voller Freude wundern, wie intensiv man in diese Zeit hinabsteigen und wieviel Spaß man dabei haben kann.
Und auch ein bißchen froh sein, daß das alles so war, wie es war!
Andreas Hartmann
Jung und strahlend: Das Ehepaar Coletti noch im ersten Domizil Humboldtstraße, Ecke Gliesmaroder Straße
Wer B(-ohlweg) sagt, muß auch C(-oletti und -ap) sagen!
Voraussetzung: schönes, warmes Wetter, dann:
engnebeneinanderaufgereiht, sitzend: gut 100,
davor in Haufen, stehend: etwa 50,
dahinter in Grüppchen, liegend, sitzend, kauernd: weitere ca. 50,
durchschnittliche Stückzahl also: 200 Jugendliche;
neben ihnen oder irgendwo um sie herum entsprechend viele Schultaschen, Hebammenkoffer, Sporttaschen oder Matchsäcke;
in den Ständern, auf den Ständern oder an Bäume (!!) angelehnt: zahllose Fahrräder, vereinzelt Mopeds;
der zweifellos vorhandene Fußweg zwischen Mauer und Fahrradständern streckenweise nur noch erahnbar;
So hat Coletti am neuen Standort Bohlweg 10 bis 1963 von innen ausgesehen
in Verkehrsnachrichten (die es damals noch nicht gab!) hätte es geheißen: ortskundige Fußgänger werden gebeten, den Stauraum großzügig (in doppeltem Sinn) zu umgehen, andernfalls ist mit Hindernislauf auf Slalomkurs zu rechnen, Vorsicht: gefährliche Dauermotzer.
Schnacks, Witze, Lästereien, Sprüche, Blödeleien (Marke: „Guten Tag, ham Se Socken? „Ja.
„Na prima, dann braucht meine Frau nicht mehr aufm Schrank zu schlafen!"), Verabredungen, Pläne, Imponiergehabe, Flirts, schmachten, anhimmeln, innere Kämpfe, Schmuseeinheiten, Knutschen.
„Hältste mir mal eben 'nen Platz frei, ich hol mir mal'n Eis von Coletti, soll ich dir eins mitbringen? Okay, und was? Zitrone, Malaga, Erdbeer, geht klar, aber erst Kohle!"
Kurze sichernde Blicke, Sprint über den Bohlweg, rechts vorn an den Tresen, ah Klasse, Frau Coletti persönlich wird mir die Murmeln in die Tüte drücken. Ich löhne, sage Danke und auf Wiedersehen, hetze wieder rüber und übergebe dem Kumpel die kalten Bälle, die folgenden Gespräche werden durch genießerische intensive Schlotz- und Leckgeräusche unterbrochen.
Manchmal ist die Spitze der Waffeltüte durchgefeuchtet, dann tropft es irgendwann, und man klebt überall grauenhaft. „So, das nächste Eis holst du, und grüß Frau Coletti von mir!"
Bei doofem Wetter ist's drin nur halb so schön: Einrichtung und demzufolge Atmosphäre eher kalt, wie sich das für eine typische Eisdielenausstattung jener Tage gehört: an den Wänden einige Strand- und Hafenansichten südlicher Regionen, graublaue Kunststoff-Tischplatten und dazu passende knallharte ungemütliche Stühle, aber das Eis ist natürlich auch drin einsame Spitze, und vor allem: für 1,50 DM kann man sich locker 'ne Eisvergiftung holen: 15 Murmeln kollern im Bauch!
Am besten sitzt man im hinteren Teil rechts um die Ecke (nicht so aufgereiht wie links an der Wand, parallel zum Tresen). Hier kann man auch die sonst so starre Sitz- bzw. Stuhlordnung mal etwas auflockern, größere Runden bilden und unerkannt rauchen.
Tja, es ist schon so: „Coletti und Mauer sind Drehscheibe, sind Nabel der Braunschweiger Jugendwelt, und für viele gibt es von hier aus nur einen Weg, und der führt ins „Cap
, aber das ist eine andere Welt.
Andreas Hartman
Ich sehe sie vor mir... oder warmes Gespräch über ein kaltes Thema
Überrascht und entgeistert stellte ich im April 1995 fest, daß im Rathausneubau eine der Braunschweiger Dauer-Einrichtungen nach der Winterpause nicht mehr zurückgekommen war.
Von einer jetzt dort tätigen Keks-Verkäuferin erfuhr ich, daß sich die Familie Coletti endgültig nach Italien zurückgezogen habe. Das konnte doch nicht wahr sein! Und das gerade zu einem Zeitpunkt, wo wir doch ein Buch mit dem Titel „Zwischen Coletti und Capriccio machen wollten! Gerade über „Eis-Coletti
- zusammen mit der berühmten Mauer gegenüber die Anlaufstelle für unzählige schleck- und treffsüchtige Jugendliche - mußte man doch irgendwelche Informationen und Fotos an Land ziehen! Ich war tief enttäuscht.
Als ich bei unserem nächsten Buch-Treff bei Ulfert davon berichtete, erzählte dieser, er habe rausgekriegt, wo Colettis jetzt wohnten. Einige Zeit später, ich war völlig von diesem Thema abgekommen, fiel mir der Ort Gott sei Dank wieder ein, ich brauchte also nur noch die Auslandsauskunft zu bemühen...
In der Mitte Ehepaar Coletti umrahmt von Serviererinnen (Anfang der 60er)
So, die Nummer hatte ich nun: eine lange Zahlenreihe, die in Oberitalien ein Telefon zum Klingeln bringen würde. Aber war es überhaupt der richtige Anschluß? Wer würde wie am anderen Ende reagieren? Mit leicht klopfendem Herzen tippte ich die Ziffern, nach mehrmaligem Tuten meldete sich eine Männerstimme: „Coletti!" Hatte ich auch richtig verstanden?
„Ja, guten Tag, hier Hartmann, ich rufe aus Braunschweig an. Waren Sie mal, äh, sind Sie der, der in - äh - mit Braunschweig - Entschuldigung, sprechen Sie deutsch? Ich habe früher immer bei Ihnen Eis gegessen und wollte mal fragen, weil wir jetzt ein Buch machen wollen . . . „Da hole ich lieber Frau Coletti, einen Moment.
Na, herrlich, die wollte ich doch eigentlich sowieso sprechen. Mann, wieso war ich denn so aufgeregt? „Coletti". Herzlich und melodiös - so kam es mir jedenfalls vor -meldete sich nun jene vielen so vertraute Dame, die ca. 45 Jahre lang in Braunschweig an verschiedenen Stellen für genüßliche Eis-Zeiten gesorgt hatte - und genau die wollte ich jetzt am Telefon wieder aufwärmen!
Ich schwärmte also sofort los - von damals, von jenen himmlischen Kugeln für 10 Pfennig, von dem fruchtigen Erdbeer- und Heidelbeereis, und das war - weiß Gott -ehrlich! Ich bin mir sicher, so gut wie damals schmeckt es heute nicht mehr, und das sagte ich ihr auch. „Ja, das kann ich mir gut vorstellen, lachte sie, „wir haben damals auch alles selber gemacht, mein Mann und ich, wir haben nur frische Früchte, nur Natur-Produkte benutzt, bei 95° selber gekocht..., ach ja, es war zwar oft auch anstrengend für uns - während der Saison jeden Tag von morgens bis spät abends hinter dem Tresen -, aber trotzdem war die Zeit doch herrlich . . .
.
Ich sah sie sofort wieder vor mir, wie sie uns all die Jahre immer mit freundlichem Lächeln die gefüllten Waffeltüten in die Hand gedrückt hatte - oft sehr großzügig in der Portionierung, das haben sogar meine Kinder noch erlebt und sind nicht zuletzt deshalb, aber natürlich auch der Qualität und der Herzlichkeit wegen, immer zu Coletti gegangen.
Tja, da hatte ich also die Verkörperung von fast 50 Jahren italienischer Eis-Zeit am Apparat! Wir klönten lockere 20 Minuten, dabei erfuhr ich, daß ihr Mann vor acht Jahren verstorben ist. Voller Interesse und Anteilnahme an unserem Buch-Projekt versprach sie mir, sich um Materialien und - wenn vorhanden - Fotos zu kümmern. Innerlich erwärmt, legte ich lächelnd den Hörer hin und freute mich pausenlos ...
Andreas Hartmann
Und dann gab's da noch...
Als italienische Ergänzungen zu „Coletti"